Was früher einmal in Deutschland als Rauke gegessen wurde und dann in Vergessenheit geriet, hat unter seinem italienischen Namen Rucola in letzter Zeit eine Renaissance erlebt: Jene leicht bitterlich schmeckende Salatpflanze, die man selten pur ißt, die aber einer Salatmischung, vielleicht auch eimal einer Pasta oder einem Risotto, eine kräftige Note verleiht.
Als sich das herumgesprochen hatte und die Nachfrage nach Rucola drastisch stieg, begannen sich Bauern in bestimmten Regionen - vor allem in Rheinland- Pfalz - auf den Anbau von Rucola zu spezialisieren. Viele dieser Bauern stehen jetzt, wie man gestern in der "Welt" lesen konnte, vor dem wirtschaftlichen Ruin.
Was ist passiert? Hat sich Rucola etwa als krebserregend erwiesen? Hat eine Umweltorganisation zum Boykott des Salats aufgerufen, weil er nicht ökologisch korrekt sei?
Sie wissen es: Nichts von alledem. Sondern in einer der Packungen mit Salatmischungen, wie sie in jedem Supermarkt verkauft werden, haben sich Blätter des giftigen Jakobs- Kreuzkrauts gefunden, das der Rucolapflanze ähnlich sieht.
Und nun kaufen die Deutschen kein Rucola mehr. In keiner anderen Packung ist etwas Giftiges gefunden worden. Niemand ist zu Schaden gekommen. Aber mit dem Konsum von Rucola ist es aus, jedenfalls vorerst. Und "die Bauern sind am Ende", wie ein Verantwortlicher aus Rheinland- Pfalz sagte.
Ja, spinnen sie denn, die Deutschen? Spinnen sie genauso wie jene Lottospieler, die in Scharen nach Italien aufbrechen, um einen Gewinn einzustreichen, den zu ergattern mit einer Wahrscheinlichkeit von 1 : 622 Millionen verbunden ist?
Stellen Sie sich eine lange, eine sehr lange Autobahn vor, sechs Millionen Kilometer lang; die also 150 mal rund um die Erde führt, die Trasse immer ein wenig versetzt. Im Abstand von 10 Metern sind an dieser Autobahn Markierungen angebracht. Bei einer dieser Markierungen ist ein Schatz unsichtbar versteckt.
Sie haben die Aufgabe, diese sehr lange Autobahn entlang zu fahren und irgendwo auf der Strecke, die 150 mal um die Erde führt, anzuhalten; wo immer sie mögen. Vielleicht schon an einer beliebigen Stelle nach zwei Erdumrundungen; vielleicht auch erst irgendwo bei der einhundertzwölften Umrundung. Wenn die Markierung, die Ihrem Haltepunkt am nächsten liegt, diejenige mit dem versteckten Schatz ist, dann bekommen sie diesen.
Die Wahrscheinlichkeit, daß Sie diesen Punkt zufällig treffen, auf Ihrer Fahrt 150 mal um die Erde, ist ungefähr so groß wie die Wahrscheinlichkeit, den italienischen Jackpot zu knacken.
Die Wahrscheinlichkeit, in einem im Supermarkt erworbenen Mischsalat das giftige Jakobs- Kreuzkraut anzutreffen, mag um einige Größenordnungen höher sein. Vielleicht führt die Autobahn nur einmal um die Erde, oder nur von Los Angeles zum Kap Horn.
Also sind wir verrückt, wenn wir uns so verhalten wie in diesen beiden Fällen? In gewisser Weise schon. Aber es ist sozusagen der alltägliche Wahnsinn.
Denn das, was hier in besondes grotesken Formen hervortritt, ist ein Phänomen, dem wir tagtäglich begegnen und das auch der Aufmerksamkeit der Psychologen nicht entgangen ist: Wir Menschen sind notorisch schlecht darin, mit Wahrscheinlichkeiten umzugehen.
Wir denken im Alltag überhaupt selten logisch oder gar mathematisch korrekt; aber irgendwie scheint uns das nicht sehr zu schaden. Ein ganzer Zweig der Kognitionspsychologie befaßt sich mit solchen Fällen von Cognitive Bias; ich möchte das mit "kognitiven Schieflagen" übersetzen. Einer der Väter dieser Forschung war - zusammen mit Amos Tversky - Daniel Kahneman, der, obwohl Psychologe, 2002 den Nobelpreis in Ökonomie zuerkannt erhielt (siehe Titelvignette).
Ein Grundgedanke Kahnemans war, daß wir in einer Welt leben, in der wir oft nicht alle Informationen haben, die wir eigentlich für die rationale Beurteilung einer Sachlage brauchten. Wir behelfen uns mit "Heuristiken", mit Faustregeln, mit denen wir oft gut zurecht kommen, die aber auch krasse Fehlbeurteilungen produzieren können.
Eine solche Heuristik ist die Representativeness Heuristic; die Heuristik der Repräsentativität: Wir entscheiden danach, wie gut die Information, die wir haben, mit einer bestimmten Hypothese übereinstimmt (für sie repräsentativ ist) und berücksichtigen zu wenig, wie wahrscheinlich es überhaupt von vornherein ist, daß die Hypothese zutrifft.
Wenn eine Giftpflanze im Rauke- Mischsalat gefunden wurde, dann sehen wir diesen Salat als gefährlich an. Wir berücksichtigen dabei nicht, daß dies ein Einzelfall war; daß also die Wahrscheinlichkeit, daß so etwas passiert, von vornherein gering ist.
Denn jahrzehntelang haben wir ja Rucola gegessen, ohne daß jemals jemand vergiftet wurde. Wenn nun eine giftige Pflanze in einer einzigen Packung gefunden wurde, dann erhöht dies die objektive Wahrscheinlichkeit, daß etwas passieren könnte, nur minimal. Unsere subjektive Wahrscheinlichkeit aber schnellt nach oben.
Verwandt damit ist eine weitere Heuristik, die Availability Heuristic; frei übersetzt: die Heuristik des Sich- Anbietens. Wir halten solche Informationen für besonders repräsentativ, die sich uns anbieten, sich vielleicht aufdrängen. Beispielsweise in den Medien. Je öfter, je dramatischer über einen Sachverhalt berichtet wird, für umso wichtiger und für umso wahrscheinlicher halten wir ihn.
Über Flugzeugunglücke wird zum Beispiel stets ausgiebig berichtet; über Autounfälle nur dann, wenn sie spektakulär sind. Also überschätzen viele Menschen die Wahrscheinlichkeit, bei einem Flugzeugabsturz ums Leben zu kommen, und unterschätzen die Wahrscheinlichkeit, daß man einem Autounfall zum Opfer fällt. Über das giftige Unkraut im Salat wurde ausgiebig berichtet; und zwar erst kürzlich. Diese Information drängte sich also auf. Das führte dazu, daß viele Verbraucher diesen Fall für repräsentativ halten; daß sie die Wahrscheinlichkeit, sich zu vergiften, überschätzen.
Sind wir also solchen kognitiven Schieflagen hilflos ausgeliefert? Keineswegs.
Sie spielen vor allem dann eine Rolle, wenn wir spontan entscheiden; gewissermaßen aus dem Bauch heraus. Wenn wir die Sache durchdenken und sie uns vergegenwärtigen - uns zum Beispiel eine Autobahn vorstellen, die 150 mal um die Erde führt oder uns klarmachen, daß bisher nur ein einziges Mal Giftiges in einem Mischsalat gefunden wurde -, dann können wir durchaus zu rationaleren Entscheidungen gelangen.
Also, entscheiden Sie rational! Kaufen Sie Rucola! Es wird Ihnen nicht schaden, und es hilft den Bauern, deren Existenz bedroht ist.
Als sich das herumgesprochen hatte und die Nachfrage nach Rucola drastisch stieg, begannen sich Bauern in bestimmten Regionen - vor allem in Rheinland- Pfalz - auf den Anbau von Rucola zu spezialisieren. Viele dieser Bauern stehen jetzt, wie man gestern in der "Welt" lesen konnte, vor dem wirtschaftlichen Ruin.
Was ist passiert? Hat sich Rucola etwa als krebserregend erwiesen? Hat eine Umweltorganisation zum Boykott des Salats aufgerufen, weil er nicht ökologisch korrekt sei?
Sie wissen es: Nichts von alledem. Sondern in einer der Packungen mit Salatmischungen, wie sie in jedem Supermarkt verkauft werden, haben sich Blätter des giftigen Jakobs- Kreuzkrauts gefunden, das der Rucolapflanze ähnlich sieht.
Und nun kaufen die Deutschen kein Rucola mehr. In keiner anderen Packung ist etwas Giftiges gefunden worden. Niemand ist zu Schaden gekommen. Aber mit dem Konsum von Rucola ist es aus, jedenfalls vorerst. Und "die Bauern sind am Ende", wie ein Verantwortlicher aus Rheinland- Pfalz sagte.
Ja, spinnen sie denn, die Deutschen? Spinnen sie genauso wie jene Lottospieler, die in Scharen nach Italien aufbrechen, um einen Gewinn einzustreichen, den zu ergattern mit einer Wahrscheinlichkeit von 1 : 622 Millionen verbunden ist?
Stellen Sie sich eine lange, eine sehr lange Autobahn vor, sechs Millionen Kilometer lang; die also 150 mal rund um die Erde führt, die Trasse immer ein wenig versetzt. Im Abstand von 10 Metern sind an dieser Autobahn Markierungen angebracht. Bei einer dieser Markierungen ist ein Schatz unsichtbar versteckt.
Sie haben die Aufgabe, diese sehr lange Autobahn entlang zu fahren und irgendwo auf der Strecke, die 150 mal um die Erde führt, anzuhalten; wo immer sie mögen. Vielleicht schon an einer beliebigen Stelle nach zwei Erdumrundungen; vielleicht auch erst irgendwo bei der einhundertzwölften Umrundung. Wenn die Markierung, die Ihrem Haltepunkt am nächsten liegt, diejenige mit dem versteckten Schatz ist, dann bekommen sie diesen.
Die Wahrscheinlichkeit, daß Sie diesen Punkt zufällig treffen, auf Ihrer Fahrt 150 mal um die Erde, ist ungefähr so groß wie die Wahrscheinlichkeit, den italienischen Jackpot zu knacken.
Die Wahrscheinlichkeit, in einem im Supermarkt erworbenen Mischsalat das giftige Jakobs- Kreuzkraut anzutreffen, mag um einige Größenordnungen höher sein. Vielleicht führt die Autobahn nur einmal um die Erde, oder nur von Los Angeles zum Kap Horn.
Also sind wir verrückt, wenn wir uns so verhalten wie in diesen beiden Fällen? In gewisser Weise schon. Aber es ist sozusagen der alltägliche Wahnsinn.
Denn das, was hier in besondes grotesken Formen hervortritt, ist ein Phänomen, dem wir tagtäglich begegnen und das auch der Aufmerksamkeit der Psychologen nicht entgangen ist: Wir Menschen sind notorisch schlecht darin, mit Wahrscheinlichkeiten umzugehen.
Wir denken im Alltag überhaupt selten logisch oder gar mathematisch korrekt; aber irgendwie scheint uns das nicht sehr zu schaden. Ein ganzer Zweig der Kognitionspsychologie befaßt sich mit solchen Fällen von Cognitive Bias; ich möchte das mit "kognitiven Schieflagen" übersetzen. Einer der Väter dieser Forschung war - zusammen mit Amos Tversky - Daniel Kahneman, der, obwohl Psychologe, 2002 den Nobelpreis in Ökonomie zuerkannt erhielt (siehe Titelvignette).
Ein Grundgedanke Kahnemans war, daß wir in einer Welt leben, in der wir oft nicht alle Informationen haben, die wir eigentlich für die rationale Beurteilung einer Sachlage brauchten. Wir behelfen uns mit "Heuristiken", mit Faustregeln, mit denen wir oft gut zurecht kommen, die aber auch krasse Fehlbeurteilungen produzieren können.
Eine solche Heuristik ist die Representativeness Heuristic; die Heuristik der Repräsentativität: Wir entscheiden danach, wie gut die Information, die wir haben, mit einer bestimmten Hypothese übereinstimmt (für sie repräsentativ ist) und berücksichtigen zu wenig, wie wahrscheinlich es überhaupt von vornherein ist, daß die Hypothese zutrifft.
Wenn eine Giftpflanze im Rauke- Mischsalat gefunden wurde, dann sehen wir diesen Salat als gefährlich an. Wir berücksichtigen dabei nicht, daß dies ein Einzelfall war; daß also die Wahrscheinlichkeit, daß so etwas passiert, von vornherein gering ist.
Denn jahrzehntelang haben wir ja Rucola gegessen, ohne daß jemals jemand vergiftet wurde. Wenn nun eine giftige Pflanze in einer einzigen Packung gefunden wurde, dann erhöht dies die objektive Wahrscheinlichkeit, daß etwas passieren könnte, nur minimal. Unsere subjektive Wahrscheinlichkeit aber schnellt nach oben.
Verwandt damit ist eine weitere Heuristik, die Availability Heuristic; frei übersetzt: die Heuristik des Sich- Anbietens. Wir halten solche Informationen für besonders repräsentativ, die sich uns anbieten, sich vielleicht aufdrängen. Beispielsweise in den Medien. Je öfter, je dramatischer über einen Sachverhalt berichtet wird, für umso wichtiger und für umso wahrscheinlicher halten wir ihn.
Über Flugzeugunglücke wird zum Beispiel stets ausgiebig berichtet; über Autounfälle nur dann, wenn sie spektakulär sind. Also überschätzen viele Menschen die Wahrscheinlichkeit, bei einem Flugzeugabsturz ums Leben zu kommen, und unterschätzen die Wahrscheinlichkeit, daß man einem Autounfall zum Opfer fällt. Über das giftige Unkraut im Salat wurde ausgiebig berichtet; und zwar erst kürzlich. Diese Information drängte sich also auf. Das führte dazu, daß viele Verbraucher diesen Fall für repräsentativ halten; daß sie die Wahrscheinlichkeit, sich zu vergiften, überschätzen.
Sind wir also solchen kognitiven Schieflagen hilflos ausgeliefert? Keineswegs.
Sie spielen vor allem dann eine Rolle, wenn wir spontan entscheiden; gewissermaßen aus dem Bauch heraus. Wenn wir die Sache durchdenken und sie uns vergegenwärtigen - uns zum Beispiel eine Autobahn vorstellen, die 150 mal um die Erde führt oder uns klarmachen, daß bisher nur ein einziges Mal Giftiges in einem Mischsalat gefunden wurde -, dann können wir durchaus zu rationaleren Entscheidungen gelangen.
Also, entscheiden Sie rational! Kaufen Sie Rucola! Es wird Ihnen nicht schaden, und es hilft den Bauern, deren Existenz bedroht ist.
© Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Titelvignette: Daniel Kahneman. Als Werk der Bundesregierung der Vereinigten Staaten unter den Bedingungen von Titel 17, Kapitel 1, Abschnitt 105 des US Code freigegeben.