2. Mai 2009

Was fasziniert an Karl Marx? Anmerkungen zum "persönlichen Leseerlebnis" der Jungjournalistin Nina Pauer

"Marx lesen beruhigt. Ich habe ein Lesegefühl wie das letzte Mal beim Geschichtsbuch in der Schule. Keine Unübersichtlichkeit wie in der aktuellen Lage, keine schwammigen Prognosen für die Zukunft. (...)

Er will keine Verbesserungsvorschläge liefern, er beschreibt Prozesse, die so und nicht anders ablaufen werden. Fast wie ein Biologe, der ein Experiment erklärt. Die Revolution als Evolution. Sie schreitet voran, unaufhörlich, bis zu ihrem Höhepunkt".

So beschreibt eine junge Journalistin, Mitte Zwanzig, im aktuellen "Zeit- Magazin" ihr "Date mit Marx". Nina Pauer hatte sich eine Marx- "Ausgabe von 2008" besorgt, mit dem Titel "Kapital und Politik"; offenbar jene, die im Augenblick zum Schnäppchenpreis von 7.99 Euro bei "Zweitausendeins" zu haben ist. Ihr "Selbstversuch" bestand darin, daß sie Computer und Handy abschaltete, ja sogar auf den "Tatort" verzichtete und sich in diesen "dicke(n) rosa Wälzer" vertiefte.

Was für sie augenscheinlich ein bleibendes Leseerlebnis war, die Journalistin Mitte Zwanzig, die ihre Eltern aus der 68er Generation "richtig sympathisch" findet: "Den Satz von den 'Proletariern aller Länder' werde ich zumindest nicht mehr selbstgefällig als Floskel aus dem Geschichtsbuch abtun können. Was ist, wenn ich ihn als eine Aufforderung lese? An ein 'Wir', das für eine gemeinsame Sache aufstehen soll?"

Tja, was ist dann? Dann sind wir - wenn es vielen jungen Leuten so gehen sollte wie Nina Pauer - bald wieder so weit, wie wir 1970 waren.



Von den großen Religionsgründern war Karl Marx der kälteste. Der Marxismus entstand als eine säkulare Religion, wie geschaffen für das rationale 19. Jahrhundert.

Als sie sich im 20. Jahrhundert ausbreitete, also emotional wurde, traten sekundäre Religionsgründer auf, die besser als der Zyniker Marx die religiösen Affekte auf sich zu ziehen konnten: Stalin, Mao, Che Guevara beispielsweise. Sie genossen die hingebungsvolle Verehrung, die jedem Religionsgründer gebührt, die Marx selbst aber nie erfahren hat.

Der Marxismus - der pure, der nicht durch solche Stellvertreter massentauglich gemachte - ist eine Religion für Apparatschiks und Intellektuelle; vorzugsweise für solche, die Marx ähneln, kühl bis ins Herz hinan. In Deutschland hat der emotionslose Walter Ulbricht perfekt den marxistischen Funktionär verkörpert; Wolfgang Harich, der schneidende Befürworter erst der marxistischen Orthodoxie und dann der Ökodiktatur, ebenso überzeugend den intellektuellen Marxisten.



Die weltweite Jugendbewegung Ende der sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts nahm in Deutschland die besondere Form an, die ich vor einem Jahr in diesem Artikel analysiert habe. Ein Aspekt blieb damals unerwähnt: Die Faszination, die von Karl Marx ausging.

Sie war umso erstaunlicher, als die "Bewegung" - anfangs die APO (Außerparlamentarische Opposition) genannt, dann "Studentenbewegung" - eigentlich im Ursprung gar nicht marxistisch gewesen war.

Ihre Wurzeln lagen in der pazifistischen, freilich von Kommunisten unterwanderten Bewegung "Kampf dem Atomtod", dann in der Bewegung zur Bewahrung der Bürgerrechte während der "Spiegel-Affäre"; schließlich in den ebenfalls eher von einer liberalen Grundhaltung getragenen Besorgnissen im Zusammenhang mit den Notstands- Gesetzen. Auch die schlechten Bedingungen an den deutschen Universitäten spielten natürlich eine zentrale Rolle. Alles eher bürgerlich- liberal als marxistisch. Mit Stoßrichtung gegen den Nazismus, gegen den Obrigkeitsstaat; aber ansonsten unideologisch.

Wie kommt es, daß diese Bewegungen sich innerhalb weniger Jahre derart dem Marxismus verschreiben konnten, daß zu Beginn der siebziger Jahre alles, was aus ihnen hervorgegangen war - von den gemäßigten Reformern auf dem rechten Flügel der Jusos über die Stamokaps und alle die K-Gruppen bis hin zu Joschka Fischers "Putztruppe" und der terroristischen RAF - sich als marxistisch verstand?

Es lag, meine ich, daran, daß diese Bewegungen sozusagen händeringend auf der Suche nach Sinn gewesen waren.

Es waren ja im Ursprung alles Gegenbewegungen gewesen - gegen die Atomrüstung; gegen die Bedrohung der Pressefreiheit in der "Spiegel"- Affäre; gegen die, wie man meinte, Gefährdung der Demokratie durch die Notstands- Gesetze; gegen die Zustände an den Universitäten.

Das ist zu wenig, um eine breite Bewegung zu tragen; zumal Jugendlichen ist das zu wenig. Es gab ein Bedürfnis nach einer, sagen wir, intellektuellen Fundierungen der eigenen Unzufriedenheit. Diese lieferte der Marxismus, diese Religion, die aus der Kälte kam.



Und mehr noch: Marx erklärte nicht nur, warum die Welt schlecht ist, warum man sich - so Adornos Formel - im "falschen Leben" befindet. Sondern er klärte zum einen darüber auf, warum es gar nicht anders sein kann. Und lieferte andererseits die tröstliche Botschaft, daß sich alles zum Besseren wenden werde. Wenn man nur ihm folgt, dem Karl Marx.

Das ist so, wie es sich für eine Religion gehört: Sie stiftet Sinn. Sie erklärt die Welt, sie sagt uns, was gut und böse ist, was richtig und falsch. Vor allem aber beinhaltet sie eine Verheißung: Wer glaubt und wer nach diesem Glauben handelt, der wird erlöst werden.

Bei Marx ist es die ganze Menschheit, der er die Erlösung im Kommunismus verheißt, wenn denn nur alles seinen mit wissenschaftlicher Gewißheit vorgezeichneten Gang geht. Einen Gang, der sich - ich habe das in diesem Artikel ein wenig mehr im Detail beschrieben - deshalb mit Sicherheit vorhersagen läßt, weil er den ewigen Gesetzen der Dialektik entspringt.

Aber Marx bietet diese religiöse Verheißung eben in einer intellektuell anspruchsvollen Variante an. Wer sich auf ihn einläßt, dem erfüllt sich der Wunsch, hinter die Oberfläche der Dinge zu blicken. Mit dem kalten Blick des Wissenschaftlers, so möchte es uns Marx glauben machen.

Wir erfahren, was es "eigentlich" auf sich hat - mit der Ware ("eigentlich" vergegenständlichte Arbeit), mit dem Preis ("eigentlich" der Wert, der sich nach der zur Herstellung gesellschaftlich erforderlichen Arbeitszeit bestimmt), mit dem Profit ("eigentlich" der Mehrwert, der daraus resultiert, daß der Arbeiter nicht etwa seine Arbeit verkauft, sondern seine Arbeitskraft, deren Preis sich durch ihre Reproduktionskosten bestimmt).

Und so fort. Wer sich durch das "Kapital" arbeitet, für den enthüllt sich die Welt, wie sie wirklich ist; er blickt hinter die Kulissen. Woran der Faust in seinem Monolog verzweifelt - zu wissen, was die Welt im Innersten zusammenhält -, das liefert Marx seinen Lesern.

Das ist faszinierend; es ist intellektuell befriedigend; es verleiht auch leicht jene Haltung des Wissenden, des allen Anderen Überlegenen, die so charakteristisch für Marxisten ist.



Nur stimmt das ja alles nicht, was Marx sich ausgedacht hat. Es ist wirklich nur ausgedacht.

Daß der Wert einer Ware sich durch die zu ihrer Herstellung gesellschaftlich erforderliche Arbeitszeit bestimmt, ist keine Entdeckung, sondern eine Definition. Wir wissen nicht mehr über die Realität, wenn wir diese Definition übernehmen. Wir wissen auch nicht mehr über die Realität, wenn wir es Marx abnehmen, daß der Arbeiter nicht für seine Arbeit bezahlt wird, sondern für den Verkauf seiner Arbeitskraft. An der Höhe des Lohns und seinem Zustandekommen ändert das exakt nichts.

So ist es mit allen den "wissenschaftlichen Entdeckungen" von Marx. Was er liefert, ist eine façon de parler, eine Weise, über die Welt zu reden.

Es ist Pseudowissen, das Marx bietet. Aber es ist nicht leicht, das zu merken. Die Faszination, die Nina Pauer offenbar während ihres Selbstversuchs mit Marx erlebt hat, könnte viele ihrer Generation befallen; so wie drei oder vier Dekaden zuvor die Generation der Achtundsechziger.

Sie könnte die heute Zwanzig- bis Dreißigjährigen wieder ergreifen, diese Faszination, weil dies die erste Generation ist, die die Praxis des Marxismus nicht mehr bewußt erlebt hat. Es gibt, so scheint mir, wieder die Bereitschaft, sich von dem alten Scharlatan verführen zu lassen.



Für Kommentare bitte hier klicken. Titelvignette: Fotografie von Karl Marx aus dem Jahr 1875; bearbeitet.