21. August 2007

Marginalie: Kann man demoskopische Daten manipulieren? Ja gewiß. Aber ...

Eigentlich wollte ich die Quelle für die vom South Park Republican erwähnte Meldung darüber aufsuchen, wie glücklich die Amerikaner sind.

Eine Fundgrube für Umfragen aller Art in den USA ist der Polling Report. Als ich dort nach dieser Harris- Umfrage gesucht habe, bin ich über etwas gestolpert, das zwar nichts mit diesem Thema zu tun hat, das mir aber eine Marginalie wert zu sein scheint.



Studierende der Sozialwissenschaften lernen es im Grundstudium; aber so recht durchgesetzt hat sich die Erkenntnis noch nicht: Die Antworten auf Fragen, die von Demoskopen gestellt werden, hängen auf eine oft drastische Weise von deren genauem Wortlaut ab.

Anders gesagt, man kann - was seriöse Demoskopen nicht tun - die Ergebnisse erheblich manipulieren, indem man die Fragen geschickt formuliert.

Hier ist die Illustration, auf die ich gestoßen bin:

In einer Gallup- Umfrage für CNN/USA Today im Dezember 2003 wurde nach der Haltung zu dem damals aktuellen Thema gefragt, ob die USA wieder zur bemannten Mondfahrt zurückkehren sollten.

Die Frage wurde zwei Gruppen von Befragten in zwei leicht voneinander abweichenden Versionen gestellt.
  • In der ersten Version wurden 510 Personen gefragt: ""Would you favor or oppose a new U.S. space program that would send astronauts to the moon?" Also: "Wären Sie für oder gegen ein neues Raumfahrtprogramm der USA, das Astronauten zum Mond entsenden würde?"

    53 Prozent der Befragten waren dafür, 45 Prozent dagegen, 2 Prozent hatten keine Meinung.

  • In der zweiten Version wurde 494 anderen Personen die Frage in der folgenden Form vorgelegt: "Would you favor or oppose the U.S. government spending billions of dollars to send astronauts to the moon?" - "Wären Sie dafür oder dagegen, daß die Regierung der USA Milliarden Dollar dafür ausgibt, Astronauten zum Mond zu entsenden?"

    Von diesen Befragten waren 31 Prozent für und 67 Prozent gegen ein neues Mondprogramm; 2 Prozent hatten keine Meinung.


  • Jeder weiß, daß ein Progamm, in dem Astronauten zum Mond geschickt werden, Milliarden von Dollars kosten würde. Auch die erste Gruppe von Befragten wußte das. Aber sie wurden durch die Frage sozusagen nicht mit der Nase auf diesen finanziellen Aspekt der Sache gestoßen.

    Die zweite Gruppe wurde das - und statt einer absoluten Mehrheit für ein solches Programm ergab sich jetzt eine Zweidrittel- Mehrheit dagegen.



    Sollte man daraus schließen, daß Umfragen grundsätzlich nicht zu trauen ist?

    Nein, gewiß nicht.

    Man sollte nur erstens sich die Fragestellung immer genau ansehen.

    Und man sollte zweitens, wenn irgend möglich, sich nicht auf die Daten eines einzigen Instituts verlassen, sondern möglichst nach aggregierten Daten suchen oder, wenn es diese nicht fertig gibt, sich selbst ein Bild von den Trends verschaffen, die allen einschlägigen Umfragen gemeinsam sind.

    Wenn man das beachtet, dann kann man der Demoskopie sehr exakte Daten, ja sogar Prognosen entnehmen. Wie kürzlich bei der Wahl des französischen Präsidenten.

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    Zettels Meckerecke: Wie Schlaumeier die Studiengebühren sparen können

    Es gibt Meldungen, die sind so absurd, daß ihre Lektüre bei mir sozusagen reflektorisch den Klick zur Quelle auslöst.

    So ist es mir heute gegangen, als ich in einem Artikel der FAZ unter der Überschrift "Gebühren- Rabatt für Genies" dies gelesen habe:
    In der vergangenen Woche traten die baden- württembergischen Universitäten Freiburg und Konstanz mit dem neusten Coup im Kampf um die Super- Studenten an die Öffentlichkeit. "Alle Studenten, die einen höheren Intelligenzquotienten als 130 besitzen, werden von den Gebühren befreit", lautet ihre Parole. Die Testergebnisse des Hochbegabtenvereins "Mensa" gelten als maßgebend.
    Weil ich nicht glauben mochte, daß deutsche Hochschulen - noch dazu zwei so renommierte wie Freiburg und Konstanz - sich allen Ernstes einen solchen Mumpitz leisten, habe ich nachgesehen.

    Erst bei der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Und siehe, da steht's:
    Von der Gebührenpflicht können auf Antrag befreit werden: (...) Studierende mit einer weit überdurchschnittlichen Begabung (...) Eine weit überdurchschnittliche Begabung wird für Studierende angenommen, die einen IQ von mindestens 130 nachweisen können, der aus einem nicht länger als 3 Monate zurückliegenden IST-70 oder HAWIE-Test resultiert. Auch ein erfolgreicher Test (IQ ab 130) bei Mensa e. V., der nicht länger als 3 Monate zurückliegt genügt als Nachweis. (...)
    Die Konstanzer hüten sich zwar wenigstens, sich auf den HAWIE und den IST-70 (das ist der Intelligenz- Struktur- Test von Amthauer) zu beziehen. Aber auch dort ist in den einschlägigen Bestimmungen von einer Gebühren- Befreiung für Studierende die Rede, "die einen Hochbegabtentest oder ein Hochbegabtenzertifikat vorlegen können".

    Mag sein, daß "Mensa" tatsächlich ein "Hochbegabten- Zertifikat" ausstellt; es gibt ja wenig, was man nicht zertifizieren kann. Deckhengste haben wohl auch solch ein Zertifikat.



    Ich erspare mir den billigen Witz, daß diejenigen, die sich das ausgedacht haben, wohl nicht zum Kreis derjeniger gehören dürften, die einen IQ über 130 nachweisen können.



    Wer Gutachten für Studierende schreibt, die sich an ausländische Universitäten bewerben oder die in die Studienstiftung des deutschen Volkes, das Cusanuswerk, das Evangelisches Studienwerk Villigst, die Hans-Böckler-Stiftung oder dergleichen aufgenommen werden wollen, der bekommt im Allgemeinen von diesen Institutionen Merkblätter, in denen steht, welche Kriterien ihnen wichtig sind.

    Das sind natürlich zum einen die bisherigen Studienleistungen. Sie sind aber in der Regel keineswegs entscheidend.

    Gefragt wird der Gutachter nach der Breite und Ernsthaftigkeit der wissenschaftlichen Interessen der Bewerber; nach ihrer Fähigkeit zum wissenschaftlichen Denken. Gefragt wird, ob nach dem Eindruck des Gutachers sich die Bewerber aus einer intrinsischen Motivation heraus für Wissenschaft interessieren. Ob sie z.B. von sich aus wissenschaftliche Fragen aufwerfen, Lösungswege erarbeiten, sich an selbstgewählten Themen versuchen.

    Es wird auch nach der Bereitschaft zum Engagement gefragt. Es wird manchmal nach den Interessen außerhalb des Studiums gefragt - künstlerischen, philosophischen, vor allem auch sozialen Interessen.



    Daß irgendeine US-Universität oder ein deutsches Föderungswerk nach dem IQ fragen oder ihn gar der Entscheidung über eine Bewerbung zugrundelegen würde, muß jedem als absurd erscheinen, der sich in diesem Bereich ein wenig auskennt.

    Denn es liegt doch auf der Hand, daß ein hoher IQ allenfalls eine notwendige, aber gewiß nicht eine hinreichende Voraussetzung für den Studienerfolg, für eine wissenschaftliche Karriere ist.

    Unter den Kneipiers in den Studentenvierteln, unter den verkrachten Studenten, unter denjenigen, die in einer gesicherten Nische irgendwo ihr Unterkommen und Auskommen gefunden haben, dürfte es von Menschen mit einem hohen IQ nur so wimmeln.

    Schließlich ist ein IQ über 130 ja gar nicht so selten. In Deutschland haben ihn rund 1,6 Millionen Menschen. Die wenigsten von ihnen eignen sich zur Wissenschaft; weil ihnen eben andere Persönlichkeitsmerkmale, Fähigkeiten, Interessen fehlen.



    Sieht man einmal davon ab, daß es geradezu kindlich ist, einen IQ über 130 als einen guten Prädiktor für Studien- und wissenschaftlichen Erfolg zu betrachten, dann liegt des weiteren ein praktischer Einwand gegen das auf der Hand, was sich die Universitäten Freiburg und Konstanz da ausgedacht haben: Selbstverständlich kann man es trainieren, bei einem Intelligenztest gut abzuschneiden.

    Das liegt schlicht daran, daß Intelligenztests standardisiert sind. Von dem in den Freiburger Bestimmungen genannten HAWIE gibt es zum Beispiel nur eine einzige aktuelle Version (den HAWIE III).

    Einige der Untertests dieses HAWIE sind nur mit größerem Aufwand trainierbar; zum Beispiel die Messung der Gedächtnisspanne ("Zahlen nachsprechen"). Aber viele kann man entweder gut üben (den Mosaik- Test zum Beispiel, Bilder ordnen, Figuren legen) oder sogar das betreffende Wissen regelrecht pauken (allgemeines Wissen, Wortschatz- Test, Allgemeines Verständnis, Gemeinsamkeiten finden).

    Wenn man also tatsächlich als Studierender deutscher Universitäten in Zukunft Semester für Semester 500 Euro sparen kann, sofern man einen "IQ über 130 nachweist", dann sehe ich einen neuen Beruf heraufziehen: den des "Intelligenz- Test - Trainers".

    Man braucht für diesen Beruf noch nicht einmal Psychologie studiert zu haben. Ein wenig Anlernen dürfte genügen, damit man jeden, der nicht gerade schwachsinnig ist, darauf trimmen kann, einen IQ über 130 vorzutäuschen.

    Für, sagen wir, die Gebühr, welche die derart Präparierten dann in einem einzigen Studienjahr einsparen, diese Schlaumeier.



    Bis vor wenigen Jahren war es an den meisten deutschen Universitäten verpönt, überhaupt von der Intelligenz von Studierenden zu sprechen.

    Das Ziel war es sehr oft, allen Studierenden dieselbe Ausbildung mit möglichst auch demselben Ergebnis zu verschaffen. In den Sozialwissenschaften war es keine Seltenheit, daß der Durchschnitt der Abschlußzeugnisse zwischen den Noten 1 und 2 lag.

    Nun auf einmal entdeckt man, daß es dumme und gescheite Menschen gibt und daß der Unterschied zwischen ihnen nicht die Erfindung von Faschisten ist.

    Und nun geht es wie oft, wenn jemand ein Bekehrungs- Erlebnis hat: Nun werden aus den überzeugtesten Environmentalisten die schlichtesten Nativisten. Die es gar den Studierenden anbieten, ihre Intelligenz in klingende Münze umzusetzen.

    Jedenfalls, wenn sie im Öko- Musterstädtle Freiburg oder am schönen Bodensee studieren wollen.

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    19. August 2007

    Marginalie: Also spricht Ségolène Royal

    Ségolène Royal im Wahlkampf zu erleben - das hatte etwas vom Besuch eines Marionettentheaters.

    Sie bewegt sich so, wie man sich eigentlich gar nicht bewegen kann. Den Körper irgendwie im Raum fixiert, und darunter eilen die Füße voran. "Schweben" trifft es nicht; es ist ein seltsames Schreiten. Es ist - so habe ich das damals wahrgenommen - so, als sei das Gehen bei ihr nicht automatisiert, sondern als steuere sie jeden Schritt bewußt.

    Und wie sie spricht! Was das Inhaltliche angeht, diese monotone Botschaft der Frrreude und des Optiiimismus, habe ich das in dem verlinkten Beitrag zu beschreiben versucht. Wie sie artikuliert, das habe ich dort nicht geschrieben:

    Sie zelebriert sozusagen die Artikulation, indem sie das leicht anklingen läßt, was am Wortende im Französischen eigentlich stumm ist. Das Wortende verschlucken, nein, das will sie nicht.

    Also sagt spricht sie "France" nicht "Frangs" aus (wie man das halt so in deutsche Phonetik überträgt), sondern "Frangsö", mit einem winzigen, nachklingenden "ö". Also sagt spricht sie "politique" wie "politikö" aus. Das macht ihre Aussprache gravitätisch, auch irgendwie automatenhaft. Ich habe nie einen Politiker erlebt, dessen Auftreten so sehr an einen Avatar erinnerte.



    Diese Erinnerungen an die Ségolène des Wahlkampfs sind mir durch den Kopf gegangen, als ich eine aktuelle Meldung im "Nouvel Observateur" gelesen habe.

    In Frankreich steht die Zeit der rentrée bevor; die Urlauber kehren langsam nach Paris zurück.

    Rückkehrende Politiker pflegen dann Pressekonferenzen zu geben, Interviews zu gewähren. Sie wollen ja wieder Präsenz zeigen. Besonders Geschickte beginnen damit schon, bevor sie wieder zurück sind.

    So Ségolène, die noch auf den Antillen urlaubt und Ende der Woche zurückerwartet wird. Sie gab dem "Journal du Dimanche" ein Interview, über dessen Inhalt die Meldung im "Nouvel Observateur" berichtet.

    Royal hat sich bekanntlich von ihrem Lebensgefährten François Hollande getrennt. Dazu wurde sie befragt. Und sie fand eine Formulierung, die so schön ist, die so bezeichnend ist für diese Frau, die der Hoffmann'schen "Automate" Olympia gleicht, daß mich das zu dieser kleinen Glosse veranlaßt hat.
    Concernant sa séparation avec François Hollande, père de ses quatre enfants, elle assure que "l'équilibre familial s'est réorganisé autrement".

    Hinsichtlich ihrer Trennung von François Hollande, dem Vater ihrer vier Kinder, versichert sie, daß "das familiäre Gleichgewicht sich anders reorganisiert hat"
    Tja, so kann man es auch formulieren, wenn eine Partnerschaft zerbrochen ist.

    Und vermutlich hat Ségolène das mit dem strahlenden, wenn auch etwas gefroren wirkenden Lächeln gesagt, mit dem sie auch am Abend ihrer Wahlniederlage die Journalisten verblüffte.

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    Bush CAREs about Africa

    CARE ist eine jener bei den Amerikanern so beliebten Abkürzungen, die, als Wort gelesen, etwas Sinnvolles ergeben.

    Als die Organisation 1945 gegründet wurde, wollten ihre Mitglieder den hungernden Menschen in Europa helfen. Das acronym "CARE" stand für "Cooperative for American Remittances to Europe", also "Kooperative für amerikanische Sendungen nach Europa".

    Die Sendungen bestanden aus Lebensmittel- Paketen, die ursprünglich für die Versorgung amerikanischer Invasions- Truppen in Japan gedacht gewesen, dann aber durch die schnelle Kapitulation Japans überzählig geworden waren. Eine Liste dessen, was solch ein Paket enthielt, findet man auf der Website der Organisation.

    Als Europa wieder auf eigenen Füßen stand, blieb die Organisation bestehen; auch ihre griffige Abkürzung. Diese stand aber fortan für ""Cooperative for Assistance and Relief Everywhere", Kooperative für Unterstützung und Hilfe überall.



    Der Anlaß für diesen Beitrag sind zwei Artikel in der "New York Times" der vergangenen Woche. Aufmerksam geworden bin ich auf das Thema durch ein Editorial vom 18.8., das sich auf einen Artikel in der Ausgabe vom 16. 8. bezog.

    In diesem Artikel beschreibt Celia W. Dugger eine radikale Wende in der Politik von CARE in Bezug auf Afrika.

    Bisher hatte CARE dort ähnlich gearbeitet wie andere solche Nicht- Regierungs- Organisationen auch: Die amerikanische Regierung kaufte amerikanische Agragrpodukte, verschiffte sie nach Afrika und verkaufte sie dort an die Bevölkerung. Der Erlös floß Hilfsorganisationen wie CARE zu, die daraus einen Teil ihrer Arbeit finanzierten (CARE erhielt zum Beispiel auf diesem Weg 45 Millionen Dollar pro Jahr).

    Das schien allen Beteiligten zugute zu kommen: Den US-Farmern wurden ihre Produkte abgekauft; die hungernden Afrikaner wurden mit Lebensmitteln versorgt; die Hilfsorganisationen erhielten Gelder für zusätzliche Hilfs- Maßnahmen.

    Dennoch hat CARE sich entschlossen, dieses Programm bis 2009 auslaufen zu lassen. Und zwar, wie Celia W. Dugger schreibt, weil dieses System den örtlichen Bauern Konkurrenz macht und deshalb die Entwicklung der heimischen Agrarproduktion behindert.

    Statt weiter Regierungsgelder anzunehmen, will CARE künftig anderweitig Spenden aquirieren und damit die Entwicklung der Agrarwirtschaft in den Ländern Afrikas direkt fördern.



    In dem Editiorial - also einem namentlich nicht gezeichneten Kommentar, der die Meinung der Redaktion ausdrückt - schreibt die New York Times dazu unter der Überschrift "A better way to feed the hungry" (Ein besserer Weg zur Ernährung der Hungernden):
    CARE’s decision comes just when the Bush administration and others in Washington are seeking to change a related aid program that ships American- grown food abroad to help with emergencies. Mr. Bush proposes to take $300 million from traditional farm- subsidy programs and give the cash to governments and relief organizations abroad to buy food from local farmers.

    His proposal has drawn praise from many relief organizations and heavy criticism from big farmers. But it makes good sense. (...) A cash-based system, by one estimate, could save as much as $33 million that is now lost to shipping and transaction costs. That money could be far better spent fighting hunger.

    Die Entscheidung von CARE erfolgt zu einem Zeitpunkt, zu dem die Regierung Bush und andere in Washington versuchen, ein ähnliches Hilfsprogramm zu ändern, das in Amerika erzeugte Nahrungsmittel nach Übersee verschifft, um in Notsituationen zu helfen. Bush schlug vor, 300 Millionen Dollar aus den traditionellen Agrarsubventions- Programmen herauszunehmen und das Bargeld an Regierungen und Hilfsorganisationen im Ausland zu verteilen, damit diese davon Nahrungsmittel von örtlichen Bauern kaufen können.

    Sein Vorschlag wurde von vielen Hilfsorganisationen gelobt, stieß aber auf massive Kritik von Großfarmern. Aber er ist sehr sinnvoll (...). Ein auf Bargeld basierendes System könnte nach einer Schätzung volle 33 Millionen Dollar Kosten einsparen, die jetzt durch die Verschiffung und Transaktionen verursacht werden. Dieses Geld könnte weit besser dafür verwendet werden, den Hunger zu bekämpfen.



    Eine interessante Meldung, ein noch interessanterer Kommentar, finde ich.

    Daß eine Organisatio wie CARE sich mehr an den Interessen der Afrikaner orientiert als an denen der US- Agrar- Industrie, ist naheliegend. Aber daß auch die US- Regierung, daß auch Präsident Bush das untersützt - nicht wahr, das paßt nicht so recht zu den Vorurteilen, die viele Europäer über diesen Präsidenten haben.

    Zumal in einem der am meisten antiamerikanischen Länder der Welt.

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    18. August 2007

    Randbemerkung: "Freiwillige Wehrpflicht ..."

    ... das paßt zu einer Partei, die das Oxymoron "demokratischer Sozialismus" auf ihre Fahnen geschrieben hat.


    Was die Sache angeht: Militärisch spricht, soweit ich sehe, nichts für eine Wehrpflicht-Armee:
  • Erstens, weil heutige Armeen gut ausgebildete Spezialisten brauchen, keine "Gezogenen", die einst nur das Exerzieren, das Grüßen, das Marschieren und das Schießen beherrschen mußten.

  • Zweitens, weil die heutigen Armeen nicht mehr denselben Bedarf an Soldaten haben wie die des Zwanzigsten Jahrhunderts. Als die Bundeswehr aufgestellt wurde, sollte sie 500 000 Mann umfassen, bei einer Bevölkerung der alten Bundesrepublik von ungefähr 60 Millionen. Heute hat die Bundeswehr eine Stärke von knapp der Hälfte, bei rund 80 Millionen Einwohnern. Noch nicht einmal zwanzig Prozent der Wehrpflichtigen werden folglich tatsächlich auch eingezogen.

  • Drittens ist es in einer Zeit, in der Gleichstellung, Anti- Diskriminierung, Allgemeine Gleichbehandlung alle Lebensbereiche durchdringen, schlicht ein systemfremdes Element (um es zurückhaltend zu sagen), daß die Wehrpflicht nur den männlichen Teil der Bevölkerung trifft, den weiblichen aber verschont. Zumal dank europäischer Rechtsprechung Frauen in der Bundeswehr dieselben Rechte haben wie Männer. Nur eben nicht die Pflicht, in ihr zu dienen.

  • Viertens und hauptsächlich ist die Wehrpflicht mit der Idee der Landesverteidigung verbunden und im Grunde nur durch sie gerechtfertigt. Die levée en masse zur Verteidigung der Französischen Revolution war einer der Vorläufer der modernen Wehrpflicht, ein anderer die allgemeine Mobilisierung im Amerikanischen Bürgerkrieg.
  • Man kann es einem jungen Menschen nur dann zumuten, als Soldat gezwungenermaßen seine Gesundheit und sein Leben aufs Spiel zu setzen, wenn das in einem einsichtigen, nachvollziehbaren Verhältnis zu einer unmittelbaren Bedrohung seines Landes, seines Volks, letztlich seiner Familie steht.

    Dieses ultimate sacrifice, wie man in den USA sagt, dieses äußerste Opfer kann nicht von einem Staat, kann nicht von seiner Regierung zur Durchsetzung irgendwelcher politischer Ziele verlangt werden. Selbst wenn ein Verteidigungs- Minister argumentiert, Deutschland werde am Hindukusch verteidigt.

    Was vielleicht stimmt, vielleicht aber auch nicht. Jedenfalls liegt nicht die unmittelbare, die existentielle Bedrohung des Landes vor, die allein dieses Verlangen nach dem äußersten Opfer rechtfertigen könnte.



    Die Befürworter einer Beibehaltung der Allgemeinen Wehrpflicht argumentieren überwiegend nicht militärisch, sondern politisch.

    Sie wollen eine Berufsarmee als "Staat im Staate" verhindern und führen das 100.000- Mann- Heer der Weimarer Republik als warnendes Beispiel an. Weit hergeholt, im wörtlichen wie im übertragenen Sinn.

    Oder sie argumentieren, daß die Allgemeine Wehrpflicht dem Gemeinsinn in der jungen Generation diene, auch der Integration von Einwanderern. Mag sein, nur könnte man das viel billiger und nützlicher zum Beispiel auch durch einen Allgemeinen Sozialdienst erreichen. Wenn man es denn für wünschenswert oder gar erforderlich hält.



    Nun ist also die SPD erstens für die Allgemeine Wehrpflicht und zweitens dagegen. Jedenfalls sieht das der jetzt verabschiedete Antrag für den bevorstehenden Parteitag vor.

    Mit anderen Worten, die SPD verabschiedet sich aus dieser Diskussion. Sie wird also zwischen FDP und CDU zu führen sein; vielleicht unter Beteiligung der Grünen.

    Diejenige Partei allerdings, die, solange sie die Macht hatte, alle jungen Männer "zur Fahne" rief und die noch nicht einmal ein Recht auf Wehrdienst- Verweigerung aus Gewissens- Gründen zugestand (man wurde allenfalls Bausoldat) - jene gewendete, aber nicht gewandelte Partei sollte in dieser Diskussion vielleicht doch besser schweigen.

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    Randbemerkung: Rußland - drei Meldungen (und ein Zusammenhang?)

    Die Meldung Nummer eins steht in "Spiegel-Online". Sie liegt erheblich über dessen üblichem Niveau.

    Aus Moskau schreibt Simone Schlindwein über Rußlands massive Aufrüstung:
    Tauchboote am Nordpol, Kampfflugzeuge über dem Atlantik und dem Pazifik: Russland hat in den vergangenen Wochen mit einer Serie von aggressiven Aktionen auf sich aufmerksam gemacht. Jetzt hat Präsident Wladimir Putin auch die leisesten Hoffnungen zerstreut, dass es sich dabei um Zufälle gehandelt haben könnte: Am heutigen Freitag kündigte er an, dass russische Langstreckenbomber demnächst wieder regelmäßig außerhalb des eigenen Luftraums fliegen werden.
    Weiter berichtet der Artikel von einer modernisierten Variante des Langstrecken- Bombers Tu-160, die gerade getestet wird; von neu entwickelten unbemannten Flugkörpern mit bis zu 400 km Reichweite; von dem Raketen- Abwehr- System "S-400 Triumph"; von einer neuen Generation von Atom- U-Booten mit neuen Raketen "Bulawa-M" mit 12.000 Kilometern Reichweite.

    Und schließlich ist, schreibt Simone Schlindwein, der Bau von sechs Flugzeugträgern geplant. (Zum Vergleich: Die USA verfügen über insgesamt elf Flugzeugträger; geplant ist der Bau eines einzigen neuen, der die 2008 zur Ausmusterung anstehende Kitty Hawk ersetzen soll).



    Die beiden anderen Meldungen stehen heute in der Übersicht, die die "New York Herald Tribune" regelmäßig über aktuelle Meldungen aus Rußland gibt.

    Meldung Nummer zwei referiert einen Artikel der "Vremya Novostei" über eine aktuelle Umfrage des Levada- Zentrums. Darin heißt es, laut dieser Umfrage
    ... 75 percent of the population said they could not survive without the state paying constant attention to their personal needs. Only 13 percent of those polls said they could rather have independence and self sufficiency than constant government oversight. The poll also found that more than half the population of Russia is satisfied with the current level of freedom in the country.

    ... äußerten 75 Prozent der Bevölkerung, daß sie nicht existieren könnten, wenn sich der Staat nicht ständig ihrer persönlichen Bedürfnisse annähme. Nur 13 Prozent der Befragten erklärten, daß ihnen Unabhängigkeit und Eigenständigkeit lieber wären als die fortlaufende Fürsorge des Staats. Die Umfrage ergab des weiteren, daß mehr als die Hälfte der Bevölkerung Rußlands mit dem gegenwärtigen Stand der Freiheit in dem Land zufrieden ist.
    Dazu wird ein Politologe zitiert, der meinte, es werde noch mehrere Generationen dauern, bis die Russen verstünden, daß ihre Wohlfahrt vor allem von ihnen selbst abhängt.



    Die Quelle von Meldung Nummer drei liegt nicht in Rußland; und doch ist sie die für die russische Innenpolitik vielleicht interessanteste. Es ist eine Meldung aus "Vesti". Zitat aus der Zusammenfassung in der "International Herald Tribune":
    Nursultan Nazerbayev, Kazakhstan's president, called on President Vladimir Putin of Russia to remain in office after his second and final legal term expires in March 2008. "I call on all Russians, the leadership of Russia, the Duma and the government: they should do everything to make him extend his presidency to a third term," Mr. Nazerbayev said in an interview (...).

    Nursultan Naserbajew, der Präsident von Kasachstan, rief den russischen Präsidenten Wladimir Putin dazu auf, im Amt zu bleiben, wenn seine zweite und nach dem Gesetz letzte Amtszeit im März 2008 endet. "Ich rufe alle Russen, ich rufe die Führung Rußlands, die Duma und die Regierung auf: Sie sollten alles tun, damit er seine Präsidentschaft um eine dritte Amtszeit verlängert" sagte Naserbajew in einem Interview (...).


    Vielleicht sind das drei Meldungen ohne Zusammenhang. Die eine stammt ja aus der Militärpolitik, die zweite aus der Gesellschaftspolitik, die dritte aus der aktuellen russischen Innenpolitik, gesehen aus der Perspektive eines ausländischen Staatsmanns.

    Ich halte es allerdings für wahrscheinlicher, daß es einen Zusammenhang gibt. Leser dieses Blogs wissen, welchen ich vermute:

    Es erscheint mir plausibel, daß jemand, der sich wie Putin als der neue Zar fühlt, der von einer Mehrheit der Russen auch als ein solcher gesehen wird - daß ein solcher Machtmensch nicht nach zwei Amtszeiten sang- und klanglos abtritt, nur weil eine der "zweifelhaften amerikanischen Demokratie" entlehnte Verfassungs- Vorschrift (so der Putin- Intimus Juri Luschkow) das verlangt.



    Unter der Hypothese, daß Vieles in der gegenwärtigen Politik Putins primär darauf ausgerichtet ist, eine Situation zu erzeugen, in der das russische Volk nach einer dritten Amtszeit des Großen Zaren ruft, machen die drei Meldungen Sinn:
  • Moskau rüstet nicht mehr, wie in den letzten Jahren, stillschweigend auf, sondern brüstet sich jetzt dieser Aufrüstung. Unter Putin, so das Signal, gewinnt Rußland seine alte Stärke und Würde wieder.

  • Die Russen - das besagt die zweite Meldung - sind es so zufrieden. Sie wollen den starken Staat, wie ihn Putin verkörpert. Sie wollen, so darf man folgern, nicht von ihrem großen Zaren im Stich gelassen werden.

  • Putin selbst hat es bisher strikt abgelehnt, sich darüber zu äußern, was nach dem Ende seiner zweiten Amtszeit im März 2008 sein wird. Immer wieder treten aber seine Vertrauten mit dem dringenden Vorschlag auf, er möge doch weitermachen. Nicht nur der alte Weggefährte Luschkow, sondern gar der Führer der Opposition in der Duma, Sergej Mironow, hat eine dritte Amtszeit Putins gefordert. Der alte Fuchs Naserbajew springt jetzt, so kann man vermuten, auf diesen fahrenden Zug; es wird der Schaden Kasachstans nach dem März 2008 nicht sein.


  • Wer ein solch getreues Volk hinter sich weiß wie Putin das russische; wer eine solche loyale Opposition sein eigen nennt wie die von Sergej Mironow geführte; wer solche freundlichen Nachbarn hat wie Naserbajew - müßte der nicht mit dem Klammerbeutel gepudert sein, wenn er jetzt (in vollem Saft stehend; das Foto war ja gerade zu bewundern) aufs Altenteil ginge, nur weil eine alberne, aus der zweifelhaften amerikanischen Demokratie stammende Verfassungs- Bestimmung das verlangt?

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    17. August 2007

    Kennedy-Mord, der Fall Barschel: Wie weit gehen die Parallelen?

    Als er der junge, smarte Ministerpräsident von Schleswig- Holstein war, wurde Uwe Barschel manchmal der "Kennedy des Nordens" genannt.

    Das war wohl kein sehr triftiger Vergleich gewesen; aber in einem anderen Sinn scheint eine Parallele zu Kennedy mittlerweise offensichtlich zu sein:

    So, wie der Tod Kennedys immer neue Theorien über Täter und Motive hervorbrachte und noch weiter hervorbringt, so scheinen auch die Versuche, den Tod Barschels aufzuklären, zu einer unendlichen Geschichte zu werden.



    Gegenwärtig findet diese Geschichte wieder einmal eine Fortsetzung: Kein Geringerer als der Lübecker Leitende Oberstaatsanwalt Heinrich Wille, einst Chef- Ermittler im Fall Barschel, hat ein Buch- Manuskript zu dem Fall fertiggestellt. Einen Text, in dem er den Nachweis zu führen versucht, daß Barschel ermordet wurde.

    Dieses Buch nun darf nicht erscheinen. Willes Vorgesetzter, der Schleswig- Holsteinische General- Staatsanwalt Erhard Rex, hat die erforderliche Genehmigung (erforderlich, weil es sich um die Nebentätigkeit eines Beamten handelt) verweigert. Und zwei Verwaltungsgerichte - jetzt in der verwaltungsgerichtlich letzten Instanz das Ober- Verwaltungsgericht Schleswig - haben ihm Recht gegeben.

    Zensur also? Soll da ein mißliebiger Mann mundtot gemacht werden, der eine andere Theorie über den Tod Barschels vertritt als der General- Staatsawalt Rex selbst? Handelt es sich, wie Wille sagt, um einen Eingriff in die grundgesetzlich garantierte Meinungsfreiheit?

    Vielleicht. Aber vielleicht auch nicht. Denn Rex hat die Veröffentlichung des Manuskripts deswegen untersagt, weil Wille nicht Wissen als privater Buchautor vermarkten dürfe, das er in seiner dienstlichen Eigenschaft als Chef- Ermittler dieses Falls erworben habe. Dieser Rechtsauffassung haben sich die beiden Verwaltungsgerichte angeschlossen.

    Mir leuchtet das ein; und ich habe auch soviel Vertrauen in die Justiz, daß jedenfalls meine Anfangs- Vermutung ist: Wenn zwei Gerichte das so sehen, dann wird es wahrscheinlich so sein. Allerdings verweist Wille darauf, daß in einem anderen Fall - Publikationen des Stuttgarter General- Staatsanwalts Klaus Pflieger zur RAF und zur Schleyer-Entführung - anders verfahren wurde. Mag sein, daß die beiden Fälle verschieden liegen; das kann ich nicht beurteilen.




    Zu diesem Buchmanuskript und seinem für den Autor unerfreulichen Schicksal will ich also keine Meinung äußern.

    Sondern ich möchte darauf hinweisen, daß im entscheidenden Punkt der Kennedy- Mord und der Fall Barschel gerade keine Ähnlichkeit haben.

    Im Fall Kennedy behauptet niemand, er sei nicht ermordet worden. Niemand Ernstzunehmendes bestreitet auch, daß Oswald auf Kennedy geschossen hat. Die Spekulationen und Theorien kreisen allein um den Ablauf und die Hintergründe dieses Mordes:

    War Oswald wirklich ein Einzeltäter, der aus Haß auf Kennedy handelte? Oder hatte er Komplizen, die zeitgleich von einem Hügel aus auf Kennedy feuerten? Hatte er, hatten diese behaupteten Komplicen Hintermänner, Auftraggeber? In der Mafia zum Beispiel? War Cuba im Spiel? Hat gar - die abenteuerlichste Spekulation - ein eigener Geheimdienst den amerikanischen Präsidenten ermorden lassen?



    Solche Spekulationen gibt es im Fall Barschel zwar auch; aber es sind allesamt wirklich wilde Spekulationen.

    Anders als beim Kennedy- Mord, wo alle ernstzunehmenden Theorien sich auf Indizien stützen, auf Zeugenaussagen, hat bisher niemand auch nur den Schatten eines Belegs dafür geliefert, daß Barschel von - sagen wir - dem Mossad ermordet wurde, vom MfS, vom CIA oder von kriminellen Waffenhändlern.

    Die Mossad- Variante wurde von Victor Ostrovsky einfach behauptet. Er beruft sich auf das, was man im Mossad so geredet habe; that's all. Für die Stasi- Version spricht kaum mehr, als daß Barschel gern mal im Hotel "Neptun" in Warnemünde genächtigt hat, das von der Stasi kräftig für ihre Zwecke genutzt wurde. Ähnlich dünn sind die "Beweise" für andere Theorien.

    Andererseits aber gibt es massive Hinweise darauf, daß Barschel ermordet wurde.

    Erstens haben gerichtsmedizinische Untersuchungen durch den Zürcher Toxikologen Horst Brandenberger und dann nochmals die Münchner Toxikologen Wolfgang Eisenmenger und Ludwig von Meyer übereinstimmend ergeben, daß das tödliche Cyclobarbital erst in den Körper von Barschel gelangt sein konnte, als dieser bereits aufgrund der Einnahme von Methyprylon (einem Bestandteil der sogenannten "k.o.-Tropfen") bewußtlos gewesen sein muß.

    Zweitens hat Barschel am 10. Oktober 1987 um 18.30 dem Zimmerkellner des "Beau Rivage" eine Flasche Rotwein mit zwei Gläsern quittiert. Diese Flasche blieb verschwunden. Ebenso fand man keine Medikamentenschachteln, obwohl Barschels Körper mit Medikamenten vollgepumpt war.

    Es gibt weitere Indizien - zum Beispiel Kopfverletzungen von Barschel, eine nicht zuordenbare Fußspur in seinem Zimmer. Aber auch ohne weitere Anhaltspunkte sind die beiden genannten Indizien - soweit ich das beurteilen kann - mit der These eines Selbstmords schwerlich vereinbar.

    Sie passen andererseits zu der Annahme, daß Barschel gegen 18:30 Besuch erwartete, daß dieser ihm eine Methyprylon- haltige Substanz beigebracht hat und daß dann später - der Tod trat gegen Mitternacht ein - Barschel durch diese Person oder durch Andere mittels hochdosierten Cyclobarbitals ermordet und in die Badewanne gelegt wurde.



    Nein, bewiesen ist das nicht. Aber es ist eine Hypothese, die erheblich mehr Wahrscheinlichkeit für sich hat als die, daß Barschel Selbstmord beging.

    Gewiß spricht ein solcher modus operandi für professionelle Killer; ob sie nun Geheimdienstler waren oder Kriminelle aus dem Waffenhändler- Milieu.

    Daß sich allerdings wird aufklären lassen, wer das denn nun gewesen ist, erscheint mir unwahrscheinlich. Perfekt haben diese - vermutlichen - Profis nicht gearbeitet; sonst gäbe es die Spuren nicht. Aber daß sie schlampig genug arbeiteten, um identifiziert werden zu können, damit darf man wohl nicht rechnen.

    Vielleicht hat ja Wille auch dazu etwas herausgefunden. Ich würde sein Buch schon gern lesen. Er könnte zum Beispiel das Material jemandem zur Verfügung stellen, der es publiziert, ohne daß Wille Honorar erhält. Das wäre dann wohl keine genehmigungspflichtige Nebentätigkeit.

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    16. August 2007

    Noch ein Zitat des Tages

    Eigentlich sollte es mit einem "Wort des Tages" pro Tag ja sein Bewenden haben. Aber bei dem folgenden Beispiel für die literarische Bildung eines Autors der "Jungen Welt" kann ich dem Zitieren doch nicht widerstehen:
    Die "nützlichen Idioten", die angepinkelt wurden, das waren Tucholsky natürlich, Heinrich Heine, Walter Bloch, Lion Feuchtwanger, Axel Eggebrecht, die in der Weltbühne nicht müde geworden waren, "die SPD in immer neuen Aufrufen zum gemeinsamen Vorgehen mit der KPD zu ermuntern".
    Hans Daniel in der morgigen Ausgabe der "Jungen Welt". Der von Daniel angeprangerte Pinkler ist Klaus Rainer Röhl.



    Gab es etwa einen Namensvetter Heinrich Heines unter den Mitarbeitern der "Weltbühne"? Mir ist keiner bekannt. Falls jemand einen kennt, dann bitte ich um Nachricht. Und dann ziehe ich diesen Beitrag reumütig zurück.

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    Zitat des Tages: Das Land der lebendigen Demokratie

    "Ich bezweifle, daß es irgendein Land auf diesem Planeten gibt, das eine lebendigere Demokratie hat als die, derer wir uns heute in Venezuela erfreuen".

    Hugo Chávez, zitiert von Associated Press.



    Wer sich für Einzelheiten zu dieser lebendigen Demokratie interessiert, der findet sie z.B. hier und hier.

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    14. August 2007

    Schießbefehl an der DDR-Grenze: Eine bizarre Diskussion

    Ja, es stimmt: Der jetzt entdeckte Schießbefehl ist keine Sensation.

    Zum einen, weil er schon vor Jahren in Auszügen in einer wissenschaftlichen Arbeit publiziert wurde.

    Zum anderen, weil dieses jetzt gefundene Dokument nur das bestätigt, was ja ohnehin feststand. Wie hätten denn Grenzsoldaten über Jahrzente auf unbewaffnete Menschen schießen können, wenn sie nicht den Befehl gehabt hätten, das zu tun?

    Das ist in jeder intakten Armee undenkbar. Das wäre in einem so straff geführten Truppenteil wie der Grenztruppe der NVA eine Absurdität gewesen. Hätte es keinen Schießbefehl gegeben und hätte ein Soldat dennoch auf einen Flüchtling geschossen, ohne sich in Notwehr zu befinden, dann hätte er sich am nächsten Tag in einem Militärgefängnis wiedergefunden. Stattdessen wurde jeder dieser Todesschützen belobigt und erhielt Vergünstigungen.

    Nur wurde dieser Befehl in der Regel, wie das bei solchen kriminellen Befehlen ja auch bei den Nazis der Fall gewesen war, mündlich erteilt. Wie das ging, das hat der ehemalige Grenzsoldat beschrieben, den ich hier zitiert habe: "Den Schießbefehl gab es jeden Tag bei der Vergatterung".

    Also insofern nichts Neues. Aber zwei Aspekte der aktuellen Diskussion erscheinen mir doch einen Kommentar wert zu sein.



    Erstens wird diese Diskussion von interessierter Seite offenbar genutzt, um gegen die Birthler- Behörde Stimmung zu machen.

    Zum einen ist das natürlich ein Entlastungsangriff der Kommunisten nach dem Prinzip "Angriff ist die beste Verteidigung".

    Zweitens scheinen aber auch Wissenschaftler, die selbst mit der Aufarbeitung der SED-Diktatur betraut sind, diese Gelegenheit nutzen zu wollen, um die Auflösung dieser Behörde - d.h. die Übertragung ihrer Funktionen auf das Bundesarchiv - zu betreiben. Dabei geht es, wie man sich denken kann, um die Verteilung von Ressourcen - von finanziellen, von personellen. Kurzum, es ist Futterneid im Spiel.

    Bei dieser - in jeder Wissenschaft üblichen - Konkurrenz um Forschungsmittel wird nun allerdings hier mit, vorsichtig ausgedrückt, seltsamen Argumenten gearbeitet.

    So sagte der Leiter der Forschungsgruppe SED-Staat an der Freien Universität Berlin, Klaus Schroeder, gegenüber der "Frankfurter Rundschau" über die Birthler-Behörde:
    Die Bürokraten- Forschung kann nicht gutgehen. Und dass Frau Birthler jetzt, wo es um die Existenz der Behörde geht, diesen angeblich neuen Fund präsentiert, um die Kompetenz der Behörde zu belegen, ist verständlich, ging aber nach hinten los, weil nicht einmal die Arbeit der eigenen Forscher bekannt ist.
    Das ist für einen Wissenschaftler - zurückhaltend formuliert - erstaunlich weit weg von dem, was sich tatsächlich abgespielt hat. Denn es kann ja keine Rede davon sein, daß "Frau Birthler diesen angeblich neuen Fund präsentiert" habe. Und schon gar nicht, "um die Kompetenz der Behörde zu belegen".

    Vielmehr war es so, wie hier und im ersten der dort verlinkten beiden Artikeln der "Magdeburger Volkszeitung" zu lesen ist:
    Das Dokument befindet sich in der Stasi-Akte von "Matz Löwe". Es wurde von Mitarbeitern der Magdeburger Außenstelle der Stasi-Unterlagenbehörde bei der Bearbeitung eines Forschungsantrages der Volksstimme über Grenzdurchbrüche entdeckt.
    Der Bericht der "Magdeburger Volksstimme", in dem das steht, führte dazu, daß dpa bei der Birthler- Behörde anfragte. Deren Sprecher bestätigte den Sachverhalt.

    Also, nicht Frau Birthler hat irgend etwas "präsentiert". Sondern die "Magdeburger Volksstimme" hat über "Grenzdurchbrüche" recherchiert. Sie hat dazu bei der Magdeburger Außenstelle der Birthler- Behörde einen Forschungsantrag gestellt. Diese hat daraufhin das Dokument aufgefunden. Und dann erst, als dpa anfragte, hat die Zentrale der Birthler Behörde - immer noch nicht Frau Birthler selbst - Stellung genommen. Frau Birthler hat erst auf weitere Anfragen reagiert, die dann von den Medien kamen.



    Schlimmer ist freilich eine zweite heutige Stellungnahme, die des Geschäftsführers der Partei "Die Linke", Dietmar Bartsch:
    Linke-Geschäftsführer Dietmar Bartsch sagte, das Dokument widerspreche den Gesetzen der DDR und hätte zu strafrechtlichen Konsequenzen geführt.
    Tja, da haben wir's. Hätte ein DDR-Grenzsoldat einen solchen Befehl erteilt bekommen, wäre er so "vergattert" worden, wie es der oben zitierte ehemalige Grenzsoldat beschreibt - dann hätte er sich doch nur an den Wehrbeauftragten der NVA wenden müssen. Die Volkskammer hätte einen Untersuchungs- Ausschuß eingesetzt. Der Verantwortliche für den Schießbefehl wäre ermittelt und bestraft worden.

    Weiterhin hätte der Soldat, dem dieser Befehl erteilt wurde, sich einen Rechtsanwalt nehmen können - sagen wir, den Vorsitzenden der Kollegien der Rechtsanwälte in der DDR, Gregor Gysi.

    Dieser hätte Strafanzeige erstattet wegen Anstiftung zu einem Tötungsdelikt. Gegen den Vorgesetzten des Soldaten, der den Grenzsoldaten "vergattert" hatte. Gegen den für diesen Befehl Verantwortlichen bei Politbüro des ZK der SED, Egon Krenz. Gegen den Verteidigunsminister der DDR, Heinz Keßler.

    Die Zeitungen der DDR, allen voran das "Neue Deutschland", hätten über den Prozeß ausführlich berichtet, über den Untersuchungsausschuß. Die "Aktuelle Kamera" hätte berichtet.

    Und am Ende, nicht wahr, Genosse Bartsch, wären die Verantwortlichen für diesen Befehl - also Offiziere der Grenztruppe sowie Günter Krenz und Heinz Keßler - verurteilt worden. Sie hätten ihre Funktionen verloren.

    Und niemals wieder wäre an der Mauer, wäre an der DDR-Grenze zur Bundesrepublik auf Flüchtlinge geschossen worden. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie heute noch.



    Naja, let's quit kidding. Das wirklich Erstaunliche in solchen Fällen ist, für wie dumm, für wie unglaublich naiv Leute wie Bartsch - von 1986 bis 1990 an der Akademie für Gesellschaftswissenschaften in Moskau ausgebildet - die "bürgerliche Öffentlichkeit" halten.

    Und freilich zeigen sie mit dieser Taktik, daß sie immer noch dieselben alten Kommunisten sind; nicht gewandelt, wohl aber neu gewandet. Grattez le russe, et vous trouverez le tatare.

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    Preußen: Anmerkungen und ein paar Leseempfehlungen

    Kein deutscher Staat ist so von Legenden umwoben wie Preußen.

    Einst von Legenden, die es verherrlichten. Zuerst im Kaiserreich, in dem es das dominierende deutsche Bundesland war. Dann in der Weimarer Zeit, in der diejenigen, die mit dieser Demokratie nicht zurechtkamen, ihren "alten Kaier Wilhelm wiederhaben" wollten.

    Schließlich, in einer absurden Geschichtsklitterei, unter den Nazis, die ausgerechnet den preußischen Rechtsstaat als einen Vorläufer ihres Unrechtsstaats in Anspruch zu nehmen versuchten; die den brutalen Psychopathen Hitler als Nachfolger ausgerechnet des hochgebildeten, durch die französische Kultur geprägten Friedrich II. darzustellen trachteten.



    Ob die Nazis damit bei den Deutschen viel Erfolg hatten, weiß ich nicht. Bei den Alliierten jedenfalls wirkte ihre Propaganda nachgerade perfekt: Der Alliierte Kontrollrat löste mit Gesetz Nr. 46 vom 25. Februar 1947 Preußen auf; und zwar mit der Begründung, es sei ein "Träger des Militarismus und der Reaktion in Deutschland" gewesen.

    So sagte es der Alliierte Kontrollrat; wobei es bemerkenswert ist, daß die Amerikaner, die Engländer, die Franzosen sich von den Russen den Begriff der "Reaktion" oktroyieren ließen; einen Begriff, der bekanntlich ein Juwel im propagandistischen Schatzkästlein der marxistischen ebenso wie der nationalen Sozialisten ist ("Kameraden, die Rotfront und Reaktion erschossen, marschier'n im Geist in unsren Reihen mit").



    Mit Preußens Gloria also war es ab 1945 vorbei. Das negative Bild Preußens, das die kommunistische Propaganda verbreitete (die immer auf Feindbildern basiert; die immer Haßobjekte aufbaut) - dieses Bild prägte erstaunlicherweise, eigentlich unfaßbarerweise auch das Verständnis Preußens, das in der Bundesrepublik überwog.

    So sehr war (und ist) dieses Bild prägend, daß 1996, als die Fusion der Länder Berlin und Brandenburg geplant war, dieses neue Bundesland nicht - was doch eigentlich selbstverständlich gewesen wäre - "Preußen" heißen sollte, sondern "Berlin-Brandenburg".

    Kurzum, das in Deutschland dominierende Bild Preußens im vergangenen halben Jahrhundert hatte wenig mit dem historischen Preußen zu tun; es war ein Werk kommunistischer Propaganda, die nur allzu bereitwillig von Sozialdemokraten, von vielen Liberalen, von der Öffentlichkeit übernommen wurde.



    Jetzt also hat der "Spiegel" mit seiner aktuellen Titelgeschichte - ein Appetithäppchen daraus bietet "Spiegel-Online" - den Versuch unternommen, ein treffenderes, ein weniger propagandistisch eingefärbtes Bild Preußens zu entwerfen. Der von dem "Spiegel"- Redakteur und promovierten Historiker Klaus Wiegrefe geschriebene Beitrag konzentriert sich auf die Stein- Hardenberg'schen Reformen und ihr Umfeld. Kein glänzender, aber ein durchaus lesenswerter Artikel.

    Ich könnte mir denken, daß mancher, der diesen Artikel gelesen hat, gern mehr über Preußen lesen möchte; mehr jenseits des gängigen Zerrbilds. Hierzu ein paar Anregungen, die auf meinen eigenen Leseerfahrungen basieren.



    Mir ist es - natürlich - so gegangen wie fast allen, die in der Nachkriegszeit aufgewachsen sind: Ich habe dieser Propaganda geglaubt. Ich habe daran geglaubt, daß es von Friedrich II über Bismarck und Wilhelm II eine historische Linie stracks zu Hitler gibt; eine Tradition der Demokratiefeindlichkeit, des Militarismus, des Kadaver- Gehorsams, der Unfreiheit nach innen, der Aggressivität nach außen.

    Nachdenklich bin ich zunächst nicht durch die Lektüre historischer Texte geworden, sondern durch Fontane. Fontane, den ein Verhältnis kritischer Sympathie mit dem preußischen Staat, auch mit dem preußischen Adel verband, entwirft ein ganz anderes Bild Preußens.

    Ein Bild, das er nicht nur in den "Wanderungen durch die Mark Brandenburg" in zahllosen historischen Details, in lokalen Anekdoten zeichnet. Auch sein belletristisches Werk bietet einen ausgezeichneten Einblick in die preußische Gesellschaft, in die preußische Mentalität im 19. Jahrhundert. Gesehen mit dem Auge eines Autors, der wie kaum ein anderer seiner Zeit den Blick für Details hatte, der wie kaum ein anderer sich selbst zurücknahm, der den Menschen, den Verhältnissen gerecht zu werden versuchte, die er schilderte. Ein großer realistischer Autor, wie Deutschland ihn selten hatte.

    Die meisten seiner Romane und Erzählungen schildern Einzelschicksale, wie das auch in ihrem Titel zum Ausdruck kommt ("Effi Briest", "Grete Minde", "Frau Jenny Treibel", "Schach von Wuthenow"). Zweimal aber hat Fontane ein breites, vielfältig gefächertes Bild der preußischen Gesellschaft entworfen: In seinem ersten Roman "Vor dem Sturm", der vor den Freiheitskriegen spielt, und in seinem letzten Roman "Der Stechlin".

    Beide unbedingt zu empfehlen, wenn man das Preußen des 19. Jahrhunderts verstehen will; vor allem auch das wenig gelesene "Vor dem Sturm".



    Es gibt einen modernen Autor, der im Geist Fontanes schreibt, der ihm in vielerlei Hinsicht ähnlich ist: Günter de Bruyn.

    Ich habe ihn zu lesen angefangen, als er noch ein "Nischen- Autor" in der DDR war - einer, der sich nicht von den Kommunisten verbiegen ließ, der aber auch nicht als Dissident hervortrat.

    Ein Autor, der in einer wunderbaren Sprache leise, fast möchte ich sagen: bescheidene Romane schrieb wie "Der buridanische Esel", "Märkische Forschungen", "Neue Herrlichkeit". Bilder aus dem Leben der DDR; realistisch und doch so zurückhaltend geschrieben, daß sie durch die Zensur kamen. Wie es tatsächlich in der DDR war, das konnte de Bruyn unbefangen freilich erst nach der Wiedervereinigung sagen; im zweiten Teil seiner Autobiographie, "Vierzig Jahre".

    Auch in de Bruyns belletristischem Werk in der Zeit der DDR blitzte gelegentlich schon etwas von Preußen auf; von der ironischen Nüchternheit, von der heiteren Skepsis, die für Preußen bezeichnend gewesen waren. Auch damals war schon etwas vom historischen Interesse de Bruyns zu spüren. In seiner Biographie Jean Pauls zum Beispiel; der nun freilich kein Preuße war, aber doch ein sehr beliebter Autor in den Berliner Salons seiner Zeit.

    Wie sehr de Bruyn, auch darin Fontane ähnlich, sich für die Kultur, für die Gesellschaft Preußens interessierte, das wurde aber erst in den Jahren nach der Wiedervereinigung erkennbar. Er schrieb mehrere Werke über das Spreeland, über Brandenburg. Teils populäre Einführungen; aber er schöpfte doch aus dem Schatz eines immensen historischen Wissens, wie auch Fontane.

    Dann, ab Ende der neunziger Jahre, erschienen die eigentlich historischen Werke de Bruyns: "Die Finckensteins", "Preußens Luise", "Als Poesie gut. Schicksale aus Berlins Kunstepoche 1786 bis 1807" zum Beispiel. Glänzend geschrieben, wie alles von den Bruyn. Und "lehrreich". Hier paßt dieses etwas altväterliche Wort: Man "lernt" Preußen "verstehen", wie bei Fontane, wenn man diese Bücher liest.



    Freilich sollte man Preußen nicht nur zu verstehen versuchen, sondern man sollte darüber auch etwas wissen. Zur Geschichte Preußens habe ich zwei Empfehlungen: Erstens Leopold von Rankes "Preußische Geschichte". Unerreicht in ihrer Objektivität, in ihrer wissenschaftlichen Präzision, ihrer Sachlichkeit. Und zweitens und vor allem Sebastian Haffners "Preußen ohne Legende".

    Haffner war, professionell betrachtet, ein "Amateur- Historiker", denn promoviert hatte er in Jura. Er hat aber in vielen Jahrzehnten - beginnend schon in seiner Zeit in der Emigration, als Redakteur des "Observer" - ein historisches Wissen, ein historisches Verständnis erworben, um das ihn viele Fachhistoriker beneidet haben dürften.

    Seine Geschichte der Revolution von 1919, seine Geschichte der deutsch- russischen Beziehungen, seine "Anmerkungen zu Hitler" sind beste Geschichtsschreibung. Und ganz besonders gilt das für dieses Buch über Preußen, das - als prächtiges gebundenes Werk, aber auch in der Paperback- Ausgabe - opulent illustriert ist.

    Das Werk von Ranke scheint im Augenblick nur antiquarisch angeboten zu werden. Die Paperback- (="Taschenbuch"-) Ausgabe von "Preußen ohne Legende" ist aber anscheinend noch lieferbar; ISBN 3442755441

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    13. August 2007

    Mal wieder ein kleines Quiz: Latinos in den USA, Türken in Deutschland - wer findet die Unterschiede?

    In der heutigen "Washington Post" befaßt sich ein Editorial mit dem Problem, daß viele Einwanderer in die USA - überwiegend Latinos - nicht oder nicht hinreichend Englisch können.

    Kürzlich äußerte sich in einem Interview die Staatsministerin beim Bundeskanzleramt und Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration, Maria Böhmer, zu dem Problem, daß viele Einwanderer nach Deutschland - überwiegend Türken - nicht oder nicht hinreichend Deutsch können.

    So ähnlich wie die Probleme sind die Lösungen, die in den beiden Verlautbarungen vorgeschlagen werden.

    Und doch gibt es mindestens drei nicht ganz unwesentliche Unterschiede.

    Hier ein Auszug aus der Stellungnahme von Staatsministerin Böhmer:
    Ein Schwerpunkt des Nationalen Integrationsplans ist die Verbesserung der Sprachkenntnisse. (...) Wenn man in Deutschland auf Dauer leben will, ist es unverzichtbar, sich zu integrieren. Deshalb müssen bestehende Angebote wahrgenommen werden. Die Integrationskurse zum Erwerb der Sprache sind für die Neuankömmlinge verpflichtend. (...) Wer als Nicht-Deutscher hier eine Arbeit aufnehmen will, muss Deutsch können. Wer sich dem hartnäckig verweigert, erfüllt seinen Teil der Vereinbarung nicht und muss mit Sanktionen rechnen.
    Und hier ein Auszug aus dem heutigen Editorial der "Washington Post":
    Learning English is an indispensable part of assimilation and full participation in all aspects of a community. More should be done to ensure that all newcomers attain that skill. (...) Local communities, especially those with rising immigrant populations, should make free or inexpensive English classes available; the federal government should pick up the tab or significantly help defray the cost. Community and religious groups should also step up their efforts in this cause. And new arrivals should seize such opportunities.

    Englisch lernen ist ein unverzichtbarer Teil der Assimilation und der vollen Teilnahme an allen Aspekten einer Gemeinschaft. Es sollte mehr dafür getan werden, sicherzustellen, daß alle Neuankömmlinge diese Fertigkeit erwerben. (...) Die örtlichen Gemeinden, vor allem die mit einem wachsenden Bevölkerungsanteil von Einwanderern, sollten kostenlose oder billige Englischkurse anbieten; die Bundesregierung sollte dafür aufkommen oder sich wesentlich an den Kosten beteiligen. Gruppen auf Gemeindeebene und religiöse Gruppen sollten ebenfalls ihre Anstrengungen in dieser Sache verstärken. Und die Neuankömmlinge sollten solche Chancen nutzen.
    Wer findet die (mindestens) drei Unterschiede zwischen dem Vorschlag der Staatsministerin Böhme für Deutschland und dem der "Washington Post" für die USA? Die Lösung steht in Zettels kleinem Zimmer.

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    Zettels Meckerecke: Wer darf eigentlich bei Artikeln den Vorspann schreiben?

    Bei "Spiegel"-Online ist es notorisch: Im Vorspann, im "Aufmacher" zu einem Artikel steht oft etwas erheblich Anderes als im Artikel selbst. Reißerisches, Übertriebenes, oft regelrecht Falsches, das durch den Text der Meldung oder des Beitrags überhaupt nicht gestützt wird.

    Eben habe ich ein besonders drolliges Beispiel gefunden; allerdings bei "Welt Online". Im Vorspann zu einem Artikel über einen Mord nach dem Kirchgang steht:
    Im US-Staat Missouri hat eine schreckliche Bluttat nach einem Gottesdienst drei Menschen das Leben gekostet. Der Gouverneur des Ortes sprach von einer „schreckliche Tragödie an einem friedlichen Ort des Glaubens".
    Wie stellt sich der- oder diejenige, der/die das geschrieben hat, die politischen Verhältnisse in den USA vor? Jeder Ort hat einen "Gouverneur"? So, wie Robinson Crusoe sich zum Gouverneur seiner Insel ernannt hatte?

    Eine Kleinigkeit, gewiß. Nur - sowas kann doch nur jemand schreiben, dessen politische Kenntnisse nicht über die eines Obertertianers hinausreichen.

    Wer also schreibt eigentlich so einen Aufmacher, so einen Vorspann? Ob das vielleicht das erste ist, was ein Praktikant, ein Volontär tun darf?

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    12. August 2007

    Das MfS und seine Opfer: Eine WebSite, deren Besuch sich lohnt

    Die aktuelle Diskussion über den Schießbefehl hat mich veranlaßt, im Web nach Informationen über die Stasi zu suchen.

    Dabei bin ich auf eine WebSite gestoßen, die ich empfehlen möchte: "Informationen zur Aufarbeitung der SED-Diktatur".

    Es gibt dort sehr viele Informationen zu allen Aspekten des Stasi-Staats.

    Besonders interessant fand ich das Gästebuch und das Diskussionsforum. Dort findet man vor allem Erlebnisberichte von Stasi-Opfern und Diskussionen über ihre Erfahrungen; und zwar nicht nur in der DDR, sondern auch nach der Wiedervereinigung.

    Natürlich gibt es auch einen akutellen Thread zu dem jetzt aufgefundenen Schießbefehl. Darin zum Beispiel dieser Beitrag eines ehemaligen Grenzsoldaten (Tippfehler von mir korrigiert):
    Ich war von 1966 bis 1969 an der Berliner Mauer.

    War nicht in der SED und nicht in der Stasi. Der Druck war gross dort zu unterschreiben. Ich stellte deshalb einen Antrag an die Ost-CDU und hatte sofort meine Ruhe.

    Den Schießbefehl gab es jeden Tag bei der Vegatterung.

    ...den Gegner zu vernichten. Von Rücksicht auf irgendwelche Personen habe ich nie gehört. In der Ausbildung wurden Schießscheiben über das Wasser gezogen. "Vater und Sohn" und "Mutter mit Kind". Wer mit MPi und LMG "Sohn oder Kind" traf, bekam die meisten Punkte.

    Es sollten auch schwangere Frauen erschossen werden (sie hätten ein Kissen am Bauch). Auch Kinder (Erwachsene die sich klein machen). Das lernte ich in meine Ausbildung.

    Mit dem Wissen kam ich danach an die Berliner Grenze.

    Es wurde dort nichts zurück genommen.
    Wenn man dann liest, wie die Obristen und Generäle a.D. dieser Truppe ihren "Friedensdienst" beweihräuchern, dann kann einen wahrlich die kalte Wut packen.

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    11. August 2007

    Marginalie: Die seltsamen Eskapaden der Cécilia Sarkozy

    Eine escapade ist, wörtlich übersetzt, ein Entrinnen, ein Flüchten, ein Entkommen. Wer sich eine Eskapade leistet, der entzieht sich.

    Der "Nouvel Observateur" hat heute Abend gemeldet, daß Cécilia Sarkozy nicht an dem Barbecue teilnimmt, das Präsident Bush und Laura für das Ehepaar Sarkozy geben wollten.

    Präsident Sarkozy wird allein kommen. Seine Frau, und gleich auch noch die Kinder, "fühlen sich nicht wohl", heißt es.

    Ganz schön hart. Wir erinnern uns an den Aufwand, der seinerzeit veranstaltet wurde, als die Kanzlerin und Professor Sauer den Präsidenten Bush und die First Lady zum Wildschwein am Spieß nach Trinwillershagen im schönen Mecklenburg- Vorpommern baten. So ähnlich dürften die Vorbereitungen auch heute in Kennebunkport gewesen sein.

    Doch Madame fühlte sich nicht wohl.



    Nun könnte es ja sein, daß sie, samt Kindern, wirklich die Angina hat, die Präsident Sarkozy zu ihrer Entschuldigung angeführt hat.

    Nur hat Madame Sarkozy allerdings eine seltsame Neigung, sich Pflichten Knall auf Fall zu entziehen.

    Der "Nouvel Observateur" hatte letzte Woche Cécilia Sarkozy auf dem Titel, diese geheimnisvolle, kapriziöse Frau, Tochter einer Spanierin und eines Zigeuners. Dazu gab es unter anderem einen Artikel von Sophie des Déserts, in dem der Tag der zweiten Runde der Präsidentschafts- Wahlen geschildert wird:

    Madame Sarkozy hatte, wie immer, alles perfekt vorbereitet. Nachdem der Sieg feststand, würde Nicolas Sarkozy über die Champs Elysées zum Restaurant "Fouquet's" fahren, dort mit Cécilia und engsten Freunden speisen und dann zu Fuß über die Champs Elysées zur Großkundgebung auf der nahegelegenen Place de la Concorde gehen.

    So spielte es sich auch ab, schreibt Sophie des Déserts, - nur Madame Sarkozy kam nicht:
    ... tous les amis sont là pour célébrer la victoire. (...) Mais Cécilia n'est pas là. On ne l'a pas vue de la journée. Elle n'a pas voté. (...) Nicolas est pendu au téléphone. Il supplie Cécilia d'arriver, les filles aussi s'y mettent, puis les copines, François Sarkozy, sa femme, et même Laeticia Hallyday (...) A la Concorde, les organisateurs sont sur les nerfs. A 22 h 30, Nicolas se résout à descendre seul les Champs-Elysées. Enfin, elle pousse la porte du Fouquet's. Pas maquillée, pas coiffée; Cécilia, d'ordinaire si soignée, semble sortir du lit. Le président l'embarque aussitôt rejoindre Enrico Macias et Faudel sur le podium de la Concorde. Mme Sarkozy apparaît enfin. Hagarde, livide, l'air complètement ailleurs. Sa main s'accroche à celle de Michèle Alliot-Marie. La France entière se demande si sa première dame tient debout.

    ... alle Freunde sind da, um den Sieg zu feiern. (...) Aber Cécilia kommt nicht. Man hat sie den ganzen Tag über nicht gesehen. Sie hat nicht gewählt. (...) Nicolas hängt am Telefon. Er fleht Cécilia an, herüberzukommen, die Töchter schalten sich auch ein, dann die Freundinnen, François Sarkozy, seine Frau, selbst Laeticia Hallyday (...) Auf dem Place de la Concorde sind die Organisatoren genervt. Um 22 Uhr 30 entschließt sich Nicolas, allein die Champs Elysées herabzugehen. Endlich stößt sie die Tür des "Fouquet's" auf. Nicht geschminkt, nicht frisiert; Cécilia, sonst so gepflegt, scheint aus dem Bett zu kommen. Der Präsident macht sich sofort auf, Enrico Macias und Faudel zu dem auf dem Place de la Concorde aufgestellte Podium zu folgen. Endlich kommt auch Madame Sarkozy. Verstört, leichenblaß, wie abwesend. Ihre Hand klammert sich an die von Michèle Alliot-Marie. Ganz Frankreich fragt sich, ob seine First Lady durchhält.
    Nun also, wie es scheint, ein ähnlich seltsames Verhalten in den USA.

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    "Wir sollten niemandem gestatten, die DDR als Unrechtsstaat abzuqualifizieren". Über eine ehrenwerte Gesellschaft

    In der alten Bundesrepublik war allgemein bekannt, daß die ehemaligen Angehörigen der Waffen-SS ihre Hilfs- Organisation hatten, die HIAG.

    Aber wer weiß heutzutage, in der neuen Bundesrepublik, daß sich die ehemaligen Angehörigen der Grenztruppe der DDR, des MfS usw. zu einer ähnlichen Hilfsorganisation zusammengeschlossen haben?

    Die Kommunisten machen es freilich geschickter als damals die Nazis.

    Diese hatten "Waffen-SS" im Namen ihrer Organisation stehen. Die ehemaligen Schützer der DDR haben sich dagegen für ihre Hilfsorganisation einen hübsch unauffälligen Namen ausgedacht: "Gesellschaft zur rechtlichen und humanitären Unterstützung e.V." Wer da wen unterstützt, das verrät der Name nicht.

    Konspirativ sind sie immer noch, die Genossen.

    Und innerhalb dieser illustren Organisation gibt es eine "AG Grenze", in der sich diejenigen zusammengeschlossen haben, deren Aufgabe es war, die dem Staat gehörenden DDR- Menschen daran zu hindern, ihrem Eigentümer zu entfliehen. Notfalls, wie es ja auch frühere Sklavenhalter gern taten, unter Androhung des Todes.

    Ich bin auf diese "AG Grenze"gestoßen, als ich nach Hintergrund- Material zu einem Bericht der Magdeburger Volksstimme gesucht habe, wonach in der Stasi- Akte eines Angehörigen der Grenztruppe ein schriftlicher Schießbefehl gefunden wurde; einschließlich des Schießens auf fliehende Frauen und Kinder. Der Bericht ist inzwischen von einem Sprecher der Birthler- Behörde gegenüber dpa bestätigt worden.

    Dazu wollte ich meine Erinnerung überprüfen, daß laut DDR- General Keßler es "nie einen Schießbefehl gegeben" hat. Das hat mich auf diese Seite geführt. Dort steht in der Tat das gesuchte Zitat, und zwar in einem bemerkenswerten Kontext:
    Sachlichkeit, wenn manchmal auch recht temperamentvoll vorgetragen und Kompetenz haben uns zur Akzeptanz als "Partner im Widerstreit" verholfen. (...) Unser Bemühen geht dahin, das Grenzregime als Teil der Auseinandersetzung im Kalten Krieg, als Kette von Ursachen und Wirkungen und nicht als Willkürakt einer Diktatur darstellen zu lassen. So ist zum Beispiel der Komplex Schusswaffenanwendung mit dem Zitat von Heinz Keßler überschrieben: "Es hat nie einen Schießbefehl gegeben."
    Tja, "Kette von Ursachen und Wirkungen". Wobei die Kette mit dem Tod eines Menschen dann wohl abbrach.



    Nachdem ich nun schon auf dieser WebSite war, habe ich mich ein wenig dort umgesehen. Ein interessanter Fund, fürwahr!

    Interessant, denke ich, auch für diejenigen, die immer noch der Illusion anhängen, die Angehörigen des Unterdrückungs- Apparats der DDR seien inzwischen mehr "in der Demokratie angekommen", als in den fünfziger, sechziger Jahren die Angehörigen der SS, der Gestapo, des SD zu Demokraten geworden waren.

    Ein kleines Florilegium (Hervorhebungen von mir):



    "Wofür treten wir ein?" fragen die Genossen der GRH. Und sie antworten unter anderem: "Für Bürger, die wegen der Wahrnehmung ihrer Bürger- und Menschenrechte von der politischen Strafjustiz verurteilt wurden."

    Schöner hätten es auch Angehörige der Gestapo und des SD nicht sagen können, die ja bei Ausübung ihres Berufs auch nur von ihren Bürger- und Menschenrechten Gebrauch gemacht hatten, wie man weiß.



    Auf dem Jahrestag 2003 der AG Grenztruppe sagte Generalmajor a. D. Bernhard Geier:
    Durch Sicherheit an den Grenzen gaben wir unserer Staatsführung die Möglichkeit, den friedlichen Aufbau der Volkswirtschaft zu beginnen und weiterzuführen. Unserer Bevölkerung gaben wir die Sicherheit eines störungsfreien Lebens von außen.

    So etwas, was unser heutiges Leben täglich begleitet, gab es Dank sicherer Grenzen nicht:

    - Schmuggel mit Menschen großen Ausmaßes gab es nicht bei uns. Stellt sich die Frage – wer verdient daran und will es nicht unterbinden?

    - Wirtschaftsflucht mit Milliardenverlusten für den Staat kannten wir nicht. – Wer verdient daran?


    In einem "Grußschreiben und Diskussionsbeitrag" zum selben Jahrestag erklärte Generalleutnant a.D. Karl Leonhard:
    Wir werden unserer Tradition gerecht, wenn wir uns ohne WENN und ABER zu unserer Biographie bekennen und wenn wir die Diffamierung der DDR und ihrer geschichtlichen Leistungen, sachlich und konsequent zurückweisen.

    Wir haben keine Veranlassung, Mängel und Unzulänglichkeiten zu leugnen, aber wir sollten niemanden gestatten die DDR als "Unrechtsstaat" und einen Teil ihrer Staatsbürger als kriminelle Straftäter abzuqualifizieren.


    Zum Frühjahrstreffen 2006 kamen 306 Teilnehmer - "mehr als je zuvor", wie Oberst a.D. Siegfried Kahn erfreut feststellte. Auf diesem Treffen trug der Rechtsanwalt Jürgen Strahl vor:
    Es geht um den Personalwechsel 1994/1995 an der Spitze des Bundesverfassungsgerichts von Roman Herzog auf Jutta Limbach. Roman Herzog musste Bundespräsident werden, weil er deutlich gemacht hatte, daß er den Schwachsinn der Strafverfolgung gegen uns aus der Sicht des Verfassungsgerichts nicht mit tragen werde. Aus diesem Grunde wurde Jutta Limbach Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts, weil sie sich bereits als Berliner Justizsenatorin in der Organisation der Strafverfolgung hervorragend bewährt hatte. Sie ersparte die unausbleibliche Blamage der 3. Gewalt, wenn sie sich nicht ganz im Noskeschen Sinne als Bluthund bereit erklärt hätte.


    Und zum Schluß etwas ausführlicher der Diskussionsbeitrag von Karin Weber.

    Auch sie eine ehemalige Grenzschützerin? Nein. Karin Weber, MdL, gehört der Fraktion der Linkspartei.PDS im Land Brandenburg an:
    Sehr geehrte - ich trau mich einfach - Genossinnen und Genossen!

    Ich bin heute hier bei Ihnen, weil ich Ihnen zum Ersten meinen Respekt bezeugen will und zweitens Ihre Mitwirkung nicht erbitten - sondern einfordern will. (...)

    Die Amerikaner spielen den Weltgendarm und die Bundeswehr mischt kräftig mit. (...)

    Diese Entwicklung und die Delegitimierung der DDR, mit ihr die Delegitimierung ihres Staatsziels Antifaschismus, bereiten den Boden für das rechtsextreme Gedankengut in der Bundesrepublik Deutschland vor. (...)

    Wir werden es nur wirksam zurückdrängen können, wenn sich in jeder Stadt und in jeder Gemeinde Bündnisse gegen Rechts bilden, die sich zu einem Netzwerk gegen den Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit zusammenschließen.

    Es reicht nicht, die Entwicklung stirnrunzelnd auf dem Sofa zur Kenntnis zu nehmen. Man muss selbst etwas tun. Ich rufe Sie auf, sich überall, wo sie zu Hause sind, sich in diesen Kampf mit einzubringen.
    Schön, nicht wahr? Da stellt sich eine Abgeordnete des Brandenburgischen Landtags vor eine Versammlung von Offizieren der Grenztruppe der DDR, diffamiert die Bundeswehr und fordert ihre "Genossen", die ehemaligen Grenzschützer der DDR, dazu auf, sich an einem "Bündnis gegen Rechts" zu beteiligen.



    Derweil tastet sich die SPD langsam zu einem Bündnis mit der Partei vor, der diese Abgeordnete angehört. Derweil übt diese Partei schon in zwei Bundesländern Regierungsgewalt aus.

    Und derweil bringt die "Zeit" eine Umfrage, wonach die Deutschen in ihrer großen Mehrheit links stehen.

    Das wundert mich nicht, weil ich hier immer wieder einmal darauf hingewiesen habe, daß es seit der Wiedervereinigung in Deutschland eine linke Mehrheit gibt.

    Zur Umfrage im Auftrag der "Zeit" wird es in den nächsten Tagen hier voraussichtlich noch einen Beitrag geben.

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    Die Flüge der Shuttles und der Ritt über den Bodensee

    Bei den meisten Flügen von Shuttles ging es zu wie beim Reiter über den Bodensee: "Es stocket sein Herz, es sträubt sich sein Haar / Dicht hinter ihm grinst noch die grause Gefahr."



    Die grause Gefahr, welcher, im Rückblick gesehen, alle Shuttle- Flüge ausgesetzt gewesen waren, bestand in der Möglichkeit einer Katastrophe, wie sie 2003 die "Columbia" traf. Es hätte bei jedem der vorausgehenden Flüge passieren können.

    Bei der "Columbia" war ein Teil der Hitze- Verkleidung durch Hartschaum beschädigt worden, der beim Start herabgefallen war. Durch dieses Loch konnte bei der Rückkehr zur Erde die gewaltige Reibungshitze, die beim Wiedereintritt in die Atmosphäre entsteht, die Außenhaut des Shuttle erreichen, sie an dieser Stelle zerstören und schließlich den Absturz des Shuttle bewirken.

    Es stellte sich sehr bald heraus, daß dieses Herabfallen eines Stücks Hartschaum nicht eine einmalige Panne gewesen war, sondern daß dergleichen alle früheren Shuttle-Flüge begleitet hatte. Nur war der Schaden eben, wie es das Glück gewollt hatte, zuvor immer so ausgefallen, daß es nicht zu einer Katastrophe gekommen war.

    Im Nachhinein grinste die grause Gefahr; aber es war gut gegangen, wie der Ritt über den zugefrorenen Bodensee bei Gustav Schwab. Man hatte die Gefahr nicht gesehen; so wie Schwabs Reiter nicht ahnte, daß er über den See ritt.

    In den vier Jahren, die seit dem Absturz der "Columbia" vergangen sind, hat die NASA alles Erdenkliche getan, diese Gefahr zu beseitigen. Vergebens. Das stellte sich beim Flug der "Atlantis" im vergangenen Juni heraus.

    Und jetzt ist es der "Endeavour" wiederum zugestoßen: Wieder klafft ein Loch in der Hitze- Beschichtung. Diesmal anscheinend ein besonders tiefes, das bis zur Außenhaut des Shuttle zu reichen scheint. Diesmal, wie es scheint, nicht durch herabfallenden Hartschaum geschlagen, sondern durch einen Eisbrocken. Eis entsteht an der Außenhaut des Tanks, weil Wasserstoff als Antriebsmittel auf sehr tiefe Temperaturen heruntergekühlt werden muß; nur dann ist er flüssig.



    Wie kommt es, daß die Ingenieure der NASA und ihrer Kontraktoren, die dieses technisch brillante Fluggerät konstruiert haben, die die "Endeavour" gerade von Grund auf überholt und modernisiert haben, dieses simple Problem nicht in den Griff bekommen?

    Weil es nicht lösbar ist.

    Es ist deshalb nicht lösbar, weil es aus dem konstruktiven Konzept des Shuttle folgt. Vor gut einem Jahr, als nach der langen, durch die "Columbia"- Katastrophe erzwungenen Pause die "Discovery" wieder flog, habe ich das im einzelnen zu erläutern versucht.

    Kurz gesagt: Alle anderen bemannten Raumfahrzeuge - von den frühen "Mercury"- und "Wostok"- Kapseln bis zu den "Apollo"- Kapseln und den heute noch von den Russen und (in abgewandelter Form) von den Chinesen verwendeten "Sojus"- Kapseln - sitzen oben auf einer Rakete, so wie das jeder Satellit beim Abschuß tut.

    Nicht aber das Shuttle.

    Die Idee beim Shuttle (die ursprünglich auf das Projekt "Dyna Soar" des deutschen Ingenieurs Sänger zurückgeht) ist, daß nicht das Raumschiff auf einer Rakete sitzt, sondern daß das Raumschiff selbst das Fluggerät ist, dem beim Start lediglich Tanks seitlich angehängt werden, es zum Teil überragend: Ein sehr großer Tank mit Flüssigbrennstoff und zwei Feststoffraketen ("Boosters").

    Und nun ist es so, daß bei jedem Start einer Rakete Teile sich lösen und herunterfallen. Stücke des Eises, das durch die Kühlung des Flüssigwasserstoffs und Flüssigsauerstoffs gebildet wird. Teile der Schaumstoff- Isolierung. Das ist so gut wie unvermeidlich, weil beim Start gewaltige Vibrationen entstehen.

    Sitzt die Raumkapsel oben auf der Rakete, dann ist sie dadurch logischerweise nicht gefährdet. Hängt aber der Tank seitlich an einem Shuttle, dann wird dieses getroffen.

    Und zwar auf der dem Tank zugewandten Seite. Das ist just die, wo sich die hochempfindlichen Hitzeschutz- Kacheln und Hitzeschutz- Matten befinden.



    Es ist schon eine Ironie: Dieses brillante Konzept des Shuttle, das wie eine Rakete startet, wie ein Satellit fliegt und wie ein Flugzeug landet, scheiterte am Ende unter anderem an diesem simplen, trivialen Problem.

    Für die nächst Generation bemannter Raumschiffe gibt die NASA dieses Konzept auf und kehrt wieder zur Raumkapsel zurück, die oben auf der Rakete hockt und die nach beendeter Mission an Fallschirmen herunterplumpst. Apollo 2.0 hat man das bereits genannt.

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    10. August 2007

    Marginalie: Gegen Genfood. Ein Sieg der Gewaltlosigkeit

    Im französischen Präsidentschafts- Wahlkampf trat ein schnauzbärtiger Kandidat auf, der sich dadurch auszeichnete, daß er bei seinen Reden aufgeregt gestikulierte und selten einen Satz grammatisch richtig zu Ende brachte. Es handelte sich um José Bové.

    Ein Mann mit einer klassischen Achtundsechziger- Biographie: Sohn eines Wissenschaftler- Ehepaars; teilweise in den USA aufgewachsen, wo sein Eltern in Berkeley forschten. Glänzendes Abitur, Vorbereitung auf eine Grande École. Dann aber Philosophiestudium, das er abbrach.

    Keine Berufsausbildung, Wehrdienst- Verweigerer, Reise nach Indien, das ganze Programm. Häufige Besuche bei einer Kommune im Languedoc, der Communautès de l'Arche, die die Gewaltlostigkeit predigt. Jetzt Schafzüchter im Larzac.



    Dieser Bové nun hat sich besonders das vorgeknöpft, was die französischen Grünen "malbouffe" nennen, was man mit Miesfraß übersetzen kann. Dazu rechnen sie Hamburger, Fritten, Cola, dergleichen.

    Und natürlich sind sie gegen gentechnisch veränderte Pflanzen. Aber ganz gewaltfrei. Sie ziehen höchstens, wie Gudrun Eussner in einem gewohnt gründlichen und analytischen Beitrag berichtet, auf die Felder und zupfen symbolisch je eine transgene Maispflanze aus oder schneiden sie ab.



    Gestern nun meldete der "Nouvel Observateur", daß in Lussas im Département Ardèche am Dienstag dieser Woche Maisfelder zerstört wurden. Ingesamt 1,7 Hektar - ein Drittel einer von drei Parzellen des dort angebauten transgenen Maises.

    Am gleichen Tag wurden in Jonquières im Département Vaucluse tausend Quadratmeter einer Parzelle zerstört, auf der transgener Mais angebaut wurde.

    Dort, im Département Vaucluse, hatten am Samstag das Kollektiv von Genmais- GegnerInnen der Region Alpen- Côte d'Azur eine Erklärung gegen den Anbau herausgegeben.

    Auf dem Feld des Bauern im Département Ardèche, dessen Besitz zerstört worden war, hinterließen die Täter ein Nachricht: "La terre n'appartient pas à l'homme"; die Erde gehört nicht dem Menschen.



    So sind sie, diese Gewaltlosen. Sie wenden nie Gewalt an, es sei denn gegen Sachen. Es sei denn, die Gewalt richtet sich gegen das, was andere sich erarbeitet haben.

    Denn es gehört ihnen ja nicht, den Bauern, die ihr Geld in diese Felder investiert, die sie beackert haben.

    So sagte es - so wird es ihm, genauer gesagt, zugeschrieben - der Häuptling Seattle. So schrieben es die Verbrecher auf das hinterlassene Blatt Papier.

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    9. August 2007

    Der Fall Marco Weiss: Zwei Clashes of Cultures. Geklärte Fakten

    Der Fall Marco Weiss hat alle Ingredienzien eines Kriminalfalls, der die Gemüter erregt; fast einer Cause Célèbre, auch wenn es sich nicht um ein Kapitalverbrechen handelt.

    Es geht um Sexualität, noch dazu den Vorwurf sexueller Handlungen an einem Kind.

    Es geht sodann um eine Grundangst vieler Touristen: Im fremden Land in die Fänge einer Justiz zu geraten, deren Rechtsverständnis nicht das unsere ist; in einem Gefängnis festgehalten zu werden, dessen Lebensbedingungen in Deutschland keinem Schäferhund zugemutet werden dürften.

    Es geht weiterhin um einen Clash of Cultures, und zwar gleich einen doppelten.



    Erstens zwischen deutscher und türkischer Kultur.

    In der Türkei, zwar noch der Form nach säkular, aber von einer islamistischen Partei regiert, findet in den Ferienorten, findet zumal in Antalya, wo sich der Fall zutrug, Saison für Saison ein Festival des Hedonismus, der sexuellen Freizügigkeit statt.

    In einem Land, in dem immer mehr Frauen wenn auch nicht die Burka, so doch das Kopftuch tragen, hüpfen die jungen Mädchen im Bikini am Strand umher. In einer Kultur, die alle Sexualität hinter die Mauern der Wohnung verbannt, findet in den Tourismus- Gebieten öffentliches Küssen und Knutschen statt.

    Gewiß, man braucht das Geld der Touristen. Junge Türken mögen auch die sexuelle Freizügigkeit der englischen und deutschen Mädchen schätzen. Achten dürften die wenigsten sie dafür.



    Die deutschen Stimmen in diesem Clash sind bekannt; und sie sind lebhaft. Man braucht sich nur eine der vielen Internet- Diskussionen zum Thema anzusehen, beipielsweise die in Welt-Online im Juni und Juli.

    Aber die türkische emotionale Reaktion dürfte nicht weniger heftig sein. Einen Eindruck davon gibt vielleicht, was Emre aus Pennsylvania dazu in der "London Times" kommentiert:
    It is amazing to see how such an incident provokes the racio-supermacist feelings in our "always morally right friends" in Europe. How conveniently this incident proves that we Turks are bloodthirsty savages who need to be civilized. Right?

    Es ist erstaunlich, zu beobachten, wie sehr ein solcher Vorfall die Gefühle rassischer Überlegenheit bei unseren "Freunden, die immer moralisch im Recht sind" in Europa auslöst. Wie passend beweist doch dieser Vorfall, daß wir Türken blutdürstige Wilde sind, die zivilisiert werden müssen. Nicht wahr?



    Der zweite Clash in diesem Fall ist sozusagen ein innerkultureller: Offenbar traf die Weltanschauung der Mutter von Charlotte M. auf die lockeren sexuellen Umgangsformen, wie sie unter amerikanischen, unter westeuropäischen Jugendlichen heutzutage üblich sind, zumal im Urlaub.

    Nach allem, was man über diese Mutter weiß - ich habe im Web wenig genug über sie finden können -, ist sie eine fromme Christin, für die es offenbar eine Katastrophe war, daß ihr Kind mit 13 Jahren einen sexuellen Kontakt hatte. Eine Nachbarin sagte, Charlotte habe noch nie einen Freund gehabt.

    Es liegt nahe, daß die Mutter den Vorfall nur dann mit ihrem Weltbild, dem Selbstverständnis ihrer Familie und auch mit deren Ansehen in der Gemeinde vereinbaren konnte, wenn sie ihn als eine sexuelle Aggression durch Marco Weiss sah; ihn jedenfalls so darstellte.



    Wenn ein Fall sich derart sozusagen im Schnittpunkt mehrerer Emotionalisierungen befindet, dann kann man ihn nüchtern erst dann betrachten, wenn über die Fakten einigermaßen Klarheit herrscht.

    Bis gestern war da nicht der Fall. Ich habe deshalb über das Thema nichts geschrieben, weil ich den Eindruck hatte, es nicht beurteilen zu können.

    Seit gestern hat sich die Situation verändert. In dem Prozeß trat der Arzt Levent Hekim als Zeuge auf, der Charlotte M. unmittelbar nach dem Vorfall gynäkologisch untersucht hatte. Und es wurde der junge Mann befragt, der zu der betreffenden Zeit in dem Apartment anwesend war, sich aber auf den Balkon begeben hatte.

    Hekims Aussage ist zum Beispiel im "Tagesspiegel" zu lesen:
    (...) der türkische Gynäkologe Levent Hekim (58), der die 13-jährige Britin Charlotte nach jener Nacht vor vier Monaten untersucht hat, hat keine Anzeichen für eine Vergewaltigung des Mädchens gefunden. Er schildert Journalisten nach seiner Zeugenaussage, was sich damals ereignet hat.

    Danach war Charlotte mit ihrer Mutter zunächst beim Hotelarzt. Der habe sich für nicht zuständig erklärt und die Mutter an das Krankenhaus verwiesen. Dort sei das Mädchen ganz entspannt gewesen. Die Frage, ob ihr Gewalt angetan worden sei, habe sie verneint. Sie habe Marco selbst eingeladen, gibt der Arzt die Aussage wieder.
    Der junge Mann, der sich während des Vorfalls auf dem Balkon des Appartments aufgehalten hatte, sagte ähnlich aus (er war, mit unkenntlich gemachtem Gesicht, gestern im deutschen TV zu sehen): Er hätte nichts von einem "Gerangel" mitbekommen, und Charlotte sei nach dem Vorfall ganz entspannt gewesen.



    Mir scheint bei diesem Stand der Dinge, daß der Vorgang im wesentlichen aufgeklärt ist. Es gibt keinen Hinweis auf eine Vergewaltigung, es gibt keinen Hinweis darauf, daß Marco Weiss überhaupt Gewalt angewandt hat. Alles bestätigt die Version, die er von Anfang an vorgetragen hat: Es habe in beiderseitigem Einvernehmen Petting gegeben, und dabei habe er einen Samenerguß gehabt.

    Bleibt die Frage, ob Marco Weiss sich dennoch strafbar gemacht hat, indem er mit einem dreizehnjährigen Mädchen solche sexuelle Handlungen vornahm.

    Wie das nach türkischem Recht ist, habe ich leider nicht in Erfahrung bringen können. Nach deutschem Recht müßte Marco Weiss aber sehr wahrscheinlich freigesprochen werden.

    Das ist einem Artikel von Stefan Kirchner im "German Law Journal" zu entnehmen, dessen Tenor es allerdings ist, im Gegenteil zu zeigen, daß auch nach deutschem Recht Marco Weiss durchaus unter Umständen verurteilt werden könnte.

    Aber der Artikel erschien, bevor die jetzt vorliegenden Fakten bekannt waren. Kirchner schrieb:
    Should the defendant have erred regarding the age of the victim, it would mean that he was not aware of the fact that a requirement for criminal law consequences of his behavior – in this case the young age of the girl – was met. In this case, the perpetrator is considered to have acted without intent to commit the crime, § 16 (1) 1 StGB.

    (...) Among them is the question of whether the victim consented to the sexual activities and if so, does it matter ? If the victim freely consented and was able to do so, no crime has been committed.
    Wenn Marco Weiss hinsichtlich des Alters von Charlotte im Irrtum war, schreibt Kirchner, dann kann er nicht verurteilt werden. Wenn sie den sexuellen Handlungen zugestimmt hat, dann kann Marco nicht verurteilt werden. Nach deutschem Recht.

    Das zweite - daß Charlotte einverstanden war - ist durch die Aussagen des Arztes und des jungen Engländers belegt. Das erste - daß er der Meinung was, sie sei fünfzehn - sagt Marco Weiss selbst aus; und es dürfte ihm schwer zu widerlegen sein.



    Noch eine Bemerkung:

    Es gibt einen Grund dafür, daß ich mich jetzt doch noch ausführlich mit dem Fall befaßt habe. Er quillt einerseits sozusagen über von Irrationalem - nationalen Empfindlichkeiten, Vorurteilen, religiöser Befangenheit. Andererseits scheint es jetzt, daß nicht mehr Aussage gegen Aussage steht, sondern daß der Fall rational und faktenorientiert entschieden werden kann.

    Es geht also um Irrationalismus und Vorurteil vs. Vernunft und Aufklärung. Und das interessiert mich immer.

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