22. Mai 2017

白左 - oder was heißt eigentlich "linksverstrahlt" auf Chinesisch?

白左 - bái zuǒ.

Manchmal ist es hübsch, wenn man auf einen kleinen Beitrag aufmerksam wird, der durchweg erhellend ist, einen erhellenden Aspekt zu den Facetten des Rauschens der Gegenwart addiert, und den man nicht erweitern oder erläutern muß, weil er den Sachverhalt so bündig faßt, daß einem nur der Hinweis darauf bzw. die Weiterverteilung an die eigene Filterbubble obliegt. Deshalb hier ein solcher Fingerzeig auf einen dieser Fingerzeig, den Michael Klonovsky vor wenigen Tagen auf seinem wie immer lesens- und schätzenswerten Netzlog acta diurna gegeben hat.

Auf der Webseite von openDemocracy widmet sich ein Beitrag dem in chinesischen online-Foren vagabundierenden Terminus baizuo (白左), "or literally the 'white left'" (ich danke Leser *** für den Hinweis). Der Begriff sei erstmals vor etwa zwei Jahren aufgetaucht und gehöre inzwischen zu den am meisten gebrauchten "derogatory descriptions for Chinese netizens to discredit their opponents in online debates". In China kann also jemand geschmäht werden, indem man ihn als "weißen Linken" bezeichnet – ist das nicht skurril? – bzw. diesem Menschen vorwirft, wie ein solcher zu argumentieren. (acta diurna, 16. Mai 2017)
(Als kleine Anfügung sei noch bemerkt, daß es ein hübsches Erlebnis für einen - nicht allzu umtriebigen - Lernenden des Chinesischen ist, den Sinn der Hanzi unverhofft schneller zu erfassen als ihre Übersetzung oder die Transliterierung im Hanyu pinyin. Obwohl es sich um schlicht Triviales handelt: das Zeichen 白, bái gehört zur Grundausstattung der Farbbezeichnungen wie , , / schwarz, rot, gelb  und ist aufgrund der einprägsamen Strichfolge mnemotechnisch ein Selbstläufer; für 左 als Gegensatz zu 右, yòu/rechts, gilt als elementarer Dichotomie desselbe.)

Um Klonovsky weiter zu zitieren:­

Doch wer gehört in diesen edlen Kreis? Ein online-Portal stellte die Frage und bekam zur Antwort, das Wort baizuo werde gemeinhin verwendet, um diejenigen zu beschreiben, die sich um "Themen wie Immigration, Minderheiten, LGBT und Umwelt" kümmerten und "keinen Sinn für die wirklichen Probleme in der Welt" besäßen; "heuchlerische Humanitaristen", die sich für Frieden und Gleichheit einsetzten, "um ihr Gefühl moralischer Überlegenheit zu befriedigen". Wer "white left" sage, referiert der Autor des Artikels, insistiere auf ein Symptom "westlicher Schwäche". Texte des Tenors "The white left are destroying Europe" seien im chinesischen Netz weit verbreitet. 


...

Die Karriere des Begriffs, heißt es weiter, hänge mit der europäischen "Flüchtlingskrise" zusammen, und Angela Merkel "was the first western politician to be labelled as a baizuo for her open-door refugee policy. Hungary, on the other hand, was praised by Chinese netizens for its hard line on refugees, if not for its authoritarian leader." Ein zweiter – ebenfalls abfälliger – Titel, der neben baizuo benutzt werde, sei shengmu (圣母), was soviel wie "heilige Mutter" bedeute. ...  Doch auch Obama und Mrs. Clinton habe man den Ehrentitel baizuo verliehen. Trump indes "was taken as the champion of everything the ‘white left’ were against, and baizuo critics naturally became his enthusiastic supporters".


Unverkennbar: bei diesem Begriff liegt eine völlige Deckungsgleichheit vor mit dem vor, was bei uns, im stets abendlicheren Abendland, in den letzten Jahren unter dem Rubrum "Gutmensch" eine eins in eins vergleichbare Wendung ins verdient Pejorative durchlaufen hat. Oder, in als "rechts" deklarierten Netzdiskussionen durch die Invektive oft als  "linksversifft" charakterisiert wird. (Dazu bleibt anzumerke(l)n, daß diese Wendung sich fast ausschließlich in tadelnden Vermerken darüber, also von "linker" Seite, findet; die von finstren Rechten präferierte Wortmünze ist, siehe Titel, "lnksverstrahlt").  Jener Typus des moralisierenden Vertreters einer Gesinnungsethik sensu Max Weber, dessen lebenslange Grundierung in rundum absichernden sozialen Marktwirtschaften sie für die Bedingungen für deren Existenz und deren weiteres Bestehen, so muß es scheinen, haben blind werden lassen. Zumindest der Protokollant hält dafür, daß sich bei der Haltung, die sich hier in den chinesischen Netzwerken zeigt, keineswegs um eine Ost-West-Dichotomie, um etwa die unterschiedlichen und oft beschworenen "asiatischen Werte" handelt, sondern schlicht um die Lebenserfahrung dieser und der beiden vorhergehenden Generationen, denen das Schauspiel eines aus ideologischer Verblendung resultierenden fatalen Kurses der eigenen Regierung gegen die Bevölkerung, ohne Rücksicht auf jegliche Vernunft und ungeachtet des Preises, den diese dafür zahlen muß, sich ins kollektive Gedächtnis eingebrannt hat.



Die Umfrage auf Zhihu.com zu Herkunft und Varianten von baizuo kann hier eingesehen werden: 为什么西方受过高等教育的精英分子会成为部分中国人眼中幼稚的「白左」?  ("Warum werden die gebildeten Eliten des Westens  unter den (rein chinesischen gemeinten) Begriff der 'weißen Linken' gerechnet?")

Vielleicht sollte man anmerken, daß der Autor des Artikels auf OpenDemocracy, "The curious rise of the ‘white left’ as a Chinese internet insult" vom 11. Mai 2017, Chenchen Zhang, die Vorbehalte gegenüber "rechtem Populismus" in chinesischen Netzwerken durchaus teilt.

Finally, it should to be noted that the internet in China is subject to strict censorship. The Chinese government has been known to hire a large number of 'internet commentators' (known as the 50 cent party) to fabricate social media posts. According to a recent research conducted by scholars at Harvard University, 29% of the 'accused 50 cent posts' they investigated fall into the category of 'taunting of foreign countries. It is nonetheless impossible to know whether these accused posts are indeed written by government employees. Similarly, it is hard to tell whether some of the criticisms of baizuo are coming from fabricated commentators-for-hire. However, given the strict censorship regime, criticizing democratic values such as pluralism, tolerance, and solidarity is certainly one of the safest 'critical' opinions ordinary citizens can express online.
Nun: wenn die historische Erfahrung eins lehrt, dann, daß nicht laute "Zustimmung" zu einem Kurs, der von der Regierung (in diesem Fall der chinesischen) überhaupt nicht vertreten wird, eine "sichere Option" in Zeiten von Zensur und Beschränkung darstellt, sondern das Schweigen. Zumal eine Begeisterung für Donald Trump und eine scharfe Ablehnung des europäischen Flüchtlingschaos mit seinen unabsehbaren Folgen für die Zukunft dieses Kontinents alles andere als eine Ablehnung "demokratischer Werte wie Pluralismus" darstellen. "Taunting foreign countries", einmal ungeachtet der Methodologie und der wohl weg trennscharfen Methodologie, die sich hier auf soziale Netzdienste bezieht, gewinnt dabei eine hübsche Volte, wenn man als Kontrast daneben das Ergebnis einer Studie hält, in der das Shorenstein Center der Universität Harvard vor zwei Tagen über die Berichterstattung über die ersten 100 Tage der Präsidentschaft Donald Trumps in den staatlichen Medien, sowohl der USA als auch der Alten Welt berichtet hat und in der die deutsche ARD sich einen weltweit unangefochtenen ersten, ach was: allerersten Platz in  Negativität und Ablehnung gesichert hat


(Hübsch auch, daß die sowohl hüben wie drüben des Großen Teichs so gern als "rechtslastig" perhorreszierten Fox News, als Ausreißer ins andere Extrem mit ihrer zu 48 Prozent positiven Gewichtung dem so oft beschworenen Ziel des "fair and unbiased" als einzige nahezukommen scheint.) (Bildquelle: Abb. 6 in "News coverage of Donald Trump's first 100 days")

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Die Sonntage immer den Künsten! 

Um dem  den aus dem obigen vielleicht anklingenden Touch der Negativität zu nehmen, den das Wort im Original nicht ansatzweise besitzt, zum Abschluß ein etwas älteres Stück aus dem Repertoire des Shidaiqu, jenes westöstlichen Musikamalgams, das im Shanghai der ausgehenden 1930er Jahre entstand und chinesische Texte mit der musikalischen Sprache des Swingzeitalters verband. Drei der weiblichen Gesangstars, die darin reüssierten, wählten dieses Wort als Bestandteil ihres nom de scène (und ja, diese Variante zu nom de guerre und nom de plume gibt es): 白虹, Bai Hong ("weißer Regenbogen"), 白光, Bai Guang ("weißes Licht") und  白雲, Bai Yun (""weiße Wolke"). Hier also ein Stück von Bai Hong, aus dem Jahr 1939, aus dem Film 雲裳仙子 (yún shang xiānzǐ, "Die Wolkenfee". Regie Yue Feng). Dem Vorwand des "Singsong"-Films entsprechend, dreht sich die Handlung um die Kabalen anläßlich der Inszenierung eines Singspiels mit dem titelgebenden Titel, was als Vorwand dient, ein Dutzend dieser Lieder dem Publikum zu präsentieren. Ähnlichkeiten mit dem Modus operandi zahlloser westlicher Musikfilme der dreißiger Jahre, etwa mit Curt Boeses "Hallo  Janine" von 1939, aus dem noch der Titel "1-2-3-4-5-6-7, wo ist meine Frau geblieben?" in Erinnerung sein dürfte, festzustellen, zeugte selbstredend von grobem Eurozentrismus. Die Tonqualität ist dem Alter entsprechend. Viele der populären Lieder fanden Verbreitung (und entsprechend Schallplattenverkäufe) durch ihre Verwendung in den zahllosen Unterhaltungsfilmen ihrer Zeit. Nach dem Verdikt der kommunistischen Regierung gegen die "gelbe Musik" mit ihrem Verzicht auf revolutionären Fervor und ihrer "bürgerlichen" Fixierung auf Mondscheinromantik und Liebessehnsucht im August 1952 und der endgültigen Schließung der Aufnahmestudios drei Monate später verschwanden die Prägenegative für die 78er-Platten für Jahrzehnte in feuchten Lagerhäusern, wenn sie nicht gleich der Vernichtung anheimfielen. Ein Sachstandsbericht von 1999 über die vorhandenen Relikte aus Shanghai stellte fest, daß die damals gut 6000 eingelagerten Negativ-Prägematrizen der ehemals größten chinesischen Plattenfirma, Pathé China, samt und sonders korrodiert und unrettbar verloren waren. Wenn es, dank des weltweit größten musikalischen Archivs der Musikgeschichte, YouTube, auch im Westen nun Zugriff auf diese Stücke in pristiner Qualität gibt, dann verdankt sich das den elektronischen Reinigungsfiltern bei der Überspielung der alten Schellack-Scheiben ins Nullen-und-Einsen-Format. Nur ist dies (noch) nicht für alle Stücke der Fall: so wie hier zeigt sich jene "akustische Patina", die im Knistern und Hintergrundrauschen das Vergehen der Jahre hörbar macht wie das Verbleichen alter Photos. (Es liegt eine hübsche Ironie darin, daß die vorgebliche Flüchtigkeit digitaler Kopien die Voraussetzung dafür ist, daß sie sich, in den kommenden Jahrhunderten und Jahrtausenden, als wesentlich beständiger erweisen werden als die vormals "analogen" Träger der in ihnen gespeicherten Informationen: Schallplatten, Photos, Texte, Filme - all dies ist in Sekundenfrist zu sichern, zu bewahren, weiterzugeben, und diese Träger unterliegen nicht der Erosion durch den Zerfall der Trägermaterialien, der Abnützung durch Abspielen, durchs physische Lesen.) 

  


白虹 - 恋歌 - Bai Hong, "Liebeslied" (1939)



年轻的郎 身強体壮 

好像剛出山的太阳 

年輕的姐 清爽漂亮 
好像花刚才开放 
你的光明射进我的心房 
我的香气透进你的心肠 
啊你愿意那花长开放 
我愿意太阳永久在青天上

Kleine Lang: du bist kräftig und stark.
Wie die Sonne, die über den Bergen scheint.
Wie eine kleine Schwester, frisch und schön.
Wie die frisch aufgeblühten Blumen
Schickst du dein Licht in mein Herz.
Wenn doch die Blumen ewig blühen würden...
Wenn doch die Sonne immer am Himmel scheinen würde....



Ulrich Elkmann

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