21. Juli 2011

Chimerica

Das Verhältnis von Amerika und China ist seit einigen Jahren von immer stärker werdender gegenseitiger ökonomischer Abhängigkeit geprägt. Dabei wird Amerika oft in das Eck des Schuldensünders gestellt. Warum das unfair ist, wie Verschuldung überhaupt entsteht und was uns Hyman Minsky darüber sagen kann. 
Wir betrachten in einem sehr einfachen Modell zwei Wirtschaftssubjekte (zB zwei Staaten), die zum Ausgangszeitpunkt genauso viele Waren herstellen wie sie verbrauchen. Dabei liegt die Aufteilung in Investitions- und Konsumgüter im Gleichgewicht. Die Privaten konsumieren, die Unternehmen produzieren und investieren. Allerdings sind die Präferenzen der Konsumenten unterschiedlich: die einen möchten nicht alles sofort verbrauchen, sondern 10% sparen (etwa "um ihren Kindern etwas zu hinterlassen"). Die anderen möchten dagegen immer alles verbrauchen was sie in die Finger bekommen können. 
Die beiden ergänzen sich, soferne freier Handel möglich ist, hervorragend: das eine Land liefert dem anderen regelmäßig 10% seiner Wirtschaftsleistung und bekommt dafür im Gegenzug Schuldscheine, zB Geld oder Anleihen. Eine mathematische Grenze gibt es für dieses Vorgehen nicht. Das Empfängerland türmt im Zeitablauf zwar immer höhere Schulden auf, sodaß es etwa nach 10 Jahren schon mehr als 100% des BIP in der Kreide steht, aber das ist ja nur eine Zahl. Selbst Zinszahlungen sind problemlos möglich, soferne man das auf die Schuldscheine umlegen kann. So kann die Gesamtverschuldung 100%, 200% oder einen beliebig höheren Wert erreichen. Normalerweise gleicht sich das schnell aus, weil die meisten Menschen die Früchte ihrer Arbeit auch genießen wolllen. Aber wenn der Sparwille ungebrochen ist, solange sich also die Präferenzen nicht ändern, die einen weiter gerne 10% ihres Einkommens nicht verbrauchen wollen, solange kann man Sparen und Verschulden problemlos bis in alle Ewigkeit leben. Und deshalb habe ich mit Absicht das Sparmotiv "um ihren Kindern etwas zu hinterlassen" und nicht "Altersvorsorge" genommen, denn ersteres kann man unendlich weit treiben, da die Erben ihr Vermögen ja wieder weitervererben können, ein Entsparen also nicht zwingend vorgesehen ist.
Und es ist auch grundsätzlich egal, welcher Art der Schuldner ist. Ein überschuldetes Unternehmen (die Schulden übersteigen die Vermögenswerte, was bei Kreditaufnahme zu Konsumationszwecken bald der Fall sein wird) kann zwar Insolvenz beantragen, muß aber nicht. Solange auch kein Gläubiger Problem mit der hohen Verschuldung hat, gibt es auch hier keine mathematische Grenze. Bei Staaten auch nicht, wobei hier noch dazu kommt, daß es bei Verschuldung in eigener Währung auch keine technische Grenze gibt (Fremdwährung müsste dagegen zugekauft werden und das kann schief gehen). 
Man mag sich eine ökonomisch sinnvolle Obergrenze vorstellen können die dort liegt, wo die Zinszahlungen die Wirtschaftsleistung übersteigen. Dann wäre ein Schuldenabbau unmöglich geworden. Das wäre etwa bei einem Zinssatz von 5% 2.000% des BIP. Bei den von etwa Japan so um die 1% gezahlten Zinsen sind es sogar 10.000%, also das hundertfache der Wirtschaftsleistung. Davon sind wir so weit entfernt, daß sich darüber nicht weiter nachdenken lohnt.

Das Beispiel soll auch nur zeigen, wie Verschuldung zwischen zB zwei Staaten sich über Jahre aufbauen kann, beide aber das aus ihrer Sicht richtige tun. In der Praxis trifft das derart prominent auf das Verhältnis von Amerika und China zu, daß das Verhältnis dieser beiden großen Staaten schon als Chimerica bezeichnet wird. Die Amerikaner konsumieren gerne und die Chinesen liefern ihnen die Produkte ebenso gerne. Zumindest ist mir kein Zwangsmittel bekannt, wodurch die Haushalte in China eine außergewöhnlich hohe Sparquote von über 30% haben müssten. Die von der Regierung seit Jahren aufgekauften US-Staatschulden haben sich dann auch auf mittlerweile 1.500 Milliarden Dollar aufgetürmt. Nur ist das nicht eine Folge der "bösen" Amerikaner, die mit ihren Dollar rücksichtlos auf dem Rücken des Restes der Welt Profite machen, sondern es ist bloß eine Folge des Ungleichgewichtes der Konsumpräferenzen. Es zwingt die Chinesen ja keiner, laufend US-Papiere zu kaufen, um den Wert ihrer eigenen Währung niedrig zu halten. Und solange sich das nicht ändert, wird der Schuldenberg auch weiter wachsen. Rein mathematisch gesehen schrankenlos.

Und dabei erweisen die Amerikaner den Chinesen auch noch einen Dienst. Wenn Ersparnisbildung gewünscht ist, dann braucht es jemanden, der sich dafür verschuldet. Ohne den Export würden die Unternehmen in China auf ihren Waren sitzenbleiben und in diesem Wissen ihre Produktion drosseln und entsprechend Arbeitern den Lohn kürzen oder sie gar entlassen. Das wiederum würde den Konsum drücken, was wiederum die Produktion senkt, womit am Ende die Wirtschaft weit unter ihren Möglichkeiten produzieren würde. Amerika (auch Europa nimmt Waren aus China ab) ist hier ein williger Absorber der Überschußproduktion. Nicht ungern, aber eben auch nicht schädlich. Wenn der A dem B ein Geschenk macht, ist dann B ein Sünder, weil er es dankend annimmt?  
Obwohl also rein mathematisch die Schuldenobergrenze (fast) nicht existiert, scheint es trotzdem in der Praxis eine Obergrenze zu geben, ab der die Staatsschulden als "zu hoch" angesehen werden. Eine Art Minsky-Moment der öffentlichen Verschuldung. Nur eine Form davon deswegen, weil in dem einfachen Modell oben von den Privaten nur gespart, aber  nicht investiert wird. Der Minsky-Moment ist definert als der Punkt, wo man erkennt, daß die als sicher geglaubte Renditeerwartungen nicht erfüllt werden und man die Verschuldung mit den Erträgen alleine nicht abbauen kann. In der Finanzkrise 2007 könnte das der Ausfall von 2 Immobilien-Hedge-Fonds von Bear Stearns, die Insolvenz von New Century oder (für Europa) die Schieflage von Northern Rock gewesen sein. An einem Zeitpunkt in dieser Kaskade von Insolvenzen ist den Investoren klar geworden, daß der jahrelang als sicher geglaubte Anstieg der Immobilienpreise zu Ende gegangen ist und seitdem liqudierien sie ihre Bestände und sparen, um die Verschuldung wieder abzubauen.
Aber damit verkennt man den Charakter von Staatsschulden: sie sind in der aktuellen Situation bloß der Spiegel des überbordenden Sparwillens. Sofern in der aktuellen Situation die USA trotzdem anfangen, ihren Konsum einzuschränken, dann wird das vor allem negative Auswirkungen auf China haben. Und auch auf viele andere Länder Asiens, die seit der Krise 1997 alle versuchen, durch Exporte Devisenreserven anzuhäufen. Es sei denn, die Chinesen lernen doch noch, die Früchte ihrer harten Arbeit auch selbst zu genießen, indem sie ihren Sparwahn heilen.      
         
Johann Grabner



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