15. September 2008

Was geschah wirklich in Georgien? Der "Spiegel", amerikanische Experten und die Chronik eines Showdowns (Teil 1)

Wir kennen alle die Szene: Showdown im Western. In der Main Street bewegen sich die beiden Gegner aufeinander zu. Jeder hat dasselbe Problem: Zieht er als erster und erschießt den anderen, dann ist er ein Mörder und wird gehängt. Wartet er, bis der andere schießt, dann ist er ebenso ein toter Mann.

Die Kunst - die Überlebenskunst - besteht darin, zu warten, bis der andere als erster zieht - zumindest die Hand in Richtung Holster bewegt -, dann aber selbst schneller zu schießen. Dann ist der andere tot, und man selbst hat in Notwehr geschossen. Man endet weder durch die Kugel des Gegners noch in der Schlinge des Henkers.

Nicht leicht, das hinzubekommen. Und es wird immer deutlicher, daß dies ziemlich genau die Situation war, aus der heraus sich die Ereignisse in Südossetien in der Nacht vom 7. zum 8. August entfalteten.

Die Spannungen waren so gestiegen, daß beide Seiten einander kriegsbereit gegenüberstanden. Jede Seite wartete darauf, daß die andere anfangen würde, und war entschlossen, ihr dann zuvorzukommen. Der andere sollte als der Aggressor dastehen, man selbst wollte aber zugleich den Vorteil des Preemptive Strike, des Präventivschlags haben.



So jedenfalls stellen sich mir, nachdem ich fünf Wochen lang die Meldungen ziemlich genau verfolgt habe (siehe die Links am Ende dieses Artikels), das dar, was der "Spiegel" von heute die "Klärung der Schuldfrage" nennt.

Eine eigenartige "Spiegel"- Story ist das. Nicht ganz die Titelgeschichte, aber immerhin auf die Titelseite gehoben. Dort mit der vollmundigen Frage: "Was geschah wirklich in Georgien?". Und am Ende des Artikels mit der resignativen Feststellung: "Wahrheit und Lüge über den kurzen Krieg im Kaukasus sind noch immer schwer zu trennen."

Fürwahr. Und auch bei dem, was der "Spiegel"- Artikel (38/2008, S. 128 - 132) uns sagen will, ist schwer zu trennen zwischen Fakten, Vermutungen und Kolportiertem; vielleicht auch gezielter Desinformation. Nicht weniger als sieben Autoren haben daran mitgewirkt; ich habe nicht den Eindruck, daß sie sich in der Bewertung der Ereignisse einig geworden wären.

Auch die "Spiegel"-Autoren sehen als entscheidend das an, was in "Zettels kleinem Zimmer" in diesem und vor allem in diesem Thread wochenlang ausführlich diskutiert wurde: Welches war genau der Zeitablauf in der Nacht vom 7. zum 8. August und in den Morgenstunden des 8. August?

Relativ sicher scheint zu sein, wann Georgien mit dem Artilleriebeschuß von Tschinwali begann: Ungefähr um 22.30 am Abend des 7. August. So lag es der Diskussion in "Zettels kleinem Zimmer" zugrunde.

Nach wie vor völlig unklar ist hingegen, wann die russischen Truppen in Richtung Roki- Tunnel in Marsch gesetzt wurden, wann deren Anwesenheit dort von den Georgiern entdeckt wurde und wann sie den Tunnel auf der südossetischen Seite verließen. Auch die sieben Autoren der "Spiegel"-Story sind sich darüber augenscheinlich nicht einig:
Die georgische Behauptung, die Russen hätten provoziert und Truppen in den Roki-Tunnel einmarschieren lassen, wurde von den Nato-Experten keineswegs bezweifelt. (S. 130)

Erst gegen elf Uhr [am 8. August vormittags; Zettel] ziehen ihre [der Russen] Truppen aus Nordossetien durch den Roki-Tunnel. (S. 130)

Hauptmann Denis Sidristy, Kommandeur einer Kompanie des 135. motorisierten Infanterieregiments, schildert, wie er bereits in der Nacht zum 8. August mit seiner Einheit durch den Roki-Tunnel nach Zchinwali vorrückte (S. 132)
Und am 25. August stand im "Spiegel" " zu lesen:
Für eine friedliche Lösung ist es am nächsten Morgen [des 8. August] zu spät. Seit 2.06 Uhr am frühen Freitag laufen Meldungen über russische Panzer im Roki- Tunnel über die Ticker der Presse- Agenturen. Durch den Roki-Tunnel führen die Russen insgesamt, die Schätzungen differieren, 5500 bis 10 000 Soldaten nach Südossetien.
Wenn die ersten Meldungen über russische Truppen im Roki- Tunnel in der Nacht zum 8. August um 2.06 von den Agenturen verbreitet wurden, dann kann dieser Angriff nicht gut erst gegen elf Uhr am Morgen des 8. August begonnen haben. Es sei denn, die Agenturen verfügten über die Fähigkeit zur Präkognition.

Und dann kann der Einmarsch nach Südossetien auch schwerlich die Reaktion auf einen Beschuß Tschinwalis gewesen sein, der gerade einmal dreieinhalb Stunden zuvor begonnen hatte.

Es sei denn, die russischen Befehlswege verliefen in der Art der Quanten- Verschränkung über paranormale Psi- Kanäle und die russische 58. Armee hätte die Fähigkeit, ihre Schützenpanzer und Panzer schneller marsch- und gefechtsbereit zu machen, als Houdini sich aus seinen Fesseln befreien konnte.

Kurzum, auch wer den heutigen "Spiegel" gelesen hat, der ist, was die "Kriegsschuld" angeht, so klug als wie zuvor.



Im zweiten Teil werde ich u.a. über das berichten, was zwei US-Experten in der vergangenen Woche zum Ablauf der Ereignisse in der Nacht zum 8. August und über die Hintergründe dieses Kriegs offiziell zu Protokoll gegeben haben; und auch über die russische Militärdoktrin.

Zunächst aber die Links zu den Artikeln, in denen ich mich bisher mit dem Georgien- Krieg befaßt habe:
  • 9. August: Der Ossetienkrieg als postkolonialer Konflikt. Nebst einer Zusammenfassung der Ereignisse, die zu diesem Krieg führten

  • 10. August: Wer sind die Adressaten des Ossetien-Kriegs? Merkel, Steinmeier, Sarkozy. Nebst einer Erinnerung an München 1938

  • 11. August: Zitate des Tages: Zwei britische Stimmen zur russischen Invasion Georgiens

  • 12. August: Hintergründe des Kriegs in Georgien (1): In den Krieg geschliddert? Oder gepokert und verloren?

  • 12. August: Hintergründe des Kriegs in Georgien (2): Rußlands Rückkehr zu einer imperialen Politik? Nebst der Stellungnahme von Präsident Saakaschwili

  • 13. August: Hintergründe des Kriegs in Georgien (3): Präsident Saakaschwili schildert den Ablauf der Ereignisse

  • 13. August: Eilmeldung bei CNN: Russische Truppen rücken in Richtung Tiflis vor. Saakaschwili: "Wir werden uns nicht ergeben"

  • 14. August: Vier historische Parallelen zum russischen Überfall auf Georgien

  • 15. August: Zitat des Tages: Krieg zwischen der Nato und Rußland? Über eine seltsame Inkonsistenz im linken Denken

  • 16. August: Krieg in Georgien: Eine Zwischenbilanz in Zitaten

  • 17. August: Zitat des Tages: "Nach Georgien kommt die Ukraine dran". Sowie über militärische Aspekte der Invasion Georgiens

  • 20. August: Kurioses, kurz kommentiert: Die besseren Argumente der Weicheier

  • 24. August: Zitat des Tages: "Warum sollte Moskau warten?" - In Georgien zieht Rußland seine Truppen "zurück, aber nicht ab"

  • 25. August: Kriegsschuld und Kriegsziele in Georgien: Alternative Erklärungsmuster

  • 2. September: Was weiß die OSZE über den Schuldigen am Georgien-Krieg? Wie "Spiegel-Online" wieder einmal manipuliert hat
  • (Fortsetzung hier)



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