"Ein Jude kommt zum Rabbi und führt Klage gegen seinen betrügerischen Lieferanten. Der Rabbi hört aufmerksam zu und erklärt dann: 'Du hast recht'. Bald danach kommt der beschuldigte Lieferant und klagt seinerseits über den Ankläger. Der Rabbi hört wieder aufmerksam zu und sagt abermals: 'Du hast recht'. Die Frau des Rabbiners hat beide Entscheide mit angehört, und als der Lieferant weggegangen ist, sagt sie vorwurfsvoll zu ihrem Manne: 'Es können doch niemals beide recht haben!' Da gibt der Rabbi zu: 'Du hast auch recht.'"
So erzählt Salcia Landmann diesen jüdischen Witz, den ich - glaube ich - auch bei Freud gelesen habe. Es ist mein zweitliebster jüdischer Witz. (Na gut, der liebste: "Hast du gehört, unser Rabbi sagt, er spricht mit Gott" - "Ach was, da sagt der Rabbi die Unwahrheit" - "Kann nicht sein - würde Gott mit einem Lügner reden?").
Der Rabbi in dem ersten Witz ist nicht nur ein gerechter, sondern auch ein weiser Mann. Er weiß, daß jede Sache viele Seiten hat. Er ist ein Rabbi, der, wie jeder Rabbi, "klärt" - also nachdenkt - , ohne dadurch unbedingt zur Klarheit zu kommen. Auch das Klären kann zu dem Ergebnis führen, daß da etwas opak ist und es bleibt, so sehr man auch den Durchblick sucht.
Als ich vor ein paar Monaten in Paris war, habe ich in meiner Stammkneipe einen interessanten Mann getroffen.
Ich unterhielt mich mit einem in Paris lebenden Engländer über dies und jenes, wie man es eben nach dem einen oder anderen Glas Saint Pourçain tut - über Physik (der Amerikaner war Physiker), Neurologie, Künstliche Intelligenz; alles ins "bedeutend Allgemeine" gewendet, wie es die nächtliche Bistrot- Gestimmtheit mit sich bringt.
Jener andere Gast schien interessiert zuzuhören, hatte aber anscheinend Schwierigkeiten, unserem auf englisch geführten Gespräch zu folgen. Ich fragte ihn, ob wir ins Französische wechseln sollten. Ja, das wäre schön, sagte er.
Ich dachte, daß er sich jetzt am Gespräch beteiligen würde. Das tat er aber nicht, obwohl er jetzt mit noch größerer Aufmerksamkeit zuhörte
Ich fragte ihn, warum er so schweigsam sei. Seine verblüffende Antwort: Das alles interessiere ihn sehr. Er kenne sich auch ganz gut aus (was wohl stimmte; er entpuppte sich als Informatiker mit vielen Interessen). Aber, sagte er - er habe zu keinem der Themen, über die wir uns unterhielten, eine Meinung. Wenn der Physiker etwas sage, dann leuchte ihm das ein. Wenn ich diesem eine andere Meinung entgegenstelle - ja, auch das leuchte ihm sehr ein.
So sei er, sagte dieser Thekengenosse, immer gewesen: Er sei an vielem interessiert, lese sehr viel. Aber eine Meinung - nein, die habe er noch nie gehabt. Wie käme er dazu? Es gebe doch offensichtlich gute Argumente für alles und auch für das Gegenteil.
Er sei auch noch nie zur Wahl gegangen. Alle Parteien hätten doch gute Gründe für das, was sie propagierten.
Es gebe keine Kunst, keine Musik, die er bevorzuge. Er fände das alles sehr schön, wieso er sich denn da festlegen solle?
Er gehöre auch keiner Religion an. Aber Atheist - bewahre, das sei er nicht. Wie käme er dazu, das zu entscheiden, worüber sich die größten Gelehren nicht einig werden könnten?
Ich fragte ihn, wie er denn zu seinem Beruf gekommen sei. Nun ja, da sei er so hineingerutscht. Und er habe eine Stelle, die ihm, dem Junggesellen, sein Auskommen sichere; bei einer staatlichen Gesellschaft. Auf den Gedanken, einen besser bezahlten Job anzustreben, sei er nie gekommen.
Er habe mal diese, mal jene Freundin - aber heiraten, Kinder bekommen, das sei für ihn nie eine Perspektive gewesen.
Er machte einen fröhlichen, einen ausgeglichenen, ja fast einen weisen Eindruck, dieser Mann ohne Überzeugungen; nennen wir ihn Candide.
Und im Lauf des länger werdenden Abends merkte ich, wie der Physiker und ich in unseren Dialogen um die Gunst dieses stillen Weisen buhlten; wie wir scheinbar einander, in Wahrheit aber Candide ansprachen.
Wenn man es recht bedenkt, dann ist die Position Candides die einzige wirklich vertretbare.
Wenn jemand sich zu einer Meinung versteht, dann zeigt das, so könnte man überspitzt sagen, daß er nicht genug von der Sache versteht. Würde er die Sache von allen ihren Seiten kennen und alle diese Seiten würdigen können, dann müßte er zur Haltung des Rabbis, zur Haltung Candides gelangen.
Nur wäre er dann natürlich "lost in thought" - nicht nur ins Denken, in Gedanken verloren, sondern mit seinem Denken überhaupt verloren. Denn er könnte ja nicht handeln.
Hamlet - so hat man das interpretiert - denkt und überlegt und zweifelt, um nicht handeln zu müssen - "sicklied o'er with the pale cast of thought". "Der angebornen Farbe der Entschließung wird des Gedankens Blässe angekränkelt" hat Schlegel diese Passage übersetzt.
Um handeln zu können, müssen wir über das hinausgehen, was wir sicher wissen. Selbst unser Wahrnehmungsapparat verfährt nach diesem Prinzip, im Dienst unseres Handelns. Wir können eine mehrdeutige Figur auf die eine oder die andere Art sehen - aber nie können wir beide Versionen zugleich sehen. Unser Gehirn ist da rigider als der Rabbi in dem Witz und als mein Bekannter Candide.
Auch Wissenschaftler müssen in dieser Weise über das hinausgehen, was sie eigentlich wissen. Wenn man Daten erhoben hat und sie publizieren will, muß man sie in der Regel auch interpretieren. Man muß sich für eine Deutung, für eine Theorie entscheiden. Obwohl man natürlich meist weiß, daß man dieselben Daten auch anders interpretieren kann.
Manchmal diskutiert man diese alternativen Interpretationen. Aber meist nur, um zu sagen, warum man sie weniger plausibel findet als die eigene. Wohl wissend, daß die nicht weniger intelligente und belesene Kollegin X mit ebenso guten Gründen eine dieser alternativen Deutungen vertreten wird; man ahnt schon den Artikel, den sie schreiben wird.
"On going beyond the information given", hieß ein berühmter Aufsatz, den Jerome S. Bruner, einer der Mitbegründer der kognitiven Neurowissenschaft, vor genau einem halben Jahrhundert publizierte.
Freilich ist es vom Kontext abhängig, wie weit man über die gegebene Information hinausgeht. Solange man rezeptiv bleibt, braucht man das kaum. Man kann dies bedenken, jenes; man kann die eine wie die andere Seite sehen, gleich dem Rabbi.
Sobald man zu produzieren beginnt, wird das schwierig. Das gilt auch für das Produzieren von Texten.
Schreiben ist ja auch Handeln. Wie immer, wenn man handelt, muß man Entscheidungen treffen. Das Material selegieren, einen roten Faden finden, eine message oft auch.
Man muß oft Einwände ausklammern, wenn man eine Argumentation überzeugend vortragen will. Man muß Farbe bekennen, Position beziehen. Nichts ist mühsamer zu lesen als der Text eines Autors, der sich sozusagen selbst ständig ins Wort fällt. Der uns statt eines roten Fadens Patchwork bietet. Der uns nicht das geordnete Ergebnis seines Überlegens mitteilt, sondern dessen krausen Verlauf.
Mir geht es oft so, daß ich zunächst zu einem Thema keine Meinung habe. Bei politischen Themen liegt das manchmal daran, daß der Konservative und der Liberale in mir sich einig werden müssen. Oder ich kenne die Fakten nicht (wie beispielsweise beim aktuellen Fall Mügeln, zu dem ich mich deshalb bisher nicht geäußert habe). Oder ich habe mir über das betreffende Thema schlicht noch zu wenig Gedanken gemacht. Dann bin ich sozusagen noch im unschuldigen Stand des Rabbis in dem Witz.
Dann entsteht die Idee für einen Blog-Beitrag. Ich möchte dort eine deutliche Meinung vertreten; diejenige, für die ich mich am Ende entschieden habe. Also rücken die Argumente für diese Meinung in den Vordergrund. Also klammere ich Einwände aus oder versuche sie zu widerlegen.
Das mag manchmal als Einseitigkeit erscheinen. So, wie es heute Libero erschienen ist, dessen kluger, mich sanft tadelnder Beitrag in "Zettels kleinem Zimmer" mich angeregt hat, die jetzigen Überlegungen anzustellen.
Und sie einseitig, an einem roten Faden aufgereiht, argumentativ zugespitzt, in die Form dieses Essays zu befördern.
So erzählt Salcia Landmann diesen jüdischen Witz, den ich - glaube ich - auch bei Freud gelesen habe. Es ist mein zweitliebster jüdischer Witz. (Na gut, der liebste: "Hast du gehört, unser Rabbi sagt, er spricht mit Gott" - "Ach was, da sagt der Rabbi die Unwahrheit" - "Kann nicht sein - würde Gott mit einem Lügner reden?").
Der Rabbi in dem ersten Witz ist nicht nur ein gerechter, sondern auch ein weiser Mann. Er weiß, daß jede Sache viele Seiten hat. Er ist ein Rabbi, der, wie jeder Rabbi, "klärt" - also nachdenkt - , ohne dadurch unbedingt zur Klarheit zu kommen. Auch das Klären kann zu dem Ergebnis führen, daß da etwas opak ist und es bleibt, so sehr man auch den Durchblick sucht.
Als ich vor ein paar Monaten in Paris war, habe ich in meiner Stammkneipe einen interessanten Mann getroffen.
Ich unterhielt mich mit einem in Paris lebenden Engländer über dies und jenes, wie man es eben nach dem einen oder anderen Glas Saint Pourçain tut - über Physik (der Amerikaner war Physiker), Neurologie, Künstliche Intelligenz; alles ins "bedeutend Allgemeine" gewendet, wie es die nächtliche Bistrot- Gestimmtheit mit sich bringt.
Jener andere Gast schien interessiert zuzuhören, hatte aber anscheinend Schwierigkeiten, unserem auf englisch geführten Gespräch zu folgen. Ich fragte ihn, ob wir ins Französische wechseln sollten. Ja, das wäre schön, sagte er.
Ich dachte, daß er sich jetzt am Gespräch beteiligen würde. Das tat er aber nicht, obwohl er jetzt mit noch größerer Aufmerksamkeit zuhörte
Ich fragte ihn, warum er so schweigsam sei. Seine verblüffende Antwort: Das alles interessiere ihn sehr. Er kenne sich auch ganz gut aus (was wohl stimmte; er entpuppte sich als Informatiker mit vielen Interessen). Aber, sagte er - er habe zu keinem der Themen, über die wir uns unterhielten, eine Meinung. Wenn der Physiker etwas sage, dann leuchte ihm das ein. Wenn ich diesem eine andere Meinung entgegenstelle - ja, auch das leuchte ihm sehr ein.
So sei er, sagte dieser Thekengenosse, immer gewesen: Er sei an vielem interessiert, lese sehr viel. Aber eine Meinung - nein, die habe er noch nie gehabt. Wie käme er dazu? Es gebe doch offensichtlich gute Argumente für alles und auch für das Gegenteil.
Er sei auch noch nie zur Wahl gegangen. Alle Parteien hätten doch gute Gründe für das, was sie propagierten.
Es gebe keine Kunst, keine Musik, die er bevorzuge. Er fände das alles sehr schön, wieso er sich denn da festlegen solle?
Er gehöre auch keiner Religion an. Aber Atheist - bewahre, das sei er nicht. Wie käme er dazu, das zu entscheiden, worüber sich die größten Gelehren nicht einig werden könnten?
Ich fragte ihn, wie er denn zu seinem Beruf gekommen sei. Nun ja, da sei er so hineingerutscht. Und er habe eine Stelle, die ihm, dem Junggesellen, sein Auskommen sichere; bei einer staatlichen Gesellschaft. Auf den Gedanken, einen besser bezahlten Job anzustreben, sei er nie gekommen.
Er habe mal diese, mal jene Freundin - aber heiraten, Kinder bekommen, das sei für ihn nie eine Perspektive gewesen.
Er machte einen fröhlichen, einen ausgeglichenen, ja fast einen weisen Eindruck, dieser Mann ohne Überzeugungen; nennen wir ihn Candide.
Und im Lauf des länger werdenden Abends merkte ich, wie der Physiker und ich in unseren Dialogen um die Gunst dieses stillen Weisen buhlten; wie wir scheinbar einander, in Wahrheit aber Candide ansprachen.
Wenn man es recht bedenkt, dann ist die Position Candides die einzige wirklich vertretbare.
Wenn jemand sich zu einer Meinung versteht, dann zeigt das, so könnte man überspitzt sagen, daß er nicht genug von der Sache versteht. Würde er die Sache von allen ihren Seiten kennen und alle diese Seiten würdigen können, dann müßte er zur Haltung des Rabbis, zur Haltung Candides gelangen.
Nur wäre er dann natürlich "lost in thought" - nicht nur ins Denken, in Gedanken verloren, sondern mit seinem Denken überhaupt verloren. Denn er könnte ja nicht handeln.
Hamlet - so hat man das interpretiert - denkt und überlegt und zweifelt, um nicht handeln zu müssen - "sicklied o'er with the pale cast of thought". "Der angebornen Farbe der Entschließung wird des Gedankens Blässe angekränkelt" hat Schlegel diese Passage übersetzt.
Um handeln zu können, müssen wir über das hinausgehen, was wir sicher wissen. Selbst unser Wahrnehmungsapparat verfährt nach diesem Prinzip, im Dienst unseres Handelns. Wir können eine mehrdeutige Figur auf die eine oder die andere Art sehen - aber nie können wir beide Versionen zugleich sehen. Unser Gehirn ist da rigider als der Rabbi in dem Witz und als mein Bekannter Candide.
Auch Wissenschaftler müssen in dieser Weise über das hinausgehen, was sie eigentlich wissen. Wenn man Daten erhoben hat und sie publizieren will, muß man sie in der Regel auch interpretieren. Man muß sich für eine Deutung, für eine Theorie entscheiden. Obwohl man natürlich meist weiß, daß man dieselben Daten auch anders interpretieren kann.
Manchmal diskutiert man diese alternativen Interpretationen. Aber meist nur, um zu sagen, warum man sie weniger plausibel findet als die eigene. Wohl wissend, daß die nicht weniger intelligente und belesene Kollegin X mit ebenso guten Gründen eine dieser alternativen Deutungen vertreten wird; man ahnt schon den Artikel, den sie schreiben wird.
"On going beyond the information given", hieß ein berühmter Aufsatz, den Jerome S. Bruner, einer der Mitbegründer der kognitiven Neurowissenschaft, vor genau einem halben Jahrhundert publizierte.
Freilich ist es vom Kontext abhängig, wie weit man über die gegebene Information hinausgeht. Solange man rezeptiv bleibt, braucht man das kaum. Man kann dies bedenken, jenes; man kann die eine wie die andere Seite sehen, gleich dem Rabbi.
Sobald man zu produzieren beginnt, wird das schwierig. Das gilt auch für das Produzieren von Texten.
Schreiben ist ja auch Handeln. Wie immer, wenn man handelt, muß man Entscheidungen treffen. Das Material selegieren, einen roten Faden finden, eine message oft auch.
Man muß oft Einwände ausklammern, wenn man eine Argumentation überzeugend vortragen will. Man muß Farbe bekennen, Position beziehen. Nichts ist mühsamer zu lesen als der Text eines Autors, der sich sozusagen selbst ständig ins Wort fällt. Der uns statt eines roten Fadens Patchwork bietet. Der uns nicht das geordnete Ergebnis seines Überlegens mitteilt, sondern dessen krausen Verlauf.
Mir geht es oft so, daß ich zunächst zu einem Thema keine Meinung habe. Bei politischen Themen liegt das manchmal daran, daß der Konservative und der Liberale in mir sich einig werden müssen. Oder ich kenne die Fakten nicht (wie beispielsweise beim aktuellen Fall Mügeln, zu dem ich mich deshalb bisher nicht geäußert habe). Oder ich habe mir über das betreffende Thema schlicht noch zu wenig Gedanken gemacht. Dann bin ich sozusagen noch im unschuldigen Stand des Rabbis in dem Witz.
Dann entsteht die Idee für einen Blog-Beitrag. Ich möchte dort eine deutliche Meinung vertreten; diejenige, für die ich mich am Ende entschieden habe. Also rücken die Argumente für diese Meinung in den Vordergrund. Also klammere ich Einwände aus oder versuche sie zu widerlegen.
Das mag manchmal als Einseitigkeit erscheinen. So, wie es heute Libero erschienen ist, dessen kluger, mich sanft tadelnder Beitrag in "Zettels kleinem Zimmer" mich angeregt hat, die jetzigen Überlegungen anzustellen.
Und sie einseitig, an einem roten Faden aufgereiht, argumentativ zugespitzt, in die Form dieses Essays zu befördern.
Für Kommentare und Diskussionen zu diesem Beitrag ist in "Zettels kleinem Zimmer" ein Thread eingerichtet. Wie man sich dort registriert, ist hier zu lesen. Registrierte Teilnehmer können Beiträge schreiben, die sofort automatisch freigeschaltet werden.