6. April 2013

Die Abschaffung der Geschlechterrollen - eine Nachlese zur Sexismusdebatte







In einem kürzlich in der FAZ erschienenen Interview mit dem Philosophen Robert Pfaller wird eine Art Nachlese zur kürzlichen Sexismusdebatte, die bekanntlich zuletzt auch den Bundespräsidenten erreicht hatte, versucht. Unter der Überschrift "Die Frauen haben ihre Waffen verloren".
sagt er dort unter anderem:

Die Gesellschaft blickt sehnsüchtig nach dem Sex, ist aber nicht mehr dazu in der Lage, ihn als normalen Modus des Lebens zu begreifen.
Und weiter:
Es gab eine sehr symptomatische Äußerung von Tina Hildebrand in der "Zeit", da schrieb sie: "Vor allem aber haben es immer mehr Frauen satt, sich wehren können zu müssen." Das ist ein sehr interessanter Satz, weil er darauf verweist, daß Frauen paradoxerweise gerade durch ihre Befreiung weniger  wehrhaft geworden sein könnten.
­Damen des 19. Jahrhunderts hätten einem Herrn, der einem so unangenehme Sachen sagt, vielleicht eine Ohrfeige mit den Handschuh gegeben. Diese Art der Abstrafung ist aber ein Rollenprivileg. Wenn man die Rolle einer Dame spielt, hat man das Recht, Männer für kleine Übertritte abzustrafen. Aber man hat das nur dank dieser Rolle.

Ich möchte Sie, verehrter Leser, nicht mit ausführlichen Schilderungen über soziologische oder sozialpsychologische Theorien zum Thema "Soziale Rollenbildung" langweilen, nur so viel: es entspricht der Alltagserfahrung, daß wir soziale Rollen übernehmen und somit Rollenerwartungen erfüllen. Beruflich tun wir dies etwa als Bäcker, Ärztin, Feuerwehrmann oder Lehrerin. Im privaten als Mutter, Sohn, Freundin oder als Mitglied im örtlichen Gesangsverein. In unserer jeweiligen Rolle schränken wir unsere Verhaltensvielfalt ein; wir verhalten uns rollenkonform. Das Verhalten "Lautes Lachen und wildes Gestikulieren" werden wir vielleicht auf einer launigen und weinseligen Feier unter Freunden zeigen, aber nicht während eines Sechswochenamts in der Kirche.

Soziale Rollen lernen wir im Laufe unseres Lebens, sie sind nicht angeboren; wir entfalten sie im Kontext kultureller Erwartungen. Diese kulturellen Erwartungen wiederum dienen letztlich einer gewissen Regelung und Vereinfachung des menschlichen Zusammenlebens. Rollen sind häufig komplementär, sie ergänzen sich. So beispielsweise bei den komplementären Rollen Arzt-Patient, Lehrer-Schüler oder Pfarrer-Kirchgänger. Komplementäre Rollen müssen aber keineswegs implizit hierarchisch sein, etwa bei Schichtkollegen, bei Freunden oder Vereinmitgliedern untereinander.

Sobald jemand "aus der Rolle fällt", drohen gewisse soziale Sanktionen. Oftmals erntet man Mißgunst und Ablehnung. Rollen erfüllen also eine wichtige Regulationsfunktion.

Solche Rollenerwartungen und -übernahmen, die das gesellschaftliche Miteinander regeln und vereinfachen, auf Basis halbwegs bewährter kultureller Normen, es gibt sie auch zwischen Mann und Frau; oder richtiger: es hat sie einmal gegeben.

In der sogenannten Gender-Mainstream-Debatte werden Geschlechterunterschiede als ausschließliches Ergebnis einer "gesellschaftlichen Konstruktion" begriffen, was für den Teilbereich der Geschlechterrollen auch ohne Zweifel richtig ist. Zugleich wird postuliert, daß dies a priori schlecht, rückständig und folglich zu bekämpfen sei. Geschlechterrollen sollen nicht mehr der gesellschaftlichen Entwicklung angepaßt, sie sollen vollständig abgeschafft werden. Vor diesem Hintergrund wird die Installation einer Unisex-Toilette in Berlin vielleicht als die einzige konkret durchgesetzte politische Entscheidung der Piratenpartei vor ihrem Untergang in Erinnerung bleiben.

Regeln, die das Zusammenleben zwischen Menschen ordnen und vereinfachen, unterliegen einem Wandel, quasi einer "Evolution". Mir wurde als Kind noch beigebracht, die Hand vor den Mund zu nehmen, wenn ich niesen mußte und "Gesundheit!" zu sagen, wenn jemand anderes in meiner Gegenwart nieste. Heute ist es zunehmend üblich, sich in diesem Fall die Armbeuge vor die Nase zu halten (was mit Blick auf die Verbreitung von Infenktionskrankheiten auch sinnvoll ist) und "Entschuldigung!" zu sagen. Diese Entwicklung mag man gut finden oder auch nicht; was bleibt ist zumindest eine Regel, die unser Verhalten strukturieren hilft. Es hat auch etwas mit Höflichkeit zu tun.

Was aber passiert, wenn man solche Regeln aus ihrer "evolutionären" Entwicklung heraus reißt, indem man politisch ihre Abschaffung betreibt, wie das mit Blick auf geschlechtstypische Rollen offenbar der Fall ist?

Meine Adoleszenz fiel in die Mitte der achtziger Jahre. Ich war, wie die meisten in diesem Alter, etwas aufsässig. Meine Eltern bestanden, vielleicht gerade deshalb, darauf, daß ich eine Tanzschule besuchen solle, was ich ausgesprochen widerwillig tat. Ich fand das alles so furchtbar verkrampft und unlocker: die Kleidung, die Aufforderung zum Tanz, die Benimmregeln, und dann die Damenwahl! "Man" fand das damals schon antiquiert und "aus der Zeit gefallen".

Abends in der Disco ging es dagegen lockerer zu, zumindest oberflächlich. Die jungen Menschen tanzten jedoch jeder für sich, meist Blickkontakt vermeidend oder mit geschlossenen Augen. Es gab keinerlei Berührung, außer man war ohnehin schon intim befreundet. Andere standen am Rand der Tanzfläche und schauten den Tanzenden beim Tanzen zu. Für Unterhaltungen war es ohnehin viel zu laut.

Es gab damals schon keine allseits akzeptieren Regeln mehr, mit deren Hilfe man mit Fremden, Mädchen gar, in Kontakt kommen konnte; also blieb man oft unter sich oder allein. Wenigstens war man cool.

Dieser Prozeß der Auflösung kultureller Rollen und Regeln im Umgang zwischen Männern und Frauen mag sich seitdem, nicht zuletzt beschleunigt durch die Gender-Debatte, erweitert und vertieft haben. Allein, ein Gewinn scheint das nicht unbedingt zu sein. Sie scheint mir im Gegenteil eine der Ursachen einer Verunsicherung der Geschlechter im Umgang miteinander zu sein, ohne die die "Brüderle-Debatte" kaum denkbar gewesen wäre.

Der Philosoph Pfaller deutet es in dem obigen Zitat, wie ich meine, zurecht an: in Zeiten, als Männer noch "Herren" und Frauen "Damen" waren, hätte Laura Himmelreich Brüderle bestenfalls eine geklebt, und damit wäre es gut gewesen.

Und mir wäre manche publizistische Zumutung erspart geblieben.



Andreas Döding


© Andreas Döding. Titelbild Human-gender-neutral vom Autor MrKimm als public domain veröffentlicht.  Es ist angelehnt an die Plaketten, die auf den NASA-Raumsonden Pioneer 10 und 11 angebracht sind und die in ferner Zukunft ggf. intelligenten Lebenwesen eine Vorstellung vom Menschen, einschließlich phänotypischer Geschlechterunterschiede, vermitteln soll.  Für Kommentare bitte hier klicken.