15. Juli 2011

Marginalie: Ein aus der Sicherungsverwahrung entlassener Täter hat sich an einem siebenjährigen Kind vergangen. Dazu einige Zitate und Überlegungen

Die Tat geschah im Januar, aber erst jetzt konnte der Täter durch eine DNA-Analyse überführt werden. Aus dem Bericht, der seit gestern in "Welt-Online" steht:
Ein aus der Sicherungsverwahrung entlassener Mann hat in Dortmund ein sieben Jahre altes Mädchen sexuell missbraucht. Wie die Polizei am Donnerstag mitteilte, hatte der 51-Jährige bereits am 26. Januar das Kind auf dem Heimweg von der Schule angesprochen. Dann lockte er die Siebenjährige in eine Tiefgarage und verging sich dort an ihr. Da das Mädchen den Mann nicht verlässlich beschreiben konnte, wurde er erst jetzt aufgrund eines DNA-Treffers ermittelt und festgenommen.

Der Mann ist als Sexualstraftäter einschlägig vorbestraft und wegen eines Urteils des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte aus der Sicherheitsverwahrung entlassen worden.
Was denken Sie, wenn Sie so etwas lesen? Möglicherweise das, was mir als erstes durch den Kopf ging:

Welch ein Wahnwitz, die Rechte eines verurteilten Straftäters höher zu stellen als das Lebensglück eines unschuldigen Menschen. Man hat diesen Täter freigelassen, weil die über ihn verhängte Sicherungsverwahrung nach Auffassung dieses Straßburger Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) nicht mit den Menschenrechten vereinbar gewesen war. Aber nun hat er das Menschenrecht dieses Mädchens auf ein glückliches Leben wahrscheinlich zerstört.

Welche eine absurde Güterabwägung!

Das, wie gesagt, war meine erste Reaktion. Mir fiel dann allerlei ein: Daß es inzwischen ja auch ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) zu dieser Frage gibt; daß der Bundestag an einer gesetzlichen Neuregelung arbeitet; daß es nicht um die Sicherungsverwahrung als solche geht, sondern nur um Fälle, in denen jemand über die ursprünglich vom Gericht verhängte Dauer der Sicherungsverwahrung hinaus festgehalten wird, weil seine Prognose noch immer ungünstig ist.

Und es fiel mir ein, daß ich vor ein paar Tagen dazu nachts im TV eine sehr interessante Sendung gesehen hatte, nämlich ein Gespräch mit dem Leiter der Justizvollzugsanstalt Freiburg, in der sich fast alle Sicherungsverwahrte des Landes Baden-Württemberg befinden.



Es handelte sich um eine Sendung des Hörfunks von SWR 1, die auch im Fernsehen des SWR ausgestrahlt wird: "Leute night". Das Programm, an das ich mich erinnerte, lief in der Nacht vom 5. auf den 6. Juli, und der Gesprächspartner des Moderators Wolfgang Heim war der Leitende Regierungsdirektor Thomas Rösch, seit 1989 Direktor der Justizvollzugsanstalt Freiburg im Breisgau.

Ich habe mir dieses Programm, das man hier in der Funkversion herunterladen kann, jetzt noch einmal angehört und möchte Ihnen dies auch empfehlen (Dauer: rund eine halbe Stunde). Das Wichtigste können Sie aber auch im Folgenden lesen.

Die Sicherungsverwahrung war nicht das einzige Thema des Gesprächs, aber doch ein zentrales; weil eben die meisten Sicherungsverwahrten des Landes BW in Röschs Anstalt sind.

Ein Bild von dem Anstaltsleiter Rösch gibt Ihnen vielleicht am besten eine Passage gegen Ende des Gesprächs (alle Zitate sind meine wörtliche Transkription der gesprochenen Rede). Dort wurde er gefragt, ob jeder Mensch zum Mörder oder Vergewaltiger werden könne. Zum Totschläger jedenfalls, meint Rösch, und sagt dann:
Der Mensch ist eher ein Raubtier, was man domestizieren muß, wo klare Regeln hermüssen in jeder Gesellschaft, um eben dieses Raubtier zu hindern, über andere herzufallen. (...) Andere zu töten - da ist eben das Raubtier noch in uns drin, und deshalb brauchen wir Rechtsstaat, und ein Teil des Rechtsstaats ist eben letztendlich dann die Strafvollstreckung, der Strafvollzug.
Der Mann ist also kein naiver Romantiker, der vom Guten im Menschen überzeugt ist. Er hatte unter seinen Insassen Schwerverbrecher bis hin zum Mafia-Mörder, der 35 Menschen umgebracht hatte. Aber vielleicht gerade deshalb ist seine Meinung zur Sicherungsverwahrung differenziert.

Warum gibt es die Sicherungsverwahrung eigentlich in einigen Ländern wie Deutschland und der Schweiz, aber nicht anderswo? Rösch:
Es gibt im Prinzip zwei Möglichkeiten, wie man das regeln kann, rückfallgefährdete und gefährliche Menschen nicht freizulassen. Es gibt Staaten, die regeln das mit langen Freiheitsstrafen. Zum Beispiel Spanien, die haben Freiheitsstrafen von dreißig bis vierzig Jahren. Oder zum Beispiel Großbritannien; die haben eine weite Ausweitung der lebenslangen Freiheitsstrafe, also nicht nur für Mörder und so weiter, auch für Raub und für alle Rückfalldelikte. Und es gibt eben das Zweispurensystem, das wir haben, nämlich Strafe und Maßregel. Das haben wir, das hat Frankreich, das hat die Schweiz, das hat Österreich, und das haben noch andere Staaten in Europa. Und da muß man sich entscheiden für eines der beiden Systeme.
Mit anderen Worten: Man kann auf die Sicherungsverwahrung verzichten. Aber man kann nicht darauf verzichen, die Allgemeinheit vor potentiellen Tätern zu schützen, solange diese als gefährlich gelten müssen. Wie man das erreicht, ist eine nachrangige Frage.

Aber nun hat ja der EGMR geurteilt; inzwischen hat auch das BVerfG geurteilt. Wie sieht Rösch das? Zum Straßburger Urteil äußert er sich nicht, aber das Verfassungsgericht habe, sagt er, nicht nur die Rechte des Täters, sondern auch die Sicherheit der Allgemeinheit gesehen
... und eine Klausel in das Urteil hineingeschrieben, daß bei besonderer Tätergefährlichkeit und bei entsprechender psychischer Störung diese Person, also diese Menschen auch weiterhin in Sicherungsverwahrung bleiben können. Also, das ist der Ausweg, der von Karlsruhe gefunden worden ist. Sehr begrenzt, aber kein eindimensionales Urteil, nur auf die Täter gezielt. (...)

Ich bin auch dankbar für dieses Urteil, habe es auch außerordentlich begrüßt. Nicht nur weil ich als Sachverständiger dort war, sondern weil es hilft, die Behandlung dieser besonderen Gruppe wesentlich zu verbessern. Wir werden wesentlich mehr Psychologen, Sozialarbeiter bekommen, wir werden ein eigenes Gebäude beziehen, wir werden dort eine eigene Behandlungsabteilung haben, und wir werden dadurch den einen oder anderen auch erreichen können, den wir bisher nicht erreichen konnten.
Ein interessanter Gesichtspunkt: Da es jetzt juristisch schwieriger ist, jemanden unbegrenzt festzuhalten, gewinnt die Resozialisierung an Dringlichkeit. Wenn man gezwungen ist, ihn freizulassen, dann tut man zuvor alles, um seine Gefährlichkeit wenigstens zu reduzieren. Und dann werden dafür auch Mittel bereitgestellt, die zuvor nicht verfügbar gewesen waren.

Der Moderator fragt dann, ob diese Maßnahmen denn dem Schutz der Allgemeinheit dienten. Rösch:
In der Tat. Also, Resozialisierung ist immer auch ganz praktischer Schutz der Bevölkerung. Wenn ich jemanden resozialisiert habe und der rauskommt und nicht mehr vergewaltigt, dann nützt es jeder nicht betroffenen Frau.
Maßnahmen in der Vollzugsanstalt reichten aber nicht aus, meint Rösch. Entscheidend sei, daß es nach der Haftentlassung "ordentliche Unterbringungsmöglichkeiten" gebe - Einrichtungen, die den Entlassenen wieder mit einem normalen Leben vertraut machen, die ihm helfen, seinen Tagesablauf zu strukturieren und dergleichen.



Mir erschien dieser Leitende Regierungsdirektor Thomas Rösch als ein sehr vernünftiger Mann. Keiner, der sich etwas über die Wirklichkeit vormacht; aber auch kein Betonkopf, der den Schutz der Allgemeinheit allein durch Wegsperren sichern möchte, wie das in den USA oft der Fall ist.

Er ist offenbar mit dem einverstanden, was sich jetzt aus dem Urteil des BVerfG ergeben wird: In schweren Fällen kann noch immer die Sicherungsverwahrung über die vom verurteilenden Gericht festgelegte Zeit hinaus fortgesetzt werden; nach einem entsprechenden erneuten Gerichtsbeschluß. Aber in der Regel muß nach Ablauf dieser Zeit entlassen werden; dann aber sollte das nur geschehen, nachdem alle Möglichkeiten der Resozialisierung vor der Entlassung und der Hilfe und Kontrolle danach genutzt sind.

Das Gespräch wurde geführt, bevor der jetzige Fall aus Dortmund bekannt geworden war. Ich weiß nicht, wie Rösch geantwortet hätte, wenn der Moderator ihn mit diesem Fall konfrontiert hätte. Auf die besondere Situation bei Sexualstraftätern ging das Gespräch nicht ein. Bei ihnen ist eine Therapie außerordentlich schwierig und oft von geringem Nutzen, und die Prognose bleibt immer unsicher. So war es auch jetzt wieder. Aus dem Bericht von "Welt-Online":
Der Mann ist als Sexualstraftäter einschlägig vorbestraft und wegen eines Urteils des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte aus der Sicherheitsverwahrung entlassen worden. Seit September 2010 hatte er in Dortmund gewohnt. Bis Dezember hatte er unter intensiver Überwachung der Polizei gestanden, die dann nach Beschluss der zuständigen "Fallkonferenz" gelockert worden war.
Man hatte offenbar gedacht, er sei nicht mehr so gefährlich. Er hatte offenbar nur gewartet, bis man das denkt.
Zettel



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