Kein deutscher Staat ist so von Legenden umwoben wie Preußen.
Einst von Legenden, die es verherrlichten. Zuerst im Kaiserreich, in dem es das dominierende deutsche Bundesland war. Dann in der Weimarer Zeit, in der diejenigen, die mit dieser Demokratie nicht zurechtkamen, ihren "alten Kaier Wilhelm wiederhaben" wollten.
Schließlich, in einer absurden Geschichtsklitterei, unter den Nazis, die ausgerechnet den preußischen Rechtsstaat als einen Vorläufer ihres Unrechtsstaats in Anspruch zu nehmen versuchten; die den brutalen Psychopathen Hitler als Nachfolger ausgerechnet des hochgebildeten, durch die französische Kultur geprägten Friedrich II. darzustellen trachteten.
Ob die Nazis damit bei den Deutschen viel Erfolg hatten, weiß ich nicht. Bei den Alliierten jedenfalls wirkte ihre Propaganda nachgerade perfekt: Der Alliierte Kontrollrat löste mit Gesetz Nr. 46 vom 25. Februar 1947 Preußen auf; und zwar mit der Begründung, es sei ein "Träger des Militarismus und der Reaktion in Deutschland" gewesen.
So sagte es der Alliierte Kontrollrat; wobei es bemerkenswert ist, daß die Amerikaner, die Engländer, die Franzosen sich von den Russen den Begriff der "Reaktion" oktroyieren ließen; einen Begriff, der bekanntlich ein Juwel im propagandistischen Schatzkästlein der marxistischen ebenso wie der nationalen Sozialisten ist ("Kameraden, die Rotfront und Reaktion erschossen, marschier'n im Geist in unsren Reihen mit").
Mit Preußens Gloria also war es ab 1945 vorbei. Das negative Bild Preußens, das die kommunistische Propaganda verbreitete (die immer auf Feindbildern basiert; die immer Haßobjekte aufbaut) - dieses Bild prägte erstaunlicherweise, eigentlich unfaßbarerweise auch das Verständnis Preußens, das in der Bundesrepublik überwog.
So sehr war (und ist) dieses Bild prägend, daß 1996, als die Fusion der Länder Berlin und Brandenburg geplant war, dieses neue Bundesland nicht - was doch eigentlich selbstverständlich gewesen wäre - "Preußen" heißen sollte, sondern "Berlin-Brandenburg".
Kurzum, das in Deutschland dominierende Bild Preußens im vergangenen halben Jahrhundert hatte wenig mit dem historischen Preußen zu tun; es war ein Werk kommunistischer Propaganda, die nur allzu bereitwillig von Sozialdemokraten, von vielen Liberalen, von der Öffentlichkeit übernommen wurde.
Jetzt also hat der "Spiegel" mit seiner aktuellen Titelgeschichte - ein Appetithäppchen daraus bietet "Spiegel-Online" - den Versuch unternommen, ein treffenderes, ein weniger propagandistisch eingefärbtes Bild Preußens zu entwerfen. Der von dem "Spiegel"- Redakteur und promovierten Historiker Klaus Wiegrefe geschriebene Beitrag konzentriert sich auf die Stein- Hardenberg'schen Reformen und ihr Umfeld. Kein glänzender, aber ein durchaus lesenswerter Artikel.
Ich könnte mir denken, daß mancher, der diesen Artikel gelesen hat, gern mehr über Preußen lesen möchte; mehr jenseits des gängigen Zerrbilds. Hierzu ein paar Anregungen, die auf meinen eigenen Leseerfahrungen basieren.
Mir ist es - natürlich - so gegangen wie fast allen, die in der Nachkriegszeit aufgewachsen sind: Ich habe dieser Propaganda geglaubt. Ich habe daran geglaubt, daß es von Friedrich II über Bismarck und Wilhelm II eine historische Linie stracks zu Hitler gibt; eine Tradition der Demokratiefeindlichkeit, des Militarismus, des Kadaver- Gehorsams, der Unfreiheit nach innen, der Aggressivität nach außen.
Nachdenklich bin ich zunächst nicht durch die Lektüre historischer Texte geworden, sondern durch Fontane. Fontane, den ein Verhältnis kritischer Sympathie mit dem preußischen Staat, auch mit dem preußischen Adel verband, entwirft ein ganz anderes Bild Preußens.
Ein Bild, das er nicht nur in den "Wanderungen durch die Mark Brandenburg" in zahllosen historischen Details, in lokalen Anekdoten zeichnet. Auch sein belletristisches Werk bietet einen ausgezeichneten Einblick in die preußische Gesellschaft, in die preußische Mentalität im 19. Jahrhundert. Gesehen mit dem Auge eines Autors, der wie kaum ein anderer seiner Zeit den Blick für Details hatte, der wie kaum ein anderer sich selbst zurücknahm, der den Menschen, den Verhältnissen gerecht zu werden versuchte, die er schilderte. Ein großer realistischer Autor, wie Deutschland ihn selten hatte.
Die meisten seiner Romane und Erzählungen schildern Einzelschicksale, wie das auch in ihrem Titel zum Ausdruck kommt ("Effi Briest", "Grete Minde", "Frau Jenny Treibel", "Schach von Wuthenow"). Zweimal aber hat Fontane ein breites, vielfältig gefächertes Bild der preußischen Gesellschaft entworfen: In seinem ersten Roman "Vor dem Sturm", der vor den Freiheitskriegen spielt, und in seinem letzten Roman "Der Stechlin".
Beide unbedingt zu empfehlen, wenn man das Preußen des 19. Jahrhunderts verstehen will; vor allem auch das wenig gelesene "Vor dem Sturm".
Es gibt einen modernen Autor, der im Geist Fontanes schreibt, der ihm in vielerlei Hinsicht ähnlich ist: Günter de Bruyn.
Ich habe ihn zu lesen angefangen, als er noch ein "Nischen- Autor" in der DDR war - einer, der sich nicht von den Kommunisten verbiegen ließ, der aber auch nicht als Dissident hervortrat.
Ein Autor, der in einer wunderbaren Sprache leise, fast möchte ich sagen: bescheidene Romane schrieb wie "Der buridanische Esel", "Märkische Forschungen", "Neue Herrlichkeit". Bilder aus dem Leben der DDR; realistisch und doch so zurückhaltend geschrieben, daß sie durch die Zensur kamen. Wie es tatsächlich in der DDR war, das konnte de Bruyn unbefangen freilich erst nach der Wiedervereinigung sagen; im zweiten Teil seiner Autobiographie, "Vierzig Jahre".
Auch in de Bruyns belletristischem Werk in der Zeit der DDR blitzte gelegentlich schon etwas von Preußen auf; von der ironischen Nüchternheit, von der heiteren Skepsis, die für Preußen bezeichnend gewesen waren. Auch damals war schon etwas vom historischen Interesse de Bruyns zu spüren. In seiner Biographie Jean Pauls zum Beispiel; der nun freilich kein Preuße war, aber doch ein sehr beliebter Autor in den Berliner Salons seiner Zeit.
Wie sehr de Bruyn, auch darin Fontane ähnlich, sich für die Kultur, für die Gesellschaft Preußens interessierte, das wurde aber erst in den Jahren nach der Wiedervereinigung erkennbar. Er schrieb mehrere Werke über das Spreeland, über Brandenburg. Teils populäre Einführungen; aber er schöpfte doch aus dem Schatz eines immensen historischen Wissens, wie auch Fontane.
Dann, ab Ende der neunziger Jahre, erschienen die eigentlich historischen Werke de Bruyns: "Die Finckensteins", "Preußens Luise", "Als Poesie gut. Schicksale aus Berlins Kunstepoche 1786 bis 1807" zum Beispiel. Glänzend geschrieben, wie alles von den Bruyn. Und "lehrreich". Hier paßt dieses etwas altväterliche Wort: Man "lernt" Preußen "verstehen", wie bei Fontane, wenn man diese Bücher liest.
Freilich sollte man Preußen nicht nur zu verstehen versuchen, sondern man sollte darüber auch etwas wissen. Zur Geschichte Preußens habe ich zwei Empfehlungen: Erstens Leopold von Rankes "Preußische Geschichte". Unerreicht in ihrer Objektivität, in ihrer wissenschaftlichen Präzision, ihrer Sachlichkeit. Und zweitens und vor allem Sebastian Haffners "Preußen ohne Legende".
Haffner war, professionell betrachtet, ein "Amateur- Historiker", denn promoviert hatte er in Jura. Er hat aber in vielen Jahrzehnten - beginnend schon in seiner Zeit in der Emigration, als Redakteur des "Observer" - ein historisches Wissen, ein historisches Verständnis erworben, um das ihn viele Fachhistoriker beneidet haben dürften.
Seine Geschichte der Revolution von 1919, seine Geschichte der deutsch- russischen Beziehungen, seine "Anmerkungen zu Hitler" sind beste Geschichtsschreibung. Und ganz besonders gilt das für dieses Buch über Preußen, das - als prächtiges gebundenes Werk, aber auch in der Paperback- Ausgabe - opulent illustriert ist.
Das Werk von Ranke scheint im Augenblick nur antiquarisch angeboten zu werden. Die Paperback- (="Taschenbuch"-) Ausgabe von "Preußen ohne Legende" ist aber anscheinend noch lieferbar; ISBN 3442755441
Einst von Legenden, die es verherrlichten. Zuerst im Kaiserreich, in dem es das dominierende deutsche Bundesland war. Dann in der Weimarer Zeit, in der diejenigen, die mit dieser Demokratie nicht zurechtkamen, ihren "alten Kaier Wilhelm wiederhaben" wollten.
Schließlich, in einer absurden Geschichtsklitterei, unter den Nazis, die ausgerechnet den preußischen Rechtsstaat als einen Vorläufer ihres Unrechtsstaats in Anspruch zu nehmen versuchten; die den brutalen Psychopathen Hitler als Nachfolger ausgerechnet des hochgebildeten, durch die französische Kultur geprägten Friedrich II. darzustellen trachteten.
Ob die Nazis damit bei den Deutschen viel Erfolg hatten, weiß ich nicht. Bei den Alliierten jedenfalls wirkte ihre Propaganda nachgerade perfekt: Der Alliierte Kontrollrat löste mit Gesetz Nr. 46 vom 25. Februar 1947 Preußen auf; und zwar mit der Begründung, es sei ein "Träger des Militarismus und der Reaktion in Deutschland" gewesen.
So sagte es der Alliierte Kontrollrat; wobei es bemerkenswert ist, daß die Amerikaner, die Engländer, die Franzosen sich von den Russen den Begriff der "Reaktion" oktroyieren ließen; einen Begriff, der bekanntlich ein Juwel im propagandistischen Schatzkästlein der marxistischen ebenso wie der nationalen Sozialisten ist ("Kameraden, die Rotfront und Reaktion erschossen, marschier'n im Geist in unsren Reihen mit").
Mit Preußens Gloria also war es ab 1945 vorbei. Das negative Bild Preußens, das die kommunistische Propaganda verbreitete (die immer auf Feindbildern basiert; die immer Haßobjekte aufbaut) - dieses Bild prägte erstaunlicherweise, eigentlich unfaßbarerweise auch das Verständnis Preußens, das in der Bundesrepublik überwog.
So sehr war (und ist) dieses Bild prägend, daß 1996, als die Fusion der Länder Berlin und Brandenburg geplant war, dieses neue Bundesland nicht - was doch eigentlich selbstverständlich gewesen wäre - "Preußen" heißen sollte, sondern "Berlin-Brandenburg".
Kurzum, das in Deutschland dominierende Bild Preußens im vergangenen halben Jahrhundert hatte wenig mit dem historischen Preußen zu tun; es war ein Werk kommunistischer Propaganda, die nur allzu bereitwillig von Sozialdemokraten, von vielen Liberalen, von der Öffentlichkeit übernommen wurde.
Jetzt also hat der "Spiegel" mit seiner aktuellen Titelgeschichte - ein Appetithäppchen daraus bietet "Spiegel-Online" - den Versuch unternommen, ein treffenderes, ein weniger propagandistisch eingefärbtes Bild Preußens zu entwerfen. Der von dem "Spiegel"- Redakteur und promovierten Historiker Klaus Wiegrefe geschriebene Beitrag konzentriert sich auf die Stein- Hardenberg'schen Reformen und ihr Umfeld. Kein glänzender, aber ein durchaus lesenswerter Artikel.
Ich könnte mir denken, daß mancher, der diesen Artikel gelesen hat, gern mehr über Preußen lesen möchte; mehr jenseits des gängigen Zerrbilds. Hierzu ein paar Anregungen, die auf meinen eigenen Leseerfahrungen basieren.
Mir ist es - natürlich - so gegangen wie fast allen, die in der Nachkriegszeit aufgewachsen sind: Ich habe dieser Propaganda geglaubt. Ich habe daran geglaubt, daß es von Friedrich II über Bismarck und Wilhelm II eine historische Linie stracks zu Hitler gibt; eine Tradition der Demokratiefeindlichkeit, des Militarismus, des Kadaver- Gehorsams, der Unfreiheit nach innen, der Aggressivität nach außen.
Nachdenklich bin ich zunächst nicht durch die Lektüre historischer Texte geworden, sondern durch Fontane. Fontane, den ein Verhältnis kritischer Sympathie mit dem preußischen Staat, auch mit dem preußischen Adel verband, entwirft ein ganz anderes Bild Preußens.
Ein Bild, das er nicht nur in den "Wanderungen durch die Mark Brandenburg" in zahllosen historischen Details, in lokalen Anekdoten zeichnet. Auch sein belletristisches Werk bietet einen ausgezeichneten Einblick in die preußische Gesellschaft, in die preußische Mentalität im 19. Jahrhundert. Gesehen mit dem Auge eines Autors, der wie kaum ein anderer seiner Zeit den Blick für Details hatte, der wie kaum ein anderer sich selbst zurücknahm, der den Menschen, den Verhältnissen gerecht zu werden versuchte, die er schilderte. Ein großer realistischer Autor, wie Deutschland ihn selten hatte.
Die meisten seiner Romane und Erzählungen schildern Einzelschicksale, wie das auch in ihrem Titel zum Ausdruck kommt ("Effi Briest", "Grete Minde", "Frau Jenny Treibel", "Schach von Wuthenow"). Zweimal aber hat Fontane ein breites, vielfältig gefächertes Bild der preußischen Gesellschaft entworfen: In seinem ersten Roman "Vor dem Sturm", der vor den Freiheitskriegen spielt, und in seinem letzten Roman "Der Stechlin".
Beide unbedingt zu empfehlen, wenn man das Preußen des 19. Jahrhunderts verstehen will; vor allem auch das wenig gelesene "Vor dem Sturm".
Es gibt einen modernen Autor, der im Geist Fontanes schreibt, der ihm in vielerlei Hinsicht ähnlich ist: Günter de Bruyn.
Ich habe ihn zu lesen angefangen, als er noch ein "Nischen- Autor" in der DDR war - einer, der sich nicht von den Kommunisten verbiegen ließ, der aber auch nicht als Dissident hervortrat.
Ein Autor, der in einer wunderbaren Sprache leise, fast möchte ich sagen: bescheidene Romane schrieb wie "Der buridanische Esel", "Märkische Forschungen", "Neue Herrlichkeit". Bilder aus dem Leben der DDR; realistisch und doch so zurückhaltend geschrieben, daß sie durch die Zensur kamen. Wie es tatsächlich in der DDR war, das konnte de Bruyn unbefangen freilich erst nach der Wiedervereinigung sagen; im zweiten Teil seiner Autobiographie, "Vierzig Jahre".
Auch in de Bruyns belletristischem Werk in der Zeit der DDR blitzte gelegentlich schon etwas von Preußen auf; von der ironischen Nüchternheit, von der heiteren Skepsis, die für Preußen bezeichnend gewesen waren. Auch damals war schon etwas vom historischen Interesse de Bruyns zu spüren. In seiner Biographie Jean Pauls zum Beispiel; der nun freilich kein Preuße war, aber doch ein sehr beliebter Autor in den Berliner Salons seiner Zeit.
Wie sehr de Bruyn, auch darin Fontane ähnlich, sich für die Kultur, für die Gesellschaft Preußens interessierte, das wurde aber erst in den Jahren nach der Wiedervereinigung erkennbar. Er schrieb mehrere Werke über das Spreeland, über Brandenburg. Teils populäre Einführungen; aber er schöpfte doch aus dem Schatz eines immensen historischen Wissens, wie auch Fontane.
Dann, ab Ende der neunziger Jahre, erschienen die eigentlich historischen Werke de Bruyns: "Die Finckensteins", "Preußens Luise", "Als Poesie gut. Schicksale aus Berlins Kunstepoche 1786 bis 1807" zum Beispiel. Glänzend geschrieben, wie alles von den Bruyn. Und "lehrreich". Hier paßt dieses etwas altväterliche Wort: Man "lernt" Preußen "verstehen", wie bei Fontane, wenn man diese Bücher liest.
Freilich sollte man Preußen nicht nur zu verstehen versuchen, sondern man sollte darüber auch etwas wissen. Zur Geschichte Preußens habe ich zwei Empfehlungen: Erstens Leopold von Rankes "Preußische Geschichte". Unerreicht in ihrer Objektivität, in ihrer wissenschaftlichen Präzision, ihrer Sachlichkeit. Und zweitens und vor allem Sebastian Haffners "Preußen ohne Legende".
Haffner war, professionell betrachtet, ein "Amateur- Historiker", denn promoviert hatte er in Jura. Er hat aber in vielen Jahrzehnten - beginnend schon in seiner Zeit in der Emigration, als Redakteur des "Observer" - ein historisches Wissen, ein historisches Verständnis erworben, um das ihn viele Fachhistoriker beneidet haben dürften.
Seine Geschichte der Revolution von 1919, seine Geschichte der deutsch- russischen Beziehungen, seine "Anmerkungen zu Hitler" sind beste Geschichtsschreibung. Und ganz besonders gilt das für dieses Buch über Preußen, das - als prächtiges gebundenes Werk, aber auch in der Paperback- Ausgabe - opulent illustriert ist.
Das Werk von Ranke scheint im Augenblick nur antiquarisch angeboten zu werden. Die Paperback- (="Taschenbuch"-) Ausgabe von "Preußen ohne Legende" ist aber anscheinend noch lieferbar; ISBN 3442755441
Für Kommentare und Diskussionen zu diesem Beitrag ist in "Zettels kleinem Zimmer" ein Thread eingerichtet. Wie man sich dort registriert, ist hier zu lesen. Registrierte Teilnehmer können Beiträge schreiben, die sofort automatisch freigeschaltet werden.