26. August 2009

Das Land des Lächelns. Über die Wandlung des deutschen Nationalcharakters

Unser Präsident Köhler hat ein gewinnendes Lächeln. Wie ein großer Junge sieht er dann aus. Er lächelt nicht nur, er strahlt.

Unsere Kanzlerin lächelt seltener, dann aber ebenfalls sehr intensiv. Das Lächeln, das plötzlich ihr Gesicht überzieht, hat oft etwas Spitzbübisches. Merkel lächelt, wenn sie sich freut. Sie freut sich, wenn sie zum Beispiel in einer Diskussion eine Pointe gelandet hat. Ihr Lächeln strahlt nicht Köhlers kommunikative Herzlichkeit aus; eher signalisiert es, daß sie mit sich zufrieden ist.

Der größte Lächler von allen aber ist der Freiherr zu Guttenberg. Am vergangenen Sonntag trat er in der Sendung "Arena" bei SAT1 auf. Wie immer souverän, bestaussehend, charmant. Halb Rodolfo Valentino, halb Leonardo diCaprio. Und lächelnd.

Ein Lächeln mit breit sichtbaren Zähnen. Aber nicht das Raubtierlachen des Alpha- Rüden, mit dem der junge Helmut Schmidt die Frauen beeindruckte und seine Gegner schreckte; Gerhard Schröder hatte es auch. Dazu ist es zu gewinnend, das Lächeln des Freiherrn. Nicht bedrohend, sondern nur entwaffnend.

Damit habe ich die drei sozusagen bestlächelnden Politiker unseres Landes genannt. Und siehe - es sind zugleich die drei Spitzenreiter der Popularitäts- Skala (siehe das Ranking in der aktuellen Ausgabe es gedruckten "Spiegel" 35/2009, Seite 16/17).

Es folgt auf dieser Skala Ursula von der Leyen; auch sie eine starke Lächlerin. Das hat sie von ihrem Vater, dem Ministerpräsidenten Ernst Albrecht, der den Spitznamen "Strahlemann" trug. Dann kommt auf der Skala Guido Westerwelle, der besser lächelt als die gesamte übrige FDP-Führung zusammen.

Und nun erinnern Sie sich einmal an vergangene Spitzenpolitiker. Ludwig Erhard etwa, der schon deswegen selten lächeln konnte, weil das mit einer Zigarre im Mund nicht gut geht. Allenfalls zu einem Schmunzeln brachte er es. Gustav Heinemann, der immer ein wenig wie ein Leichenbitter aussah. Willy Brandt, der nicht nur seine Sätze gern mit "Nein, ..." begann, sondern der meist auch so angespannt wirkte, daß an ein Lächeln nicht zu denken war.

Und Kohl, hat der gelächelt? Eigentlich auch nicht. Wenn sein Gesicht sich in Richtung Lächeln verzog, dann kam eher das heraus, was auf Englisch "to chuckle" heißt - in sich hineinlachen also, nicht selten in bräsiger Selbstzufriedenheit.

Und heute? Sogar Frank- Walter Steinmeier, den wir als streng blickenden Träger eines Scheitels kannten, tritt uns jetzt als ein fröhlicher Dauerlächler entgegen, die Haare frech in die Stirn gekämmt. Da haben wohl die Coachs und Stylisten im Wllly- Brandt- Haus das beigesteuert, was die Natur eines Ostwestfalen nicht hergeben konnte. Offenbar setzen sie voraus, daß das Design, das sie dem Kandidaten verpaßt haben, dem Bild der Deutschen von einem guten Kanzler entspricht: Locker, dynamisch, gutgelaunt.



Und so sind ja nicht nur unsere Spitzenpolitiker. Wir alle, wir Deutschen am Ende des ersten Jahrzehnts des Einundzwanzigsten Jahrhunderts, sind ein fröhlich lächelndes Volk.

Gerade erst haben wir eine heitere Leichtathletik- Weltmeisterschaft hingelegt; und die Welt staunte wieder einmal, was aus den Deutschen geworden ist. Feiern, gute Gastgeber sein, locker und sympathisch - das können wir heutzutage.

Die Fußball- Weltmeisterschaft 2006 war keine Singularität, sozusagen gegen den Strich des deutschen Nationalcharakters gebürstet. Er ist inzwischen so, der deutsche Nationalcharakter. Wir sind so. Wir sind so geworden, in sechzig Jahren. Weltoffen, nett, heiter, unverkrampft.

Ja, unverkrampft. Erinnern Sie sich? Als vor 15 Jahren Roman Herzog zum Bundespräsidenten gewählt worden war, da sagte er, unser Volk sei friedliebend, freiheitsliebend "und was mir das Wichtigste erscheint, meine Damen und Herren - unverkrampft".

Als Reaktion auf diesen Satz gingen manche Augenbrauen nach oben. Was, unverkrampft sollten wir sein, angesichts unserer Geschichte?

Die Bundesrepublik war damals fünfundvierzig Jahre alt. Jetzt ist sie sechzig. Offenbar macht das einen großen Unterschied.

Noch lange nach 1945 war nicht nur das Bild Deutschlands in der Welt von den Verbrechen der Nazis geprägt gewesen, sondern auch unser Selbstbild. Es gab eine deutsche Verbissenheit, ein deutsches Moralisieren, eine morose Grundstimmung.

Ein einziges Mal wurde sie kurz unterbrochen; in der freiheitlich- heiteren Anfangsphase der Studentenbewegung (siehe Wieso eigentlich Achtundsechziger?; ZR vom 5. Juni 2007. Das ist die zweite Folge der Serie Wir Achtundsechziger). Aber das dauerte nur ein paar Monate, allenfalls ein Jahr. Dann war Schluß mit lustig.

Die Führer der Bewegung planten die Revolution; als erstes sollte in Westberlin eine Räterepublik errichtet werden. (Siehe Dutschke und Genossen als Revolutionäre; ZR vom 28.2.2009. Das ist die siebte Folge der Serie "So macht Kommunismus Spaß"). Es folgte die Bekehrung der meisten Antiautoritären zu Stalinismus und Maoismus ("K-Gruppen"). Es folgte der Terror der sogenannten "Rote Armee Fraktion" (RAF).

Das war alles noch "fürchterlich deutsch"; eine in jener Zeit beliebte selbstanklagende Formulierung. Es war, richtiger gesagt, noch der Ausdruck eines fürchterlichen Nazi- Denkens. Die K-Gruppen waren straff autoritär organisiert. Die Killer der RAF verstanden sich als eine Elite, die kraft der Überlegenheit ihrer Weltanschauung das Recht zum Morden hat; ganz nach dem Vorbild der SS.



Wie haben wir das alles hinter uns gelassen, und wann?

Es gab in der ersten Hälfte der achtziger Jahre so etwas wie ein letztes Aufflackern verbiestert- ideologischen Denkens in Gestalt der "Anti- AKW- Bewegung" und der "Friedensbewegung". Da wurde noch einmal richtig auf den weltanschaulichen Putz gehauen. Aber in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre flaute das ab; es begann das zu dominieren, was Geier Sturzflug schon 1983 trefflich gekennzeichnet hatten: "Jetzt wird wieder in die Hände gespuckt, wir steigern das Bruttosozialprodukt".

Und dann änderte die Wiedervereinigung alles. Die Tage des Mauerfalls waren das erste jener großen bundesweiten Feste, für die wir inzwischen Spezialisten geworden sind. Wir haben es in jenen Tagen gar nicht gemerkt (ich jedenfalls nicht) - aber damals fiel nicht nur den Ostdeutschen ein riesiger Stein vom Herzen, sondern auch den Westdeutschen.

Man erlebte tagtäglich neue historische Ereignisse, und damit wurde die Nazizeit Historie. Von 1990 an definierte sich Deutschland zunehmend nicht mehr als das Land, dessen Namen die Nazis geschändet hatten, sondern als das Land der friedlichen Revolution im Osten und der Solidarität mit den Ostdeutschen im Westen.

Und es war eben nicht nur eine Frage der Selbstdefinition, sondern auch der Mentalität; des Nationalcharakters also. Fast nichts von dem, was einmal als "typisch deutsch" gegolten hatte, ist geblieben - der Untertanengeist, der Kadavergehorsam, die Zackigkeit, die rigide Ordnungsliebe.

Aus einem Volk, das Europa mit Krieg überzogen hat (siehe die Titelgeschichte des aktuellen "Spiegel" 35/2009), ist eines geworden, das alles Militärische scheut wie der Teufel das Weihwasser. Noch nicht einmal das Eiserne Kreuz darf den Soldaten verliehen werden, die in Afghanistan tapfer gekämpft haben. Verschämt wurde ein "Ehrenkreuz" eingeführt. Wenn heute deutsche Offiziere im TV auftreten, dann erinnert nichts mehr an den zackigen, hackenknallenden Typus des "preußischen Leutnants", den einst Heinrich Mann karikiert hat.



Ja, aber kann das denn sein, daß ein Volk seinen Nationalcharakter innerhalb von drei, vier Generationen so radikal ändert? Es kann nicht nur sein, es ist nachgerade die Regel.

Ein Nationalcharakter bestimmt sich weniger durch Eigenschaften als durch Dimensionen, zwischen deren Polen sich eine Nation bewegt. Die Franzosen sind manchmal staatsfromm und manchmal revolutionär; die Briten bewegen sich zwischen viktorianisch- sittsam und renaissancehaft- ausschweifend. Die Russen pendeln zwischen sentimentaler Sanftheit und eisernem Durchsetzungswillen.

Die entsprechende Grunddimension des deutschen Nationalcharakters scheint mir durch die Pole "freundliche Sensibilität" und "Fanatismus bis zum Letzten" bestimmt zu sein. Perioden der Sensibilität waren zum Beispiel die Romantik und das Biedermeier, teilweise die Zwanziger Jahre und die Zeit seit 1950. Der Fanatismus, der sich unter den Nazis voll Bahn brach, hatte sich schon in der Wilhelminischen Zeit, in gewisser Weise auch bereits während der Freiheitskriege angedeutet, und er erlebte seinen letzten Ausbruch während der Zeit der Achtundsechziger und in dem Jahrzehnt danach.

Jetzt leben wir in einer Zeit, die - Rüdiger Safranski hat in seinem schönen Buch darauf aufmerksam gemacht - manche Ähnlichkeiten mit der Romantik hat. Was ja nicht das Schlimmste ist.



© Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Titelvignette: Raimond Spekking / Wikipedia. Frei unter Creative Commons Attribution ShareAlike 3.0 Licence (Ausschnitt).