18. September 2008

Was geschah wirklich in Georgien? Der "Spiegel", amerikanische Experten und die Chronik eines Showdowns (Teil 3)

In den ersten beiden Teilen ging es noch einmal um den Ablauf der Ereignisse am 7. und 8. August. Das Ergebnis war, daß sie vorerst nicht zuverlässig rekonstruierbar sind. Wer an diesen beiden Tagen und in der Nacht dazwischen wen provoziert hat, wer bei diesem Showdown wem zuvorgekommen ist, läßt sich nicht sicher ausmachen.

Treten wir jetzt einen Schritt zurück. Schauen wir nicht mehr auf die Details, sondern auf den Zusammenhang. Den genauen Ablauf kennen wir nicht. Über den Kontext, in dem sich die militärischen Ereignisse dieser Nacht und des nachfolgenden Tages abspielten, gibt es bessere und sicherere Informationen. Darüber, wie es zu diesem Showdown kam und wer in ihm der Schurke ist.

Das sieht auch Matthew J. Bryza so, ein Spitzenbeamter des US-Außenministeriums, der am 11. September vor der Kommission für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (Helsinki- Kommission) seine Aussage machte:
There will be a time for assessing blame for what happened in the early hours of the conflict, but one fact is clear -- there was no justification for Russia’s invasion of Georgia. There was no justification for Russia to seize Georgian territory, including territory well beyond South Ossetia and Abkhazia, in violation of Georgia’s sovereignty, or to attack and destroy military infrastructure.

Irgendwann einmal wird man die Schuld an dem ermitteln können, was sich in den ersten Stunden dieses Konflikts zutrug, aber eine Tatsache ist schon jetzt klar: Es gab keine Rechtfertigung für die russische Invasion Georgiens. Es gab keine Rechtfertigung dafür, daß Rußland georgisches Gebiet besetzte, und zwar unter Verletzung der Souveränität Georgiens auch Gebiet weit über Südossetien und Abchasien hinaus, und daß es die militärische Infrastruktur angriff und zerstörte.
Bryza schildert ausführlich die Vorgeschichte des Konflikts - den Zerfall des sowjetischen Imperiums, die daraus resultierenden Unruhen und Kriege. Die Entstehung des souveränen Georgien und der separatistischen Bewegungen in Südossetien und in Abchasien. Den Versuch verschiedener Organisationen, Kriege zu verhindern und eine friedliche Entwicklungen einzuleiten.

Vor allem die OSZE tat das, und die UNO. Die UNO hatte eine Gruppe eingerichtet mit dem schönen Namen "Freunde Georgiens", der Rußland, die USA, das UK, Frankreich und Deutschland angehören. In ihr versuchte man, die Entwicklung im Kaukasus friedlich zu halten.

Die Russen aber - so schildert es Bryza - machten immer wieder Schwierigkeiten. Diese Obstruktionspolitik eskalierte seit der Konferenz von Bukarest im April 2008, auf der Georgien der Status "Membership Action Plan", also die Zusage einer Aufnahme in die Nato, verweigert worden war:
Then in April (...) then-President Putin issued instructions calling for closer official ties between Russian ministries and their counterparts in both of the disputed regions. Russia also increased military pressure as Russian officials and military personnel were seconded to serve in South Ossetia’s de-facto government in the positions of "prime minister," "defense minister," and "security minister."

On April 20, the Russian pressure took a more ominous turn when a Russian fighter jet shot down an unarmed Georgian unmanned aerial vehicle over Georgian airspace in Abkhazia. (...) In late April, Russia sent highly-trained airborne combat troops with howitzers to Abkhazia, ostensibly as part of its peacekeeping force. Then in May, Russia dispatched construction troops to Abkhazia to repair a railroad link within the conflict zone.

Im April dann (...) erließ der damalige Präsident Putin Anweisungen, die engere offizielle Bindungen zwischen russischen Ministerien und ihren Kollegen in beiden umstrittenen Regionen anordneten. Rußland erhöhte auch den militärischen Druck. Russische Beamte und Militärs wurden zur Hilfe geschickt, um in der De- Facto- Regierung Südossetiens die Positionen des "Premierministers", des "Verteidigungsministers" und des "Sicherheitsministers" zu übernehmen.

Am 20. April nahm der russische Druck eine bedrohlichere Wendung, als ein russischer Kampfjet einen unbewaffneten, unbemannten georgischen Flugkörper im georgischen Luftraum über Abchasien abschoß. (...) Gegen Ende April entsandte Rußland hochtrainierte Luftlandetruppen mit Haubitzen nach Abchasien, angeblich als Teil seiner Friedenstruppe. Im Mai dann schickte Rußland Pioniertruppen nach Abchasien, um eine Eisenbahnverbindung zur Konfliktzone zu reparieren.
Die übrigen Staaten in der Gruppe "Freunde Georgiens" beobachteten diese Vorgänge mit Sorge und versuchten immer wieder, Rußland in eine friedliche Lösung einzubeziehen.

Im Juni und Juli zum Beispiel forderte man Rußland auf, sich an der Ausarbeitung eines Friedensplans für Abchasien zu beteiligen, der dessen weitgehende Autonomie innerhalb Georgiens, den verfassungsmäßigen Schutz der abchasischen Sprache und Kultur usw. vorsah. Rußland verweigerte sich der eingehenden Diskussion dieses Plans und blieb Mitte Juni sogar einer dafür angesetzten Konferenz in Berlin fern.

Ebenfalls im Juni reiste Bryza nach Moskau, um für eine Deeskalation zwischen Georgien und Rußland zu werben; sein russischer Kollege antwortete, daß Rußland keinen ersten Schritt tun werde. Für Juli war nochmals eine Konferenz gemeinsam mit Georgien und Rußland angesetzt. Wieder weigerte sich Rußland, daran teilzunehmen. Begründung: Im Außenministerium seien "alle im Urlaub".

Rußland boykottierte weiter alle Versuche der USA und der Europäer, den Konflikt zu entschärfen. Im Juli drangen russische Flugzeuge in den georgischen Luftraum ein. Anfang August explodierten in Südossetien zwei Bomben, die fünf georgische Polizisten verletzten. Am 2. August kam es zu einem Feuerüberfall auf georgische Polizei. Am 4. August begannen die Südosseten, Hunderte Frauen und Kindern nach Rußland zu evakuieren.

Am 5. August gab Rußland bekannt, es werde russische Bürger in Südossetien verteidigen (also Osseten, an die man russische Pässe ausgehändigt hatte). Am 6. August beschuldigten sich Südossetien und Georgien gegenseitig, Dörfer in Südossetien zu beschießen.



In dieser gefährlichen Lage reiste der zuständige georgische Minister ("Minister für Konfliktlösung") am 7. August zu Verhandlungen nach Südossetien. Sein südossetischer Kollege weigerte sich, mit ihm zu sprechen. Sein russischer Kollege erschien nicht zu dem Treffen, weil er angeblich eine Autopanne hatte.

In der Nacht zum 8. August begannen Kämpfe zwischen südossetischen und georgischen Truppen. Georgien verkündete einen Waffenstillstand, aber die Südossetier kämpften weiter. Sie standen, so Bryza, wahrscheinlich unter dem Kommando der russischen Beamten, die Rußland in die südossetische Regierung ensandt hatte.

Nach georgischen Angaben schossen die Südosseten aus Positionen hinter den Linien der russischen Friedenstruppen. Russische Truppen rückten durch den Roki-Tunnel vor.

Die USA hatten, so Bryza, die Georgier immer wieder davor gewarnt, sich auf einen bewaffneten Konflikt mit den Russen einzulassen, den sie nur verlieren konnten. Nun aber rückten georgische Kräfte auf Tschwinwali vor und lieferten nach Bryzas Aussage damit Rußland den Vorwand für die seit langem vorbereitete Militäraktion gegen Georgien:
Moscow’s pretext that it was "intervening" in Georgia to protect Russian "citizens" and "peacekeepers" in South Ossetia was simply false. It was soon revealed that the real goal of Russia’s military operation was to eliminate Georgia’s democratically elected government and to redraw Georgia’s borders.

Der Vorwand Moskaus, es habe in Georgien "eingegriffen", um russische "Bürger" und "Friedenstruppen" zu schützen, war schlicht unwahr. Es zeigte sich bald, daß das wahre Ziel der russischen Militäroperation war, die demokratisch gewählte Regierung Georgiens zu stürzen und die Grenzen Georgiens neu zu ziehen.
Moskau hätte dabei, sagt Bryza, sämtlich internationale Abkommen über Abchasien und zahlreiche Resolutionen des UN- Sicherheitsrats gebrochen.



In seiner Aussage vor dem Verteidigungsausschuß des US-Senats hat am 10. September der Unterstaatssekretär im Pentagon Eric S. Edelman diese Schilderung Bryzas weitgehend bestätigt und um Details ergänzt.

Beispielsweise sagte Edelman, daß die US-Berater in Georgien am 7. August Hinweise darauf gehabt hätten, daß die Georgier eine militärische Operation vorbereiteten; an diesem Tag seien die für den Einsatz im Irak vorgesehenen Truppen nicht zum Training erschienen. Das militärische Vorgehen Georgiens bewertet Edelman so:
The Georgian leadership’s decision to employ force in the conflict zone was unwise. Although much is still unclear, it appears the Georgians conducted what they thought was a limited military operation with the political aim of restoring Georgian sovereignty over South Ossetia to eliminate the harassing fire from the South Ossetian separatists on Georgian civilians. This operation was hastily planned and implemented. (...) Russia used Georgia’s ground operation as the pretext for its own offensive.

Die Entscheidung der georgischen Führung, in der Konfliktzone militärische Gewalt anzuwenden, war unklug. Zwar ist vieles noch unklar, aber es scheint, daß die Georgier eine ihrer Absicht nach begrenzte Militäroperation durchführen wollten, deren politisches Ziel es war, die georgische Souveränität über Südossetien wiederherzustellen. Damit sollte dem Beschuß georgischer Zivilisten durch südossetische Separatisten ein Ende gemacht werden. Diese Operation wurde überstürzt geplant und umgesetzt. (...) Rußland benutzte die Bodenoperation Georgiens als Vorwand für seine eigene Offensive.
Für eine Offensive, die seit langem geplant und vorbereitet worden war. Rußland hatte - so stellt es sich jetzt dar - den Konflikt systematisch geschürt und friedliche Lösungen blockiert, bis die Situation reif für ein russisches Eingreifen war.



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