Im ersten Teil habe ich Apokalyptik als literarisches Phänomen behandelt. Nun wird Literatur nicht im luftleeren Raum produziert, sondern von bestimmten Autoren für bestimmte Leser in einem bestimmten geschichtlichen Umfeld.
Das geschichtliche Umfeld zur Entstehungszeit der jüdischen Apokalyptik ist die Zeit, in der die seleukidische Herrschaft die Identität des Judentums bedroht. Auch wo die römische Herrschaft als ähnliche Bedrohung empfunden wird, spielt die Apokalyptik weiter eine Rolle. Die literarisch ausgeprägte christliche Apokalyptik taucht sicher nicht zufällig im Umfeld erster Christenverfolgungen (unter Domitian) auf.
Die Apokalyptik ist, so kann man sagen, ein Krisenphänomen. Sie stellt letztlich ein bestimmtes religiöses Deutungsmodell zur Krisenbewältigung bereit.
Dessen Grundzug – und das scheint mir wirklich das Wesentliche zu sein – ist ein radikaler Dualismus, ausgeformt als
- Dualismus der Weltzeiten (Äonen) (Zeitlicher Zwei-Welten-Schnitt): Einer bedrohlichen und desaströsen Gegenwart steht eine paradiesische Zukunft gegenüber. Es gibt keinen Übergang von einem Äon zum anderen, sondern die Vernichtung der alten Welt und die Erschaffung oder Offenbarung einer neuen. Eine altchristliche Liturgie hat es in einem Satz zusammengefasst: Es vergehe die Welt, und es komme dein Reich!
- Dualismus der Räume (Himmel und Erde) (Räumlicher Zwei-Welten-Schnitt): Hinter dem, was sich auf Erden ereignet, steht ein himmlisches Geschehen. Siegel werden erbrochen, Posaunen geblasen, Zornesschalen ausgegossen, Engel sind unterwegs, während sich dieses eigentliche Geschehen in irdischen Ereignissen auswirkt. Andererseits aber auch: Die auf Erden bedrohten und gequälten Gerechten, erfahren im Himmel Trost.
- Dualismus der Mächte (Gut und Böse): Die agierenden geistigen oder metaphysischen Mächte stehen einander als absolut gut oder absolut böse gegenüber: Gott oder Satan, Christus oder Antichristus, Engel des Lichts oder Engel der Finsternis. Eine Versöhnung ist ausgeschlossen. Das Böse wird vernichtet.
- Dualismus der Entscheidung (Erlösung und Verdammnis): Der Mensch muss sich für die eine oder andere Seite entscheiden. Davon hängt es ab, ob er in der künftigen Weltzeit mit Gott lebt oder mit dem Satan vernichtet wird.
Die Krisenbewältigung, die durch dieses Deutungsmodell geleistet wird, beruht darauf, dass der erfahrenen Krise ein dahinterliegender, verborgener Sinn gegeben wird. Dem aktuell in seiner (religiösen) Existenz Bedrohten wird "offenbart", dass dieser räumlich und zeitlich begrenzten Bedrohung eine räumlich und zeitlich unbegrenzte Erlösung korrespondiert. Er wird getröstet und in seiner (religiösen) Identität stabilisiert.
Was aber bedeutet vor diesem Hintergrund das heutige Gerede von der Apokalypse oder von Apokalypse-Blindheit (Manemann)?
Mir scheint, dass sich die Wortbedeutung da doch verschoben und verengt hat. Apokalypse meint immer noch ein Krisenphänomen. Und Apokalypse-Blindheit soll wohl heißen: Die Krise wird nicht als solche wahrgenommen.
Wahrscheinlich besteht aber die vermutete Apokalypse-Blindheit eher darin, dass uns die Bewertungs- und Beurteilungsmaßstäbe für die echten Bedrohungen abhanden gekommen sind.
Vermutlich völlig abhanden gekommen ist uns die tröstliche Perspektive, die das Rettende zu sehen vermag.
Und abhanden gekommen ist uns jener Dualismus, der uns, unabhängig von der apokalyptischen Form, einen transzendenten Sinn verspricht. Im Moment scheint das Gefühl vorzuherrschen, der Mensch sei einzig und allein selber für die Erhaltung und Rettung der Welt verantwortlich.
Und dies zieht eine andere Art von Dualismus, einen ethischen Rigorismus der "Gutmenschen" nach sich, der alle die, die sich nicht an der gebotenen Rettung der Welt beteiligen, schon hier und jetzt der Verdammnis übergibt.
Dagegen ist die Erwartung von Gottes Gericht eine sehr tröstliche Vorstellung.
Herr
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