6. April 2013

Was ist los in Nordkorea? Gedanken zur aktuellen Krise, nebst einer beunruhigenden Möglichkeit


Die aktuelle Krise auf der koreanischen Halbinsel ist bislang weitgehend eine Krise der Worte geblieben. Militärisch gab es bislang v. a. Symbolhandlungen. Eine Betrachtung der medialen Begleitung der Krise läßt dabei einen bemerkenswerten Prozeß erkennen. Mit jeder neuen Provokation des nordkoreanischen Diktators Kim Jong Un und seiner Regierungsclique versucht die Presse immer angestrengter, dem Verhalten der Regierung Nordkoreas einen rationalen, strategischen Kern mit Blick auf die geopolitischen Interessen des Landes zu unterlegen.

Das erscheint zunächst auch einleuchtend; niemand mag sich gerne vorstellen, daß die innerste Führungsgruppe des atomar bewaffneten Nordkorea außer Rand und Band geraten sein könnte. Oder daß die Eskalation bereits eine Eigendynamik erhalten haben könnte, die es Nordkorea zunehmend unmöglich macht, ohne Gesichtsverlust den propagandistischen Rückzug anzutreten. Augenfällig ist vor diesem Hintergrund, daß die rationalen Erklärungsversuche der Presse immer bemühter und gezwungener erscheinen.
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Der Chefkommentator der Welt-Gruppe, Torsten Krauel, begleitet die Entwicklung der Koreakrise bereits seit längerem. Viele seiner durchaus plausiblen Annahmen mußte er jedoch inzwischen revidieren. So z. B. die, daß die Provokationen Kims gleichsam noch im harmlosen Rahmen blieben, solange die gemeinsam mit Südkorea betriebene Sonderwirtschaftszone Kaesong noch nicht abgeriegelt sei. Wenige Tage später geschah genau das.

Auch das angeblich vitale Interesse Nordkoreas, den Verbündeten China nicht vor den Kopf zu stoßen, hat den Machthaber nicht davon abgehalten, genau das zu tun. Die Atomdrohung gegen die USA interpretierte Krauel zunächst als verdeckten Rückzug Kims, was nach Lage der Dinge wohl wiederum vorschnell gewesen sein könnte: nach wie vor gibt es keine Anzeichen einer Entspannung.

Die Kommentatoren erscheinen zunehmend verwirrt, selbst ausgewiesene Kenner Nordkoreas und kommunistsche Verbündete wie der greise Fidel Castro wissen die Lage offensichtlich nicht mehr einzuschätzen.

Allem Anschein nach ist Torsten Krauel, der ein guter Kenner des Landes ist, momentan genauso wenig imstande, die Lage einzuschätzen wie  der Rest der Welt.

Wenn man innerhalb eines Bezugssystemes zur Erklärung eines Phänomens nicht mehr weiterkommt, könnte es sinnvoll sein, einmal das Bezugssystem probehalber zu wechseln.

Einer der wenigen Deutschen, die in den letzten Tagen Nordkorea bereist haben, ist der CDU-Politiker Manfred Grund, Parlamentarischer Geschäftsführer der Unions-Bundestagsfraktion und Mitglied des Auswärtigen Ausschusses. In einem Interview resümiert er:

Ich halte die Situation mittlerweile für sehr gefährlich. Selbst die Kubakrise ist aus meiner Sicht nicht vergleichbar. Damals konnte man annehmen, dass die Sowjetunion rational reagieren würde. In Nordkorea habe ich hingegen keine Anzeichen eines rationalen Reagierens mitbekommen. Vielmehr wird die eigene Stärke weit überschätzt. Nordkorea ist besoffen von der eigenen Propaganda. Derzeit sehe ich eine Eskalationsspirale, an der leider auch die USA und Südkorea drehen. Zudem hat selbst China wenig Möglichkeiten, auf die Situation beschwichtigend einzuwirken. Bei anschließenden Gesprächen in Peking habe ich erfahren, dass China hochgradig irritiert ist.
 
Was Manfred Grund hier berichtet, kann als Hinweis auf ein gefährliches  Phänomen gedeutet werden, das in der sozialpsychologischen Forschung als  Gruppendenken bekannt ist; im angelsächsischen Sprachraum  group think. Gemeint ist die Beobachtung, daß Entscheidungen in hoch kohäsiven Gruppen unter bestimmten Umständen sehr viel schlechter und irrationaler ausfallen können als man auf Basis von Informiertheit und Intelligenz der einzelnen Gruppenmitglieder erwarten würde. Umstände, die Gruppendenk-Phänomene begünstigen sind, neben der hohen Gruppenkohäsion: hoher Konformitätsdruck innerhalb der Gruppe, Abschottung nach außen, wahrgenommenes Vorhandensein einer Bedrohungssituation sowie ausgeprägte Überzeugung von der moralischen Richtigkeit der eigenen Entscheidungen. Typisch für Gruppendenken ist darüber hinaus die Illusion eigener Unverwundbarkeit und unrealistischer Optimismus.

Die Folgen von Gruppendenken können durchaus katastrophal sein. Auch Regierungen westlich-freiheitlicher Demokratien sind vor diesem Phänomen nicht sicher. So gilt beispielsweise die Schweinebuchtinvasion der Regierung Kennedy 1961 als ein prototypisches Beispiel für die Konsequenzen von group think, das in Lehrbüchern der Sozialpsychologie immer wieder Erwähnung findet. Die Idee, Fidel Castro durch 1300 Exilkubaner, die von der CIA mit  Waffen ausgerüstet worden waren, stürzen zu können, mutet sicher nicht nur für heutige Beobachter absurd an.

Auch die Challenger-Katastrophe 1986 gilt als ein Ergebnis von Selbstüberschätzung der damaligen Entscheider vor dem Hintergrund von Gruppendenken.

Viele der oben beschriebenen Voraussetzungen für das Entstehen von Gruppendenken können für den inneren Machtzirkel der Regierung Nordkoreas als gegeben angenommen werden. In den Entscheidungen kann man Symptome von group think (ein Begriff, der übrigens Orwells "double think" aus dem Roman "1984" bewußt entlehnt ist) erkennen.

Möglicherweise sollte die internationale Politik langsam das Bezugssystem zur Interpretation des Verhaltens der nordkoreanischen Regierung wechseln von "strategisch-rational" hin zu "möglicherweise gefährlich irrational".

Ich hoffe sehr, mich hierin im Irrtum zu befinden.

 
Andreas Döding


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