3. Mai 2017

Einmal Weltraum und zurück

Manchmal gibt es Momente, an denen einem unverhofft, und gerade durch diese Unverhofftheit, das vor Augen geführt wird, was Ernst Jünger vor schon fast neunzig Jahren, in seiner Sammlung kurzer Glossen und Prosastücke mit dem Titel Das Abenteuerliche Herz, den "Traumzustand der Moderne" genannt hat: jener Eindruck von Surrealität, von einer veritablen Unwirklichkeit, die sich durch die Möglichkeiten der modernen Technik eröffnet - gerade auch deshalb überraschend, weil sie zum unabdingbaren, alltäglichen Part in jeder Sekunde unseres Lebens geworden ist. So etwa für den Chronisten am gestrigen 1. Mai.

Wie es sich für einen sich überzivilisiert dünkenden Zeitgenossen, einen dem Hedonismus der Frugalität frönenden, um ein epicuri de grege porcus (um es in den Worten des älteren Fachkollegen Quintus Horatius Flaccus - in dessen Epistolae I, 4, 16 - zu sagen) ziemt, wurde der Tag der Arbeit durch eine Verlagerung - nicht Verlängerung - der Nachtruhe in dem Vormittag begangen, nach ausgiebiger Lektüre (in diesem Fall der Mittelpartien des mittleren Teils der Santi-Trilogie des mittlerweile bekanntesten chinesischen Science-Fiction-Autors Cixin Liu, 2015 in englischer Übersetzung unter dem Titel The Dark Forest erschienen) bis zum Erscheinen der "rosenfarbenen Eos": ganz gemäß dem Motto, das Georg Christoph Lichtenberg vor 244 Jahren als 273. Gedankenblitz in seinem "Sudelbuch" C notierte: "Die Indianer nennen das höchste Wesen Pananad oder den Unbeweglichen, weil sie selbst gerne faulenzen."­

In einem solchen mentalen Sonntagszustand, einem lotophagischen (oder, um es wieder mit Ernst Jünger zu sagen "phäakischen") Kurzurlaub von Welt und Ich kann es dann geschehen, daß sich das eingangs umrissene Gefühl des Unwirklichkeit einstellt, wenn man, kurz vor ein Uhr Mittags, noch vor dem ersten Kaffee des Tages, den Heimrechner hochfährt und als erstes - völlig überraschend, da man die gezielte Nachverfolgung dieses Interessengebiets nur sporadisch betreibt - auf der eigenen Facebook-Seite die Meldung präsentiert erhält: Start in den Weltraum in 60 Sekunden - T minus one. Gefolgt fünfzig Sekunden darauf von dem Herabzählen der letzten 10 Sekunden - jenem Ritual, das Fritz Lang im Jahr der Jüngerschen Großstadtpirsch durch Berlin für seine ebendort in Babelsberg gedrehte "Frau im Mond" erfand. Und in den achteinhalb darauffolgenden Minuten zum Zeugen eines Raketenstarts von jener Startrampe 39A im Kennedy Space Center (älteren Zeitgenossen noch als Cape Kennedy oder Cape Canaveral geläufig), von der vor fast fünf Jahrzehnten die Apollo-Missionen der amerikanischen Raumfahrtbehörde NASA zwölf Astronauten den Weg zum Mond antraten.



Die verantwortliche Firma, Elon Musks SpaceX, hat die Videoaufzeichnung dieser gestrigen Live-Übertragung als Videobeitrag auf YouTube eingestellt. Es handelt sich um den Start einer Falcon-9-Rakete, mit der der amerikanische Spionagesatellit NROL-76 in seine Umlaufbahn befördert wurde. Man sollte vielleicht darauf hinweisen, daß es sich bei diesen rund achteinhalb Minuten um eine komplett ungekürzte Aufzeichnung handelt, ohne Auslassungen, Zeitraffungen oder Brüche. Vom Abheben bis zum Brennschluß der ersten der beiden Raketenstufen in 140 Kilometern Höhe, gut 150 Kilometer vom Weltraumbahnhof entfernt bei fünffacher Schallgeschwindigkeit viereinhalb Minuten später, dem "Rücksturz zur Erde" (wie dies, vor mittlerweile auch 51 Jahren, Dietmar Schönherr in der Maske des Commander Cliff McLaine ins Textbuch geschrieben wurde), den beiden je gut 25 Sekunden dauernden Bremsmanövern - zum einen in gut 40 Kilometern Höhe, zum anderen wenige hundert Meter über der Start- und jetzigen Landerampe, während die Titanstahlröhre mit den Ausmaßen eines veritablen Kirchturms - 68 Meter Höhe bei einem Durchmesser von fast 4 Metern und einem Leergewicht von etwas über 500 Tonnen wie ein fallender Stein das Faktum der Newtonschen Schwerebeschleunigung beweist, um nach insgesamt achteinhalb Minuten federnd an jener Stelle aufzusetzen. Beim Anblick dieser absolut mühelos erscheinenden Manöver weht einen Betrachter vielleicht eine leise Ahnung an, um welche technische Meisterleistung es sich hier handelt.

Das Ziel dieser technischen Innovationen liegt darin, nach und nach die für die Satellitenstarts benötigten Booster so einzurichten, daß sie Dutzende von Malen, gereinigt, gewartet und von neuem zum Einsatz gelangen können. Abgesehen von diesen Wartungskosten entfallen damit die Kosten einer kompletten Neufertigung, die bei Raketen von Format einer Falcon 9 und der kurz vor der Einsatzreife stehen Falcon Heavy (die unter anderem auch als Trägerrakete für bemannte Mond- und sogar Marsmissionen ausgelegt ist) bis zu einer dreistelligen Millionensumme betragen können. Der vorige westliche Großunternehmen in Sachen Raumflug, der Space Shuttle, hat dieses bei seiner ursprünglichen Konzeption avisierte Ziel einer kompletten Wiederverwendbarkeit nie eingelöst: sowohl der Haupttreibstofftank als auch die daran angeflanschten Feststoffbooster mußten für jede der 135 zwischen 1982 und 2011 absolvierten Missionen neu gefertigt werden. 

Für passionierte Leser jenes Genres der Literatur, das die Gesamtheit von Raum und Zeit, wie sie die moderne Naturwissenschaft erschlossen hat, in den ludischen Fokus nimmt - der Science Fiction also - und zwar etwas ältere Leser, denen in den 1950er und 1960er Jahren der "Aufbruch ins All" oft als realweltliches Pendant ihrer Sehnsüchte und Phantasien erschien, für jene Leser, denen die Jugendbücher von Robert A. Heinlein, die frühen Romane von Arthur C. Clarke eine Begeisterung für dieses Unterfangen vermittelten, eine Begeisterung, die getragen war von dem Bewußtsein, daß es sich hier keineswegs um freie Fabulation handelte, um Projektionen imaginärer Außerirdischer und "Abenteuern im Sternenreich", sondern um technisch durchgerechnete und umsetzbare Ingenieursprojekte: für solche Leser schwingt in den Bildern senkrecht aufsetzender Raketen noch ein visuelles Echo der papiernernen Projekte jener unmittelbaren Nachkriegsepoche mit, wie sie in den Büchern wiederum von Arthur C. Clarke, von Wernher von Braun, von Willy Ley mit ihren detailversessenen Bildern etwa von Jack Coggins oder Chesley Bonestell zu finden waren. Bonestell (1888-1986) im besonderen, der durch seine photorealistisch anmutenden Illustrationen ab Mitte der 1940er Jahre für zahlreiche amerikanischen illustrierten zahllosen Lesern einen nachgerade physisch spürbaren Eindruck vermittelte, wie es "da draußen", auf dem Mond, auf der Oberfläche des Mars "wirklich" aussehen müßte, wie der Schatten der Saturnringe den Himmel seiner nächsten Monde überspannt hatte für sein zusammen mit dem deutschen, 1937 in die USA ausgewanderten Ingenieur Willy, der Anfang der 1930er Jahre mit von Braun bei Berlin an der damals noch sehr bescheidenen ersten Entwicklung von Flüssigtreibstoffraketen gearbeitet hatte und der ab 1940 zahllose Fachpublikationen zu Fragen der Raumfahrttechnik publiziert hatte - Bonestell also hatte für sein 1949 verfaßtes Buch "The Conquest of Space" das Bild einer bemannten Rakete entworfen, das in den Folgejahren einen ikonischen Rang sondergleichen gewann: 



(Ley, Bonestell, The Conquest of Space, 1949, Titelbild)

SO sieht ein Raumschiff aus. Angelehnt an die Form der deutschen V2, nur größer und mit gewaltigen Heckflossen ausgestattet, war es, aufrecht stehend gelandet, in Kraterlandschaften, auf den roten Dünen des Marswüsten, Signum für den bevorstehenden, realiter zu erwartenden Aufbruch der Menschheit über die Grenzen des eigenen Planeten hinaus. So präsentierte sich diese Vision auf dem Titelbild des "Conquest of Space", so zeigte es der erste große, das Thema Raumfahrt seriös behandelnde Film, den Hollywood nach dem Ende des zweiten Weltkriegs produzierte, und dem ersten Film überhaupt, der die Klischees der mad scientists und Monströsitäten der B-Movies abseits liegen ließ, George Pals "Destination Moon", der Schilderung der ersten bemannten Mondlandung, von 1950. So fanden sie sich auf zahllosen Titelbildern der SF-Magazine und -Taschenbücher der 1950er Jahre (bis die Raumkapseln und Raketen des Mercury-Raumprogramms Anfang der 1960er Jahre für die Sparte "realistische Hardware" andere Maßstäbe setzte), so reisten Tintin und Milou unter der, nun ja "Führung" von Professor Bienlein 1953 zur Destination Luna. Der bekannteste Literaturpreis des Genres, der Hugo Award, seit 1953 alljährlich auf dem Treffen der World Science Fiction Convention verliehen (das diesjährige Meeting, das 75., wird übrigens im August in Helsinki stattfinden), ist seit über 60 Jahren eine bronzene Ausführung dieser Bildfindung.

  
(Standbild aus "Destination Moon", 1950. Bildquelle: TV Tropes)

Für das Empfinden solcher Raumfahrtbegeisterten büßte die Vision senkrecht landender Raketen seit Anfang der 1960er angesichts der tatsächlich umgesetzten Entwürfe an Faszination ein. Zu unsicher schien ein solches Unterfangen, ein verantwortungsloses Risiko. Der einzige frühere ansatzweise Versuch einer Umsetzung, Mitte der 1990er Jahre von McDonnell Douglas unter der Bezeichnung im Auftrag der NASA als experimentelles Modell entwickelt, schien dies, längst nachdem jede Begeisterung unter den Fans verflogen war, zu bestätigen, als der Prototyp 1996 bei der Landung aus 3 Kilometern Flughöhe beim Bruch eines Landebeins umknickte und explodierte. Und dennoch.. dennoch bleibt ein Residuum, das einen solchen Betrachter, auf welch unangemessene Weise auch immer, lächeln läßt, wenn ein solcher Jungentraum dennoch, wider jede Erwartung (und vielleicht auch Vernunft) doch einmal Gestalt anzunehmen scheint. 

SpaceX hat übrigens, ironischerweise am Rosenmontag im Februar, angekündigt, im Dezember des nächsten Jahres einen bemannten Flug zum Mond starten zu wollen. Allzusehr überraschen sollte das nicht. Die Firma hat auch eine Raumkapsel entwickelt, die für eine Besatzung von sieben Astronauten auslegt ist und die, ebenfalls ab dem nächsten Jahr, den Transport der Mannschaften zur Internationalen Raumstation übernehmen soll. Bislang sahen die Planungen von SpaceX einen Flug zum Mond - allerdings zunächst nur eine Umrundung, noch keine Landung - für den Zeitraum zwischen 2022 und 2024 vor. Mit dem avisierten Zeitpunkt vom Dezember 2018 fiele dieses "Unternehmen Apollo 8" übrigens genau auf das 50-jährige Jubiläum des ersten bemannten Mondfluges, dem von Apollo 8, die am 24. Dezember, um 20:00 Uhr Ostküstenzeit, für 40 Minuten hinter der Rückseite des Erdtrabanten verschwand und bei dem das Wiederauftauchen des Blauen Planeten über der leblosen weißgelben Kraterwüste zu jenem Photo führte, das seinerseits seitdem zur Ikone des Blicks aus dem Weltraum auf die einzige Heimat des Lebens geworden ist, die die Menschheit bislang kennt.

Abschließend noch ein (etwas länger geratenes) Zitat aus einem Aufsatz, den der amerikanische Kulturhistoriker Wyn Wachhorst (am bekanntesten ist wohl seine Biographie Thomas Alva Edisons von 1981) 1995 veröffentlicht hat und der dieses Gefühl einer "Nostalgie des Neuen" wie kein anderer in Worte geprägt hat:

"Soon there will be no one who remembers when spaceflight was still a dream, the reverie of reclusive boys and the vision of a handful of men. Most of those who met in ardent little groups in small cafés between the world wars, planning voyages to the moon and planets that they never hoped to witness, are no longer living. And the last lonely youth to lie in a cricket-pulsing, honeysuckle night and gaze at a virgin moon is now in the latter half of his life. On the yellowed pages of boyhood books the silver ships still poise needle-nosed on the craggy wastes of other worlds, on moonscapes bathed in the stark light of some monster planet whose ring-shadowed hemisphere fills the horizon, looming behind space-­suited specks who wander across the incandescent night. 
"The dream had burned beneath the cold and solitary vigils of mountaintop astronomers like Percival Lowell, and in the visions of lone inventors like Robert Goddard. The fantasy had fueled the science fiction of Verne and Wells, of Serviss and Smith and their pulp successors; it filled the monthly pages of Campbell's Astounding, the early novels of Heinlein, and the popular science of Ley and Clarke; it radiated from the covers of "Fantasy and Science Fiction", the paintings of Chesley Bonestell, and the films of George Pal. It was a dream of visible planets impossibly distant, of fantastic alien surfaces, awaiting for eons the beaching of man's boats. It was a vision of steaming Venusian jungles and fine soft days on the green hills of Mars, cooled by coastal breezes from the Great Canal, looking over a far desert where ruins stood half in sand.  
"It is not that the dream has disappeared; we may in fact be approaching a scientific watershed even more profound than that of Galileo and Newton. But with the coming of spaceflight, as with all change, there was something gained and something lost. Perhaps the public apathy surrounding the space program has reflected in some measure the discrepancy between dream and reality. For though more meaning may lie in one message from the Mars lander than in the most exalted fantasy, the images of spaceflight that proliferated at midcentury arose from oceanic interiors more remote and mysterious than Mars itself. The romance, in short, had a reality of its own. Acquiring its familiar outlines in the pulp subculture of the twenties and thirties, it exploded into mass culture in the late forties and early fifties. 
"Perhaps I will be one of the last to have known this credulous dream in pre-Sputnik form. I was seven when the first American V-2 rocket roared off of White Sands Proving Ground in 1946; I was ten when it boosted a small sounding rocket across the threshold of space, and nineteen when the first artificial satellite shocked the world. The romantic dream of space reached its apogee in those postwar years, when the fantasy of spaceflight and the promise of reality seemed almost in balance. Into this midcentury moment stepped a few writers, artists, and filmmakers who would epitomize the dream of other worlds. Giving final impetus to a science-fiction boom that had been trying to happen since the twenties, they educated the man in the street to the possibility of spaceflight, bringing to mass consciousness the classic dream of the modern age." - Wyn Wachhorst, "The Romance of Spaceflight: Nostalgia for a Bygone Future," The Massachusetts Review, Spring 1995 (nachgedruckt in The Dream of Spaceflight: Essays on the Near Edge of Infinity, 2001; and The Best of Times: Motifs from Postwar America - Reflections on Nostalgia, 2016)
Ach ja: und wie war Ihr 1. Mai?

Ulrich Elkmann

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