25. Juli 2011

Propaganda der Tat. Die mörderische Logik des Terrorismus, von der RAF über die Kaida bis zu Behring Breivik

Ist der Massenmörder von Oslo und Utøya, Anders Behring Breivik, ein Wahnsinniger? In einem weiten Sinn des Wort sicherlich. Wer kaltblütig Dutzende von jungen Menschen ermordet, mit der eisernen Erbarmungslosigkeit, mit der dieser Täter das getan hat, der ist nicht normal.

Er könnte an einer paranoiden Schizophrenie leiden; wofür es, soweit bisher bekannt, aber keine Anzeichen gibt. Wahrscheinlicher ist, daß es sich um einen gefühlskalten und sadistischen Psychopathen handelt, der von der Allmachtsphantasie besessen ist, er sei als Retter Europas auserkoren.

Ein Psychopath wie Hitler, wie Stalin, wie Mao. Ein Mensch mit einer narzißtischen Eitelkeit, wie sie bei solchen Psychopathen nicht selten ist; siehe die obige Titelvignette und andere Fotos, die er ins Internet gestellt hat.

Die erste, die natürliche Reaktion auf diese Tat kann nach meinem Dafürhalten nur das Entsetzen darüber sein, wozu ein Mensch fähig ist. Aus dem Bericht von Michael Schwirtz in der New York Times:
"He was standing just by the water, using his rifle, just taking his time, aiming and shooting," Ms. Andreassen said. "It was a slaughter of young children."

For more than an hour, the gunman stalked the forests and steep, rocky shores of the island. There were no bridges to provide escape. Time was on his side.

The young people desperately silenced their cellphones and stripped off colorful clothing. But the shooter was methodical. After killing several people on one part of the island, he went to the other, and, dressed in his police uniform, calmly convinced the children huddled there that he meant to save them. When they emerged into the open, he fired again and again.

"He shot a boy in the back," said Stine Renate Haaheim, 27, a member of Parliament who was also among those hiding. "I saw that some people were falling, and we turned around and ran. At that point I didn’t look back."

"Er stand direkt am Strand und benutzte sein Gewehr. Er ließ sich Zeit, zielte und schoß", sagte [Helen] Andreassen [eine Überlebende; Zettel]. "Es war das Abschlachten von Kindern".

Mehr als eine Stunde lang pirschte der Bewaffnete durch die Waldgebiete und die steilen, felsigen Strandabschnitte der Insel. Es gab keine Brücken zum Entkommen. Die Zeit spielte für ihn.

Die jungen Menschen stellten in ihrer Verzweiflung ihre Handys ab und entledigten sich farbiger Kleidungsstücke. Aber der Killer ging methodisch vor. Nachdem er etliche Menschen auf der einen Seite der Insel ermordet hatte, ging er zur anderen und überzeugte, in seine Polizeiuniform gekleidet, in ruhiger Art die Kinder davon, daß er sie zu retten beabsichtigte. Als sie hervorkamen, schoß er wieder und wieder.

"Er schoß einen Jungen in den Rücken" sagte Stine Renate Haaheim, 27, eine Abgeordnete, die auch zu denen gehört, die sich versteckten. "Ich sah, wie einige Leute niederstürzten, und wir drehten uns um und rannten. Da habe ich nicht mehr zurückgeblickt".
Der Mörder wollte sichergehen, daß keines seiner Opfer noch zuckte:
Witnesses told Norwegian news agencies that the shooter sprayed bullets into piles of dead bodies, apparently seeking those that were hiding among them. (...) "He seemed he was enjoying it" Magnus Stenseth, a youth leader, told the Norwegian newspaper VG. "He walked around the island as if he had absolute power."

Zeugen sagten gegenüber norwegischen Nachrichtenagenturen, daß der Schütze Kugeln in Haufen von Leichen feuerte, offenbar, um jene zu treffen, die sich unter ihnen verbargen. (...) "Es scheint, daß er Spaß daran hatte", sagte Magnus Stenseth, ein Jugendfunktionär, gegenüber der norwegischen Zeitung VG. "Er ging auf der Insel herum, als hätte er absolute Macht".
Die er ja in der Tat hatte. Es gab auf der Insel keinen Polizeischutz. Offenbar hatte keiner derer, die Opfer wurden, die Ausbildung und die Entschlossenheit, sich gemeinsam mit Hunderten erfolgreich gegen einen bewaffneten Einzeltäter zu wehren. Das Böse hatte leichtes Spiel.



Ja, das Böse. Ich benutze solche Kategorien selten. Aber derartige Taten werfen ein Schlaglicht auf das Böse im Menschen; auf das Teuflische, zu dem Menschen fähig sind.

Man kann das meines Erachtens nicht ausschließlich politisch fassen, sondern letztlich nur anthropologisch. Es ist wie bei den KZ-Mördern. Vieles mag man politisch erklären können; aber am Ende bleibt die Frage, wie ein Mensch so unmenschlich sein kann. Da ist etwas aus dem Ruder gelaufen in der Evolution des Menschen.

Unmenschlichkeit ist ja nun aber nichts Irrationales. Im Gegenteil: Dieser vermutliche Psychopath Anders Behring Breivik ist ja offenbar ein völlig rationaler Mensch.

Sein Kalkül ist dasjenige der "Propaganda der Tat"; so haben es einst die Anarchisten genannt. Es ist ein rationales Kalkül:
  • Taten wecken Aufmerksamkeit. Je größer das Verbrechen, umso größer diese Aufmerksamkeit. Menschen werden veranlaßt, die Schriften der Täter zu lesen, sich mit ihren vorgeblichen Argumenten zu befasssen.

    Der Mörder in Norwegen hat ein Pamphlet verfaßt, das unbeachtet geblieben wäre, wenn er nicht diese Morde begangen hätte. Jetzt wird es weltweit gelesen und diskutiert. Aus seiner Sicht - der eines skrupellosen Verbrechers - hat er sein Ziel erreicht.

    Nicht anders war es bei der Baader-Meinhof-Bande und ist es bei der Kaida: Das Verbrechen erzwingt Aufmerksamkeit. Und immer wird es genug Menschen geben, die finden: So unrecht haben sie eigentlich nicht, diese Leute. Man billigt möglicherweise ihre Taten nicht; aber mit ihren Texten haben sie Aufmerksamkeit gefunden. Die Propaganda der Tat funktioniert; sie ist politisch rational.

  • Ein zweiter, nicht minder wichtiger Faktor ist die Beeinflussung des politischen Spektrums. Politische Verbrecher sind ausnahmslos Extremisten; Menschen, die mit ihren Auffassungen am äußersten Rand stehen. Indem sie durch ihre Propaganda der Tat ihre extremistischen Auffassungen bekannt machen, verschieben sie das politische Spektrum.

    Die Psychologen nennen das einen Ankereffekt. In der Bundesrepublik waren bis zum Auftreten der Baader-Meinhof-Bande die Kommunisten die extreme Linke. Nun gab es eine noch viel extremere Strömung. Die Kommunisten rückten in der allgemeinen Wahrnehmung ein wenig in Richtung Mitte.

    Extremisten sind selten mehrheitsfähig. Aber darum geht es ihnen auch gar nicht. Sie beeinflussen das gesamte politische Bezugssystem; eben durch einen Ankereffekt.

    Es wurde seit der Tat oft geschrieben, daß dieser norwegische Massenmörder der Sache eines selbstbewußter agierenden Europa geschadet hätte (meist wird es drastischer formuliert). Ich sehe das überhaupt nicht. Er hat sein Thema gesetzt. Er hat einen Ankereffekt erzeugt. Er dürfte sich in seiner Zelle über seinen vollständigen Erfolg freuen.

  • Man kann das alles an der Wirkungsgeschichte der Baader-Meinhof-Bande, der sogenannten RAF, sehen.

    Ihr ursprünglicher Plan war es gewesen, in Deutschland einen blutigen Bürgerkrieg zu entfachen, an dessen Ende die Diktatur des Proletariats stehen sollte (siehe Marginalie: Was waren die Ziele der RAF?; ZR vom 24. 11. 2008). Der Staat sollte zu Gegenmaßnahmen gegen die Anschläge der Terroristen gezwungen werden, die diesen - das war die Strategie - immer weitere Anhänger zutreiben würden.

    Das ist gescheitert. Aber die RAF-Mörder haben dennoch das politische Spektrum in der Bundesrepublik nachhaltig beeinflußt. Kaum ein demokratischer Rechtsstaat ist heute so sehr nach links gerückt wie Deutschland. Die Überlebenden der RAF dürfen sich daran einen wesentlichen Anteil gutschreiben.



  • Crime does pay, wenn es um Politik geht. Ich habe das kürzlich in einem harmloseren - einem unvergleichlich harmloseren - Kontext diskutiert (Verbrechen zahlt sich nicht aus? Ökoterrorismus schon. Die Täter werden dreister; ZR vom 20. 7. 2011).

    Wie kann man das Kalkül von Politkriminellen wie Anders Behring Breivik durchkreuzen? Meines Erachtens nur, indem man eben gerade nicht ihre Themen, ihre "Schriften" diskutiert, nach dem Motto: Ja, so falsch ist das doch gar nicht.

    Man mag das diskutieren, wann immer man will - den Islam, die europäische Kultur, die Bewahrung unserer Freiheit. Aber nicht jetzt, wo ein Massenmörder uns diese Diskussion aufzwingen will.
    Zettel



    © Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Titelvignette in der Public Domain.