4. Juli 2011

Zitat des Tages: "Rückzug aus den Realitäten des modernen Europa". Berlin, die passende Hauptstadt unserer Aussteigernation

Es geht nicht um den Ton der Stadt, so grob wie er ist, sondern um den Rückzug aus den Realitäten des modernen Europa, dieses gewollte Unvermögen, sich den Begleiterscheinungen einer beschleunigenden Welt zu stellen oder mit ihnen gar in Einklang zu kommen.
Roger Boyes, der 15 Jahre Berliner Korrespondent der Londoner "Times" war, in seinem Abschiedsartikel im "Tagesspiegel" über die Stadt Berlin.

Kommentar: Der Berliner Bekannte, der mir dieses Zitat geschickt hat, kommentiert treffend: "Wenn das, was Boyes über Berlin schreibt, nicht auch für die Berliner Republik als Ganzes gilt!"

In der Tat. Als der Bundestag und die Regierung nach der Wiedervereinigung von Bonn nach Berlin umzogen, da war das mit der Erwartung verbunden gewesen, daß mit dem Haupstadtwechsel auch ein Tempowechsel, ein Wechsel des Stils einhergehen würde: Weg von dem verschlafenen Städtchen hinter den sieben Bergen, der "kleinen Residenz am Rhein" mit ihrer provinziellen Langsamkeit. Hinein in eine pulsierende Großstadt, deren Dynamik die Bundesrepublik beflügeln würde. So dachte man es sich damals, 1991 (siehe Zwanzig Jahre "Hauptstadtbeschluß"; ZR vom 18. 6. 2011).

Aber Berlin beflügelt nicht. Es hat ganz und gar nicht die Dynamik, die einmal das Berlin der Zwanziger Jahre kennzeichnete. Boyes erinnert an Döblins Roman "Berlin Alexanderplatz":
Es war einmal eine Zeit, da war Berlin Europas Avantgarde. Franz Biberkopf in Döblins "Berlin Alexanderplatz" bewegt sich ständig hin und her zwischen dem Chaos der Stadt und der wahren Sinnkrise, für die die Stadt steht. Berlin hatte immer Probleme, nicht immer waren sie selbst verursacht, aber nie hat die Stadt sie überwunden, indem sie still stand.

Ganz wörtlich war Berlin die Stadt der Beschleunigung. Die Avus, 1921 mit Hilfe privaten Geldes fertiggestellt und weltweit die erste Straße ausschließlich für Autos, war technisch herausragend. Obwohl sich Berlin heute mit weniger Verkehr herumschlagen muss als irgendeine andere europäische Metropole, ist die Stadt gelähmt durch sinnlose Staus. Ein Verkehrskonzept, das sich damit auseinandersetzt, ist nicht zu erkennen.
Das stimmt nicht ganz. Es gibt schon ein Konzept, und es besteht darin, den Verkehr nicht etwa zu erleichtern, sondern ihn zu behindern. Sollte Renate Künast die nächste Regierende werden, dann wird sie dies, das Behindern, in Gestalt eines flächendeckenden Tempos 30 betreiben. Aber bereits die jetzige sozialdemokratisch-kommunistische Regierung hat dem Berliner Verkehr nach Kräften im Wortsinn Steine in den Weg gelegt (siehe Deutschland im Öko-Würgegriff (24): In Berlin pulsiert demnächst das Leben mit Tempo 30; ZR vom 24. 11. 2011).

Und wie die Stadt, so das Land.

Berlin ist gewiß eine in mancher Hinsicht liebenswerte Stadt; so beschreibt sie auch der Abschied nehmende Roger Boyes. Aber sie hat den Charme, sagen wir, des vertrottelt-vergreisten Wiens der letzten Jahre der Donaumonarchie. Nichts von der heutigen Vitalität von Städten wie Paris, London oder New York; von Shanghai und Rio de Janeiro ganz zu schweigen.

So ist unser Land. Das Wien der Endzeit "Kakaniens", das Robert Musil beschrieb, war vergreist nur in dem Sinn, daß diese Donaumonarchie sich überlebt hatte; daß sie erstarrt war. Das heutige Deutschland ist das auch; aber zudem noch in einem ganz konkreten, biologischen Sinn auf dem Weg in die Vergreisung.

Ein Land, das sich zunehmend der modernen Welt verweigert. Ein Land, dessen Bewohner sich derzeit in dem kollektiven Ziel vereinen, etwas nicht zu wollen, nämlich die friedliche Nutzung der Atomenergie. Ein Land, das nicht von Hoffnung und Vertrauen auf sich selbst motiviert wird, sondern von der doppelten Angst, man könne zum Opfer einer Klima- und gleich auch noch einer atomaren Katastrophe werden.

Also weg, also raus. Flucht statt Zuversicht; Jammern statt Risikobereitschaft. Aussteigen.

"Aussteiger", das war in den Siebziger Jahren ein Wort für Hippies und ihre Nachahmer, die ihren Beruf im Stich ließen, um irgendwo eine Landkommune zu gründen oder sich dem meditativen Leben hinzugeben. Gibt es eine bessere Kennzeichnung der heutigen mentalen Befindlichkeit Deutschlands, als daß wir uns nun kollektiv als eine "Aussteigernation" definieren? (siehe "Was dann?" - Aussteigernation Deutschland. Gebt Raum, ihr Völker, unsrem Schritt; ZR vom 28. 5. 2011).

Solch eine Nation hat die Hauptstadt, die sie verdient. Noch einmal Boyes:
Die Stadt hat es zugelassen, dass sie unter einer Folge von mittelmäßigen Politikern, an deren Spitze Klaus Wowereit zu nennen ist, zu einer zweitklassigen Hauptstadt wurde. (...) Was die Probleme Berlins betrifft, müsse eben der Bund mehr zahlen, sagt Wowereit: "Da könnte es noch mehr Unterstützung geben." So spricht kein Politiker, der eine Vision hat. (...)

Es wäre zu billig und auch absurd, für Berlins Narkolepsie, für diese Schlafkrankheit, die die Stadt befallen hat, allein die politische Klasse verantwortlich zu machen. Wir alle kennen die tiefen kulturellen Wurzeln dieser Stasis. Einer Stadt, die mit Subventionen vollgepumpt wurde wie ein Ringer mit Steroiden, fällt es natürlich schwer, geradeaus zu laufen oder geradeaus zu denken. Kein Wunder, dass man hier Größe mit Kraft verwechselt.
Eine präzise Kennzeichnung nicht nur der Hauptstadt, sondern des Landes Deutschland im Jahr 2011.
Zettel



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