17. April 2013

Das Unzufriedenheits-Paradoxon

Auf Zeit Online wurde kürzlich unter dem Titel "Jedem Zweiten fehlt Verständnis vom Chef" eine Studie vorgestellt, die das Verhalten von Führungspersonen in Unternehmen gegenüber Untergebenen und dessen Auswirkung auf die Motivation der Mitarbeiter zum Gegenstand hatte. Dort heißt es unter anderem:
Die Mehrheit der Befragten gab an, daß sie teilweise nur halb so produktiv arbeiten können, wie sie wollten, weil ihnen die Unterstützung durch den Chef fehlt. 37 Prozent sagten, selten oder sogar niemals motiviert zu sein. Auch die Effizienz ihres Vorgesetzten schätzte gut ein Drittel der Befragten als schlecht ein.
Und weiter:
Befragt nach den inhaltlichen Kritikpunkten an ihrem Chef nannte jeder Zweite die fehlende Möglichkeit, Probleme eigenständig lösen zu können. 45 Prozent nannten fehlendes Feedback und Lob als Manko. 
An der Methodik dieser Studie gäbe es Manches zu kritisieren. Gleichwohl reiht sich das Ergebnis durchaus in einen Tenor ein, der von einer offensichtlich tatsächlich abnehmenden subjektiven Arbeitszufriedenheit vieler Menschen während der letzten Jahrzehnte zeugt.

­Zunächst einmal sollte dieser Befund durchaus überraschen; sind doch während der letzten Jahrzehnte z. T. fundamentale Änderungen in der Gestaltung von Arbeitsplätzen mit Blick auf Ergonomie und Arbeitssicherheit erstritten und durchgesetzt worden, oft unter expliziter Einbeziehung von Mitarbeitern. Qualitätsmanagementsysteme, wie sie in den letzten zwei Dekaden massenhaft in Unternehmen, Behörden und Organisationen implementiert worden sind, haben immer auch die Zufriedenheit von Mitarbeitern, z. B. durch Einführung von Beschwerde- und Vorschlagswesen, zum Ziel. Die Anzahl von Mitarbeiterführungs- und Managementseminaren sind Legion und werden weiterhin stark nachgefragt.

Man darf wohl vermuten, daß Unternehmen noch nie so viele monetäre und zeitliche Ressourcen in die Zufriedenheit und Sicherheit von Arbeitnehmern investiert haben wie heute; Globalisierung hin, prekäre Arbeitsverhältnisse her.

Ein ganz ähnlicher Befund, bei einer anderen untersuchten Gruppe, war kürzlich ebenfalls den Medien zu entnehmen. Laut einer international angelegten Unicef-Studie sind deutsche Kinder mit Blick auf die berichtete Lebenszufriedenheit von Platz 12 auf Platz 22 von 29 Industrienationen abgerutscht, obwohl die objektiven Lebensbedingungen, auch dies wurde in der Studie untersucht, für deutsche Kinder zu den weltweit besten gehören und sich weiter verbessert haben, nämlich von Platz 8 auf Platz 6 von 29 Industrienationen. Die Interpretation dieses Befundes stellt selbst Fachleute vor Probleme, wenngleich auch hier die Diskussion der Methodik nicht vergessen werden sollte.

Ich möchte in diesem Zusammenhang von einem Unzufriedenheits-Paradoxon sprechen. Der umgekehrte Fall, ein Zufriedenheits-Paradoxon ist übrigens in der Entwicklungspsychologie seit langem ein Begriff und kennzeichnet die Beobachtung, daß alte Menschen sich oft sehr viel lebenszufriedener äußern und erleben als man aufgrund der mit steigendem Alter zunehmenden Verlusterfahrungen annehmen sollte.

Die meisten Erklärungsansätze für derartige Phänomene weisen eine starke Tendenz zur außengeleiteten Interpretation auf: es sind die Umstände, die uns unzufrieden, die politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, die uns krank machen, so auch die oben zitierte Studie. Ändert man die Umstände, so die Idee, dann sind auch alle zufrieden. Dabei wird das Konzept der Eigenverantwortung zunehmend zu einem unklaren "die Gesellschaft muß sich ändern" wegdiffundiert. Der Nanny-Staat tut ein Übriges, indem er solche Bedürfnisse zunehmend bedient.

Ich sehe hier die Gefahr einer Infantilisierung, nicht nur des Arbeitslebens, sondern vieler Zusammenhänge des täglichen Lebens. Ist das in Psychotherapien häufig vorgetragene Erinnerungsbild "Nie habe ich Lob von meinen Eltern bekommen, immer mußte ich etwas leisten, um anerkannt zu werden!" nur die Antezedenz solcher Erwartungen an heutige Vorgesetzte und Chefs als "Eltern-Ideal"? Warum machen wir uns so abhängig von Lob und Tadel? Steht dies nicht dem Bild eines autonomen, selbstbestimmten Menschen und Arbeitnehmers nahezu diametral entgegen?

Und wollen wir wirklich ein "pädagogisch" gemeintes Lob eines Vorgesetzten hören, von dessen Notwendigkeit er vielleicht in einem Führungsseminar gehört hat, und das letztlich dazu dient, uns zu höherer Leistung zu motivieren, also gänzlich zweckgebunden ausgesprochen wird? Ich zumindest empfände ein solches, letztlich manipulativ gemeintes, Lob als vergiftet. Ich nähme es nicht ernst.

Ich möchte meine kleine Polemik noch etwas weiter auf die Spitze treiben, indem ich frage: welcher Mitarbeiter lobt eigentlich seinen Vorgesetzten oder Chef?, z. B. dafür, daß er unternehmerisches Risiko trägt und versucht, Arbeitsplätze zu sichern, was insbesondere in familiär-mittelständisch geführten Unternehmen oftmals integraler Bestandteil der Unternehmenskultur ist? Ich höre es schon rufen: "Bei dem gibt es nichts zu loben!" oder "Es ist doch nicht meine Aufgabe, meinen Chef zu loben!" In der Tat, das ist es nicht. Aber warum soll es andersherum, im Sinne einer Bringschuld, der Fall sein?

Wenn umgekehrt mangelndes Lob durch den Chef zu einer selbsteingeschätzten Reduktion der Arbeitsproduktivität von Mitarbeitern um bis zu 50 Prozent führt, wie die Studie nahelegt, könnte man dann nicht auch, boshaft überspitzt, von einer abmahnungsrelevanten Arbeitsverweigerung seitens des Mitarbeiters sprechen?

Natürlich ist der absolute Nutzen von Maßnahmen zum Personalmanagement empirisch unbestritten. Allerdings ist mir keine Studie bekannt, die einmal versucht hätte, den relativen Nutzen dieser Maßnahmen in Beziehung zu setzen zum maximal möglichen Nutzen für das Unternehmen, wenn der Unternehmer stattdessen teilweise anderen Dingen nachgehen könnte (z. B. frühe Sondierung der Wettbewerbssituation, Einarbeiten in neue gesetzliche Rahmenbedingungen, Messung von Kundenzufriedenheit, also: Freisetzen unternehmerisch-gestalterischer Kraft). Wer war noch gleich John Galt?

Ebenso natürlich ist Erwerbsarbeit nicht nur Tagesstruktur und Broterwerb. Gedeihliche, kooperative Arbeitsbeziehungen zu Kollegen und Vorgesetzten sowie Sinnerleben in der Tätigkeit sind wichtige Faktoren, die Arbeits- und Lebenszufriedenheit langfristig günstig beeinflussen. Lob und Anerkennung sind ausgesprochen wünschenswert. Wenn wir diesen Wunsch aber zur Forderung übersteigern, sie sogar als Voraussetzung betrachten, damit wir uns bei der Arbeit engagiert zeigen, dann geht etwas grundschief, scheint mir.

Zumindest setzt sich damit ein Teufelskreis in Gang, in dem geringeres Engagement zu einer weiter verringerten Chance führt, Anerkennung von Vorgesetzten zu erhalten, was seinerseits wieder zu geringerem Engagement der Beschäftigten führen mag.

Und die Kinder? Auch hier heben die meisten Erklärungen auf angeblich problematische Umfeld- und Rahmenbedingungen ab, wie z. B. übertriebener Leistungsdruck in der Schule und dergleichen. Vielleicht stimmt das zum Teil.  Vielleicht leben Kinder aber auch einfach zu einem erheblichen Teil das nach, was Eltern ihnen vorleben, z. B. Unzufriedenheit und Umgang mit Frustrationen.

Eine einfache Lösung für das "Unzufriedenheitsparadox" mag es nicht geben. Vielleicht könnte aber manch Unzufriedenem die Vorstellung helfen, daß das eigene Einkommen und wohl auch manche Anerkennung für die eigene Leistung nicht eigentlich vom Chef, sondern letztlich von zufriedenen Kunden kommen. Und da jeder selbst ständig und selbstständig Kunde ist, ließe sich hier gegenüber anderen leicht ein Anfang machen.

Aber solche Vorstellungen sind vermutlich nicht zeitgemäß.



Andreas Döding


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