20. Juni 2013

Obama und Reagan in Berlin: Versuch einer Ikonographie zweier Staatsbesuche

Verehrter Leser, darf ich Sie bitten, zunächst einmal das hier verlinkte Bild aufzurufen (aus urheberrechtlichen Gründen darf ich es leider nur verlinken) und einen Moment auf sich wirken zu lassen. Es zeigt Präsident Obama bei seiner gestrigen Rede vor dem Brandenburger Tor. Wir sehen den Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika zwischen zwei Panzerglaswänden stehend, den Blick, man kann es schwer erkennen, auf den Teleprompter vorne links gerichtet oder aber über die Köpfe des Publikums hinweg gehend. Das Publikum seinerseits spiegelt sich verschwommen und unklar in der vorderen Panzerglaswand; vorne links scheint im Spiegelbild ein Sicherheitsbeamter, stehend mit Sonnenbrille, erkennbar zu sein. Hinter dem Präsidenten, aber noch innerhalb des durch Panzerglas abgeschirmten Bereiches, die Flaggen der Bundesrepublik, der USA sowie der EU.
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Wenn ich Sie nun einmal bitten darf, das hier verlinkte Bild einen Moment lang anzusehen und auf sich wirken zu lassen. Es zeigt den amerikanischen Präsidenten Ronald Reagan bei seiner Rede vor dem Brandenburger Tor im Juni 1987, bei der die berühmten Worte "Come here to this gate! Mr. Gorbachev, open this gate! Mr. Gorbachev, tear down this wall!" fielen. Wir sehen den Präsidenten und das unmittelbar vor ihm sitzende Publikum. Hinter ihm deutsche und amerikanische Prominenz sowie eine einzelne Panzerglaswand, die den Blick auf die Berliner Mauer freigibt. Panzerglas also nur zwischen ihm und den Grenzsicherungsanlagen der DDR. 

Zwei US-Präsidenten in Deutschland, beide halten bei schönem Wetter eine Rede vor dem Brandenburger Tor, und doch könnten die Bildeindrücke kaum unterschiedlicher sein. Die Abgetrenntheit Obamas von seinem Publikum, ja von Menschen überhaupt, könnte kaum frappierender ausfallen. Er wirkt fast wie in einem Terrarium stehend. Die Menschen vor ihm verschwimmen. Er selbst, die Konturen seines Gesichts, wirken durch das Glas ebenfalls milchig-verschwommen. Dagegen Reagan, im Kontakt mit seinem Publikum, umgeben von Menschen, die Berliner Mauer in seinem Rücken. Bei Obama scheint eine Mauer buchstäblich zwischen ihm und dem Publikum zu stehen.

Wie lassen sich diese Unterschiede deuten?

Da ist zum einen die Sicherheitslage, die sich seit den terroristischen Anschlägen vom 11. September 2001 und durch das internationale Engagement der USA in deren Folge verschärft hat. Aber das erklärt nur einen Teil. Reagan hat seine Rede in Berlin gerade einmal sechs Jahre nach einem Attentat auf sich gehalten, bei dem er schwer verletzt wurde und nur knapp mit dem Leben davon gekommen war. Es handelte sich dabei um das bis heute letzte Attentat auf einen US-Präsidenten, bei dem dieser verletzt oder getötet worden ist.

Möglicherweise drücken die Unterschiede zwischen den Fotos auf einer tieferen Deutungsebene aber  etwas anderes aus, nämlich eine deutlich gewachsene Distanz zwischen Regierenden und Regierten bzw. der Politik und dem Publikum in den westlichen Industrienationen. Auch eine gewisse Sprachlosigkeit. Dem Vernehmen nach wird die Rede Obamas, anders als die Reagans mit dem berühmten Zitat, als gefällig und nichtssagend in Erinnerung (bzw. gerade nicht in Erinnerung) bleiben. 

Es sagt wohl auch etwas über die transatlantischen Beziehungen. Man tauscht Höflichkeiten aus, aber man hat sich nicht mehr wirklich viel zu sagen.  Wie auch? Wie der Flaggenanordnung zu entnehmen ist, sind bilaterale Staatsbesuche zwischen einem europäischen Land und den USA heute immer auch EU-Veranstaltungen; die Flagge der Europäischen Union steht gleichsam (bzw. ganz real) zwischen der deutschen und der Flagge der USA, ein Ausdruck wohl der neueren europäischen Realitäten. 

Man soll es nicht übertreiben mit den ikonographischen Deutungen, die stets  subjektiv sind und die Gefahr der Kaffeesatzleserei bergen. In dem Obama-Bild scheinen sich gleichwohl auch die USA des globalen Spähprogramms PRISM wiederzuspiegeln; eine USA also, die Sicherheit über die Freiheit stellen und sich international zunehmend abschotten; die sich möglicherweise vor einer neuen Phase isolationistischer Politik (abgesehen vom Engagement in Fernost) befinden, mit all den Unwägbarkeiten und Gefahren, die solche Phasen der amerikanischen Außenpolitik in der Vergangenheit international mit sich gebracht haben. Was für ein Unterschied auch hier zum Repubikaner Reagan!

Entscheidend aber ist wohl: wenn zwischen Regierenden und Regierten; zwischen Politikern und ihrem Publikum "unsichtbare" Mauern aufgezogen werden, wenn man nicht mehr dieselbe Sprache spricht und wenn die Nationalflaggen bzw. die der EU hinter Panzerglas gehisst werden, dann scheint in einer Demokratie etwas ganz gewaltig im Argen zu liegen; nicht nur mit Blick auf die Sicherheit.



Andreas Döding


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