22. September 2008

Marginalie: Die amerikanische Einwanderung in die Sowjetunion. Ein vergessenes Kapitel in der Geschichte des Kommunismus

Ja, das hat es einmal gegeben: Ein Strom von Menschen, die die USA verließen, weil sie sich in der UdSSR ein besseres Leben erwarteten.

Nicht in der Zeit, als der spätere Kennedy- Attentäter Lee Harvey Oswald sein Glück im Vaterland aller Werktätigen suchte, Anfang der sechziger Jahre. Da kam allenfalls ein Einzelgänger wie Oswald auf einen solchen Gedanken.

Aber dreißig Jahre zuvor sah das anders aus.

Die USA steckten in der Großen Depression. Und die UdSSR, aus der überwiegend die Propaganda des Regimes und die geschönten Berichte von - im Wortsinn - Fellow Travelers nach außen drangen, erschien vielen wirklich als ein Paradies. Also wanderten Amerikaner zu Zehntausenden in die Sowjetunion aus.

Über diese bizarre Episode berichtet ein in diesem Sommer zunächst im UK erschienenes Buch des britischen Journalisten Tim Tzouliadis. Darauf aufmerksam geworden bin ich durch die jetzige Besprechung von Ronald Radosh im aktuellen National Review anläßlich des Erscheinens der US- Ausgabe.

Weitere Rezensionen von "The Forsaken: An American Tragedy in Stalin’s Russia" (Die im Stich Gelassenen. Eine amerikanische Tragödie in Stalins Rußland) findet man zum Beispiel im Independent, im Telegraph und - besonders lesenswert - im Spectator; die Autorin dieser Rezension, Anne Applebaum, hat selbst ein Standardwerk über den Gulag geschrieben.



Im Jahr 1931, mitten in der Großen Depression, erschienen in US-Zeitungen Anzeigen der sowjetischen Arbeits- Agentur Amtorg, in der amerikanischen Arbeitern Jobs in der Sowjetunion angeboten wurden. Gesucht wurden vor allem Stahlarbeiter und Autobauer, aber auch Lehrer und Ärzte. Geboten wurden hochbezahlte, sichere Stellungen, freie Überfahrt, bezahlter Urlaub und freie medizinische Versorgung. Paradiesische Bedingungen also nicht nur für Menschen, die damals in den USA keine Arbeit fanden.

Etwas mehr als zehntausend Stellen wurden angeboten; mehr als hunderttausend Bewerbungen gingen ein. Unter denen, die in die UdSSR gingen, war der spätere prominente Gewerkschaftsführer Walter Reuther. Bei manchen spielte ein politischer Hintergrund eine Rolle; aber viele wollten nur einen der angeblichen guten Jobs.

Die Ernüchterung kam bald. Statt des versprochenen Paradieses fanden die Ankömmlinge erbärmliche Bedingungen vor - Hungerlöhne, schlechte Unterkünfte, eine miserable Versorgung selbst mit den einfachsten Gütern.

Sofort nach der Ankunft hatten sie ihre Pässe abgeben müssen. Wer wieder zurück in die USA wollte, erhielt die Auskunft, er sei mit der Aufnahme der Arbeit Sowjetbürger geworden und unterliege ausschließlich sowjetischem Recht.

Soweit war das aus heutiger Sicht alles nicht überraschend. Wirklich erstaunlich - und der Grund dafür, daß ich diesen Artikel schreibe - war die Reaktion der amerikanischen Behörden.

1933 hatten die USA die Sowjetmacht anerkannt und eine Botschaft in Moskau eingerichtet. Von deren Personal wurden die amerikanischen Arbeiter, wie ein Diplomat es ausdrückte, als "menschliches Treibgut" (flotsam and jetsam) behandelt. Sie erhielten keine Hilfe, und Stalin war entschlossen, sie in der UdSSR festzuhalten, denn sie kannten ja nun die Wahrheit über die dortigen Zustände und hätten bei einer Heimkehr in die USA darüber berichten können.

Der erste US-Botschafter bei Stalin, William Bullitt, war anfangs ein Sympathisant der Sowjetmacht gewesen, erkannte aber bald deren wahres Wesen und schrieb in seinem letzten Telegramm an Roosevelt, bevor er demissionierte, daß Stalin zum Massenmord an allen potentiellen Oppositionellen entschlossen sei.

Bullitts Nachfolger war Stalins Traumkandidat, der sowjetfreundliche Joseph Davies. Ein Mann, der sich weigerte, vom NKWD verfolgten Amerikanern zu helfen; erst recht den Arbeitern, die ja "Sowjetbürger" geworden waren.

Davies nannte die sowjetische Führung "extrem fähig" und rechtfertigte Stalins Schauprozesse. Und er war nicht der einzige. Bis hinein in Roosevelts Regierung gab es die willigen Unterstützer Stalins; zu ihnen gehörte zum Beispiel Vizepräsident Henry A. Wallace. Henry Morgenthau, Roosevelts Finanzminister, äußerte, die Methoden Stalins seien "of no interest to the American government", uninteressant für die amerikanische Regierung.

Zahlreiche der in die UdSSR gekommenen Amerikaner kamen in ein Lager des Gulag. "None of this first generation of American prisoners — neither Herman, nor Dolgun, nor Sgovio nor any of the hundreds of others — ever had any aid or assistance whatsoever from the American embassy in Moscow or from the American press corps, let alone from the government itself", schreibt Anne Applebaum - keiner von ihnen hätte jemals Hilfe erhalten, weder von der Botschaft, noch von Presseleuten, noch gar von der US-Regierung.



Das alles war Anfang und Mitte der dreißiger Jahre, also vor dem Beginn des Zweiten Weltkriegs. Daß man Stalin später als Kriegsalliierten nolens volens manches nachsah, mag verständlich sein. Aber die Wahrheit ist, daß viele amerikanische Linke schon lange zuvor in "Uncle Joe" regelrecht vernarrt gewesen waren. (Seine "wunderbaren Augen" lobte der Botschafter Davies, vor der Entsendung nach Moskau ein prominenter US-Linker).

Und die Amerikaner waren keineswegs die einzigen. Anne Applebaum schreibt:
This attitude was not unique to Americans at that time, of course. (...) I’ve never heard of British or Dutch diplomats helping their citizens to get out of the gulag either. A few oddball ‘right-wing’ journalists and émigrés paid attention, but that was about it. It was an ‘internal affair’, not a matter for international statesmen.

Diese Haltung war damals natürlich nicht auf die USA beschränkt. (...) Ich habe niemals davon gehört, daß auch holländische oder britische Diplomaten ihren Bürgern geholfen hätten, dem Gulag zu entkommen. Ein paar verschrobene "rechte" Journalisten und Emigranten richteten die Aufmerksamkeit darauf, aber das war es dann auch schon. Es war eine "innere Angelegenheit", keine Angelegenheit internationaler Staatsmänner.



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