1. April 2013

Die Partei der Besserverachtenden – Was macht die Grünen so erfolgreich?

Wahlprognosen sind immer mit Makeln – oder um den Sozialwissenschaftlerjargon zu bemühen: biases – behaftet. So ist es unter Statistikern mittlerweile eine Binsenweisheit, dass sich Anhänger von Parteien, die in der veröffentlichten Gunst ganz weit unten rangieren, gegenüber dem Interviewer in bisweilen signifikanter Zahl nicht zu ihrer wahren Vorliebe bekennen, sondern eine gesellschaftlich akzeptierte Präferenz vorgaukeln.
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Dieser Unschärfe eingedenk, kann man den gegenwärtigen Umfragen zur Bundestagswahl am 22. September dennoch entnehmen, dass die Grünen mit hoher Wahrscheinlichkeit drittstärkste Kraft im föderalen Parlament werden und dabei im Vergleich zu ihrem Ergebnis von 2009 voraussichtlich circa drei bis fünf Prozentpunkte hinzugewinnen.

Der nüchterne Betrachter scheint vor einem Rätsel zu stehen: Was macht die Attraktivität dieser Partei aus? Es liegt wohl weder am Führungspersonal noch an den programmatischen Exzessen, dass die Öko-Bewegten mittlerweile zu sicheren Anwärtern auf ein zweistelliges Wahlergebnis geworden sind. Erstaunlich ist auch – solche Fälle kennt man aus dem Freundeskreis –, dass nicht jeder Grünensympathisant in seinem täglichen Leben wirklich der alternativen Orthodoxie frönt.

Letzteres trifft nach eigenem Bekunden auch auf Cicero-Chefredakteur Christoph Schwennicke zu, der in einem online verfügbaren Beitrag schreibt, er wisse „bei allen Verirrungen der Grünen […], dass die Richtung stimmt.“

Und weiter:
Man delegiert seinen inneren Schweinehund, weil man weiß, dass man selbst zu schwach ist, ihn zu beherrschen. Man wählt die partielle Entmündigung, weil man weiß, dass es besser ist so.
Die Wahlentscheidung als Eingang des Menschen in seine selbstverschuldete Unmündigkeit, als Antithese der Aufklärung? Ist es nicht für ein wenig reflektiertes Verständnis von Religion kennzeichnend, dass man sich den Dogmen und Regeln einer die Wahrheit verkündenden Autorität unterwirft, weil man sich selbst nicht in der Lage dünkt, die Unterscheidung von Gut und Böse, Richtig und Falsch mehr oder minder konsequent in die Lebenspraxis umzusetzen? Es spricht einiges dafür, dass die Ideologie der Grünen einen säkularen Glaubensersatz darstellt, der philosophiegeschichtlich beschlagene Zeitgenossen entfernt an eine Weichzeichnung der Rousseau’schen Bürgerreligion erinnern mag.

Natürlich haben nicht alle Wähler der Öko-Partei derart verquere, aber letztlich doch idealistische Motive. Für Unternehmer und Beschäftigte in der Solar- und Sozialindustrie etwa ist das Kreuzchen an der entsprechenden Stelle durchaus zweckrational, können sie doch bei einer Regierungsbeteiligung der Grünen auf eine Unantastbarkeit der großzügigen staatlichen Subventionierung und Alimentierung ihrer Geschäftszweige hoffen. Ähnliche Überlegungen gelten für den Häusle-Besitzer, der sich eine Photovoltaikanlage aufs Dach montieren und von seinen Mitbürgern mit dem Segen des Gesetzgebers sponsern lässt. Doch die Zahl derer, die ausschließlich solche absolut nachvollziehbaren, am Eigenwohl orientierten Erwägungen anstellen, dürfte viel zu klein sein, um den Höhenflug der sich verbürgerlichenden Partei nachhaltig zu beeinflussen.

Eine soziologisch höchst interessante Theorie für den Erfolg der Grünen liefert der stellvertretende Cicero-Chefredakteur Alexander Marguier, dem zufolge es den Grünen „im Kern [...] nicht um die Umwelt, sondern um kulturelle Hegemonie“ gehe; getrieben würden sie vom „Ekel vor den bildungsfernen Discount-Deutschen“.

Und in der Tat: In einer Gesellschaft, in der einstige Statussymbole wie Unterhaltungselektronik und Urlaubsreisen in exotische Länder auch für Otto Normalverbraucher erschwinglich sind, bietet sich die Abgrenzung zu den unteren Schichten nicht mehr über den Erwerb von Luxusgütern, sondern über den Verzicht beziehungsweise einen differenzierten Konsum oder aber über ebenso plakative wie der Realität entrückte ideologische Positionen an. Dabei stehen weder eine für die Umwelt oder die Gesellschaft relevante Abstinenz noch ein ökologisch oder sozial bedeutsamer Beitrag im Zentrum; von Belang ist vielmehr das gesetzte Zeichen, die nach außen getragene Gesinnung.

So lässt man während der Earth Hour – trotz fast nicht messbarer Einsparungsgewinne – 60 Minuten lang das Licht ausgeschaltet; so tankt man Biokraftstoff, obwohl damit absolut unerwünschte Phänomene wie die Steigerung der Getreidepreise und die Abholzung des Regenwaldes verbunden sind; so kauft man demonstrativ beim bestens integrierten „Gemüsetürken“ ein, ist über längerfristige räumliche Nähe zu Migranten ansonsten jedoch nicht allzu erfreut.

Und nicht nur gegenüber den unteren Schichten, sondern auch zu den liberalen und konservativen „Leistungsindividualisten“ und „Etablierten Leistungsträgern“ gestattet die alternative Vorzeigemoral eine (öffentlichkeits)wirksame Distanzierung, vertreten jene Eliten doch ganz ungeniert und offen eine prokapitalistische, an der ökonomischen Ratio orientierte Einstellung. 

Als Apostolat der Apostaten und spezifischer Code einer ebenso heraus- wie abgehobenen Bevölkerungsschicht verströmt die grüne Ideologie einen sowohl religiösen als auch aristokratischen Appeal, der allen anderen modernen Weltanschauungen abhandengekommen oder von Hause aus fremd ist. Und genau in dieser betörenden Aura liegt das Erfolgsgeheimnis der von Claudia Roth und Cem Özdemir präsidierten Partei. Es läge also kein Risiko darin, schon heute eine ausreichend große Menge Sektflaschen für den Abend des 22. September an die Adresse Platz vor dem Neuen Tor Nr. 1 zu ordern. Im Eifer ihres Jubels würden die Grünen dann wohl auch mit Schaumwein aus konventionellem Anbau vorliebnehmen. 
Noricus


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