30. April 2013

Kurioses, kurz kommentiert: Grüne Dialektik

Die deutschen Medien befassen sich seit Sonntag mehr oder weniger seriös mit dem Wahlprogramm der Grünen. Dabei werden fast überall — ohne kritisches Hinterfragen — zwei Aussagen kolportiert:

»Alle Bürger mit einem Jahreseinkommen bis 60.000 Euro werden entlastet.«

»Vom neuen Spitzensteuersatz wären nur die obersten sieben Prozent betroffen.«

Beide Aussagen stammen aus den Verlautbarungen der Grünen. In beiden Aussagen steckt ganz wenig Wahrheit und ganz viel Propaganda.

Richtig ist so viel: Die Steuerpläne der Grünen sehen ab einer bestimmte Einkommensgrenze eine Steuererhöhung vor. Diese Einkommensgrenze liegt bei 60.000 Euro.

Richtig ist aber auch: Diese Steuererhöhung soll durch eine Abgabenerhöhung flankiert werden, die auf einem viel niedrigeren Niveau ansetzt: Die Bemessungsgrenze der Kranken- und Pflegeversicherung soll drastisch erhöht werden. Das trifft alle Beschäftigten mit einem Jahreseinkommen ab ca. 47.250 Euro brutto im Jahr.

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In der Kommunikation der Grünen wird diese Abgabenerhöhung kaum erwähnt. Auch viele konservative und liberale Kommentatoren konzentrieren sich auf die Steuerpläne der Grünen und vernachlässigen andere geplante Mehrbelastungen.

Damit gehen sie den Grünen in eine geschickt aufgestellte Falle. Die Grünen kokettieren nämlich äußerst geschickt damit, dass sie die »Reichen« stärker belasten wollen. Aus einem Artikel des deutlich links orientierten MdEP Sven Giegold:

Die Folgen dieser starken Wahrnehmung sind letztlich noch nicht abzusehen. Es ist aber zu befürchten, dass uns die PR-Aktion bei mittelständischen WählerInnen kurzfristig schadet, selbst bei solchen, die objektiv steuerlich geschont oder gar entlastet werden. Das Potential des neuen Konsenses zu Grüner Meinungsführerschaft in der Finanzpolitik ist damit freilich langfristig nicht beschädigt. (…)

Zunächst aber empfiehlt der Spin in den Medien uns gegenüber bisherigen WählerInnen der Linken und stärkt auch die Wahrnehmung der sozial-demokratischen Elemente Grüner Politik. Die Grüne Partei verschiebt all das im Parteienspektrum nach links. Fazit: Realpolitisch ein klassisches Eigentor.

Der Name Sven Giegold war mir in einem Faktencheck bei SPON aufgefallen. Darin geht es um Giegolds Behauptung, nirgendwo in den OECD-Staaten sei die Ungleichheit so stark gewachsen wie in Deutschland.

Sven Giegold mokierte sich via Twitter über den Artikel: Die Kritik an seiner Rede zu gewachsener Ungleichheit auf #SPON sei »pharisäerhaft«. Auf Twitter fragte ich ihn: »Und was erkennen Sie in Ihrer Grafik von 1998 bis 2005, als die Grünen mit an der Macht waren?« Dort ist nämlich zu sehen, dass die Ungleichheit unter Rot/Grün besonders stark zugenommen hat. Darauf antwortete er:

Deshalb ist die neue Grüne Steuerpolitik richtig.

Wir halten fest: Die neue Grüne Steuerpolitik ist richtig, weil die alte Grüne Steuerpolitik falsch war. Und diese Behauptung soll die Grünen wählbar machen?

Die Steuersätze in Deutschland liegen schon deutlich über dem EU-Durchschnitt. Steuern von Bürgern mit Wohnsitz und Bankverbindung in Deutschland werden zudem auch deutlich konsequenter eingetrieben als in anderen EU-Staaten. Dem deutschen Staat mangelt es nicht an Steuergeld, sondern an Augenmaß bei dessen Verwendung.

Fazit: Die Grünen belasten in ihrem Wahlprogramm nicht in erster Linie die Reichen, sondern sie belasten besonders stark die Mitte. Durch das geschickte Ablenken von der geplanten Abgabenerhöhung für Beschäftigte mit einem Jahreseinkommen ab ca. 47.250 Euro brutto wird bei vielen Bürgern der Eindruck erzeugt, dass die Grünen nur relativ reiche Steuerzahler belasten wollen.

Aber in einigen Ballungszentren Deutschlands ist man mit einem Einkommen von ca. 47.250 Euro brutto keineswegs »reich«. In Stuttgart beantragen Familien mit mehreren Kindern noch mit deutlich höheren Einkommen bestimmte Zuschüsse für die außerschulische Bildung. Auch in München oder Hamburg müssen viele Familien in dieser Einkommensklasse mit jedem Euro rechnen. Deshalb kann man ihnen nur davon abraten, im Herbst 2013 die Grünen zu wählen.

stefanolix

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