18. April 2011

Politik als Cargo-Kult

Das "Bildungspaket" der Regierung will nicht so recht in die Gänge kommen: Kinder aus Familien mit geringem Einkommen können seit 1. April zweckgebundene Zuschüsse zu so löblichen Dingen wie Nachhilfe, Vereinsbeiträgen, Musikunterricht, Ausflügen und zu Fahrtkosten zu weiterführenden Schulen erhalten. Bislang hat aber nur ein verschwindend kleiner Anteil der Berechtigten einen Antrag gestellt.

Mich soll hier aber gar nicht so sehr interessieren, wie die Politik jetzt darauf reagiert (dazu hat Calimero schon alles gesagt), sondern vielmehr, wie schön diese Episode das Politik-Paradigma des beginnenden 21. Jahrhunderts illustriert: Politik als Cargo-Kult.

von Gorgasal


Was ist Cargo-Kult? Seit dem 19. Jahrhundert kamen die Bewohner der Südsee, insbesondere Melanesiens, immer stärker mit der westlichen Welt in Kontakt. Während des Zweiten Weltkriegs verstärkte sich dieser Kontakt enorm: Schiffe mit Weißen - Amerikanern - tauchten auf, diese brachten Unmengen von nützlichen Gütern (Cargo) an Land, legten Landepisten an und bauten Gebäude, sprachen in ihre Funkgeräte, dann kamen gewaltige Metallvögel, die noch mehr Cargo per Fallschirm abwarfen... Und bald darauf, nach dem Sieg über Japan, verschwanden die Weißen wieder. Kein Cargo mehr. Was lag näher, als die Riten dieser Fremden zu vollziehen, um die Weißen dazu zu veranlassen, weiteres Cargo zu bringen?

Darum bemüht, weiter Cargo per Fallschirm oder Landung zu Wasser zu erhalten, imitierten Kultanhänger die Praxis, die sie bei den Soldaten, Seeleuten und Fliegern gesehen hatten. Sie schnitzten Kopfhörer aus Holz und trugen sie, als würden sie im Flughafentower sitzen. Sie positionierten sich auf den Landebahnen und imitierten die wellenartigen Landungssignale. Sie entzündeten Signalfeuer und -fackeln an den Landebahnen und Leuchttürmen.

Die Kultausübenden nahmen an, die Ausländer verfügten über einen besonderen Kontakt zu den Ahnen, die ihnen als die einzigen Wesen mit der Macht erschienen, solche Reichtümer auszuschütten. Indem sie die Ausländer nachahmten, hofften sie, auch ihnen möge ein solcher Brückenschlag gelingen. In einer Art der sympathetischen Magie bauten sie zum Beispiel lebensgroße Flugzeugmodelle aus Stroh oder schufen Anlagen, die den militärischen Landebahnen nachempfunden waren, in der Hoffnung, neue Flugzeuge anzuziehen.

Cargo-Kult liegt also vor, wenn man eine Handlung B durchführt (sich ein "Funkgerät" aus Kokosnüssen zu bauen), die mit einem gewünschten Ergebnis C (Cargo wird abgeworfen) in Verbindung steht - das aber tatsächlich ganz andere Voraussetzungen und Auslöser A hat (westliche Zivilisation und Krieg mit Japan).

Und was hat das mit Bildungsgutscheinen zu tun?

Bildungsgutscheine können für vielerlei lehrreiche Aktivitäten eingesetzt werden - Nachhilfe, Vereinsbeiträge, Musikunterricht - die alle eines gemeinsam haben: sie sind typisch für das bürgerliche Bildungsideal. Für die Mittelschicht. Aber bürgerlich ist man nicht, weil man Klavier spielen kann. Man kann Klavier spielen, man ist in Vereinen aktiv, man nimmt Nachhilfe oder geht in die Volkshochschule, weil man bürgerlich ist. Oder weil man zumindest eine bürgerliche Grundeinstellung zu Vereinen, zu Bildung, zu Freizeitgestaltung, zu kurz- oder langfristigen Mühen und Ergebnissen hat. Wenn ich heute Klavier übe, dann kann ich vielleicht in zwei Jahren besser spielen. Wenn ich heute Nachhilfe nehme, dann äußert sich das Ergebnis auch erst mit dem Abitur in einigen Jahren. Vereine und Hausmusik sind eine Folge von Bürgerlichkeit, nicht eine Ursache.

Bildungspakete sind Cargo-Kult-Politik. Man will mehr Mittelschicht, also unterstützt man das, was die Mittelschicht so tut. Und verkennt Ursache und Wirkung.

Und warum will man mehr Mittelschicht? Weil heutige Politiker selbst aus der Mittelschicht kommen und nichts anderes kennen als Mittelschicht. Ihre Familien sind Mittelschicht, ihre Freunde sind Mittelschicht, ihre Lebensläufe sind Mittelschicht, ihre Lebensentwürfe sind Mittelschicht, ihr Ideal ist Mittelschicht, und ihre Politik ist Cargo-Kult.

Aber wir sind ja noch gut dran mit unseren Bildungspaketen. Die chinesischen Kommunisten stellten eines Tages fest, dass alle großen Industrienationen Stahl produzierten - also musste jedes Dorf einen Hochofen aufstellen, mit Küchenmessern und Werkzeugen beschicken und wertlosen Stahl herstellen. Cargo-Kult. Und in den USA zeichnete sich die Mittelschicht durch ihr Eigenheim aus. Also musste man den Hausbesitz der Unterschicht subventionieren, um sie in die Mittelschicht zu führen... Das Ergebnis kennen wir. Cargo-Kult. Aber die Grundüberzeugungen, die jemanden in die Mittelschicht bringen, kann man nicht herbeizaubern, indem man deren Ergebnisse subventioniert.

Damit bleibt nur eine Frage offen: wo kaufe ich für Frau von der Leyen ein One-Way-Ticket in die schöne Südsee?



© Gorgasal. Für Kommentare bitte hier klicken. Mit Dank an Calimero für seinen Artikel über das schleppende Anlaufen der Bildungspakete.