Einmal, da werden
die über das Wild die Gewalt
hatten auf Erden
- färbt sich wieder der Wald
gelber und gelber -,
selber den Hunden zum Raub
fallen und selber
liegen auf blutigem Laub.
Einmal, da werden,
in den langen Alleen,
sie vor den Pferden
selber im Läuten gehn,
rennen und rasen,
die die Jagenden sie
sehen, da blasen
ihre Piquere: La Vue!
Keuchender Meute
werfen die Jäger dann ihr
Recht am Gescheide
zu von jeglichem Tier.
Unter den Bäumen
raufen die Hunde im Zorn.
In ihren Träumen
geistert noch lange das Horn.
- Alexander Lernet-Holenia, "La chasse à force des chiens courants" (1935)
* * *
Als sich die Gesellschaft am Abend vor dem großen Kamin versammelt hatte, in dem die Scheite loderten, und die Männer mit Gläsern und Pfeifen in den Händen in bequemen Sesseln davor saßen, und das stürmische Wetter draußen, die Geborgenheit drinnen und die Jahreszeit - denn es war Weihnachten -, als all das nach einer merkwürdigen und unheimlichen Geschichte verlangte, da erzählte der frühere Jagdhundemeister seine Geschichte.
Mir ist auch einmal etwas Merkwürdiges passiert. Das war, als ich die Jagdhundmeuten in Bromley und Sydenham betreute, in meinem letzten Jahr dort. Es war sogar der allerletzte Tag der Jagdsaison. Es lohnte sich nicht mehr, weiter zu jagen, weil es im ganzen Landstrich keine Füchse mehr gab, und London so langsam seine Krankenarme um uns schloß. Von allen Hundezwingern aus konnte man die Stadt in der Ferne anrücken sehen wie eine in grau getarnte Armee. Und die Mengen an neuen Villen unten in der Tälern vermehrten sich mit jedem Jahr, das verging. Unsere Fuchsdeckungen lagen alle oben auf den Hügelkämmen, und sobald die Stadt sich daran machte, die Täler zu besetzen, verschwanden die Füchse von dort, ließen die Gegend hinter sich und kehrten nie zurück.
Ich nehme an, daß sie im Schutz der Dunkelheit weite Strecken hinter sich brachten. Jedenfalls war es schon April geworden, und wir hatten den ganzen Tag über vergeblich gejagt, und als wir die Hunde zum letzten Mal an diesem letzten Tag der Jagdsaison ausschwärmen ließen, scheuchten wir einen Fuchs auf. Er schoß aus dem Dickicht heraus, fort von London und den Eisenbahnstrecken und Villen und den Leitungen, in Richtung Kent mit seinen lockeren Kalkböden. Ich kam mir vor wie damals als Kind, als ich beim Spielen auf eine Gartentür gestoßen war, die jemand offengelassen hatte und ich sie aufstieß und das weite Land sich vor mir mit einen Kornfeldern auftat, die sich im Wind wiegten.
Wir verfielen in einen steten Galopp und die Felder begannen unter uns dahinzufließen, und ein frischer Wind erhob sich. Wir ließen die Lehmböden mit ihren Farnbeständen hinter uns und gerieten in ein Tal am Rande der Kalkhügel. Wir ritten hinein und sahen den Fuchs wie einen dunklen Schatten am Hang gegenüber hinaufschießen und in einem Waldstück auf der Kuppe verschwinden. Wir sahen nur kurz Schlüsselblumen aufblitzen, dann kamen wir unter den Bäumen hervor; die Hunde jagten perfekt und der Fuchs rannte geradeaus wie ein Pfeil, den ein Bogenschütze von der Sehne gelassen hat. Mir ging auf, daß uns eine herrliche Jagd bevorstand und holte tief Luft; die belebende Luft an diesem perfekten Frühlingsabend und der Gedanke an eine großartige Hatz wirkten auf mich wie ein berauschender Wein. Unser Weg führte uns in ein neues Tal; breite Felder erstreckten sich davor, von niedrigen Hecken durchzogen; unter uns plätscherte ein blauer Bach und Rauch stieg aus den Schornsteinen eines kleinen Dorfs auf; auf den Hängen drüben tanzte das Sonnenlicht, und darüber erhoben sich finster blickend die alten Bergkämme, während sie von Frühling träumten. Das "Feld" war weit hinter uns zurückgefallen und mein einziger Begleiter war James, mein alter oberster Meutenhelfer, der selbst fast über die Instinkte eines Jagdhundes verfügte und Füchse mit einem abgrundtiefen Groll haßte, den man ihm anhörte, sobald er etwas sagte.
Der Fuchs schoß durch das Tal wie ein Zug auf dem Gleis, und wieder rasten wir ohne jede Pause durch den Wald auf dem Hügelkamm. Ich kann mich daran erinnern, daß wir Männer rufen und singen hörten, während sie von der Arbeit heimkehrten, und daß Kinder vor sich hin pfiffen; wir konnten es oben auf der Kuppe vom Dorf unten im Tal vernehmen. Danach trafen wir nicht mehr auf Dörfer, aber die Täler senkten und hoben sich vor uns wie ein Meer aus Wald und Stein, und vor uns huschte der Fuchs wie der Fliegende Holländer voraus. Außer meinem Jagdgehilfen war jetzt niemand mehr zu sehen; wir hatten beide das Pferd gewechselt, während wir die Meute zum letzten Mal ausschwärmen ließen.
Wir hatten zwei oder drei Mal in diesen weiten Tälern hinter dem Dorf angehalten, aber allmählich fing ich an, auf meine Eingebungen zu vertrauen. Ich war mir sicher, daß der Fuchs sich einfach geradeaus gegen den Wind halten würde, bis er tot zusammenbräche oder es dunkel würde und wir nicht mehr nachsetzen konnten, also gab ich die übliche Umsicht auf und preschte geradeaus; und jedesmal nahmen die Hunde die Spur wieder auf. Ich bin sicher, daß dieser Fuchs der letzte war, den es in unserem von Villen heimgesuchten Landstrich gehalten hatte und daß er schon lange vorhatte, sich zu den fernen Hügeln aufzumachen. Wenn wir einen Tag später gejagt hätten, hätten wir ihn nicht mehr angetroffen.
Der Abend hielt in den Tälern Einzug, aber die Hunde liefen immer noch, wie die langsamen Wolkenschatten an Sommertagen, die stets in Bewegung sind. Wir hörten einen Schäfer nach seinem Hütehund rufen, wir sahen zwei Mädchen auf dem Weg zu einem uns verborgenen Bauernhof, von denen eine vor sich hin sang, aber außer unserem Lärmen störte kein Laut die Stille und die Abgeschiedenheit dieser Gegend, in denen noch niemand, so konnte es scheinen, von Erfindungen wie Dampfmaschinen oder Schießpulver gehört hatte (so wie es heißt, daß man in manchen entlegenen Berggegenden in China noch nie davon gehört hat, daß das Land einen Krieg gegen Japan geführt hat).
Jetzt begann der Tag zur Neige zu gehen, und unsere Pferde waren erschöpft, aber der Fuchs hielt immer noch durch. Ich überschlug den Weg, den wir zurückgelegt hatten, und versuchte herauszufinden, wo wir uns befanden. Die letzte Wegmarke, die mir aufgefallen war, mußte über fünf Meilen hinter uns liegen, und bis dahin hatten wir bereits mindestens zehn Meilen hinter uns gebracht. Wenn wir nur den Fuchs erledigen könnten! Dann ging die Sonne unter, und ich überschlug noch einmal unsere Chancen, den Fuchs zu erwischen. Ich sah James an, der neben mir ritt. Er schien noch immer guter Dinge zu sein, aber sein Pferd war so erschöpft wie meins. Die Dämmerung war hell und klar, und die Hunde verfolgten die Spur so gut wie bislang, die Hecken waren niedrig genug, aber diese Täler kosteten uns Kraft und taten sich eines hinter dem anderen auf. Es war, als ob das letzte Tageslicht länger als der Fuchs und die Pferde durchhalten würde; wenn er nicht aufgab und die Hunde die Witterung nicht verloren. Seit einiger Zeit hatten wir weder Häuser noch Wege angetroffen. Links und rechts erhoben sich nur die weißen Kalkhänge in der Abenddämmerung, ein paar verstreute Schafe grasten, und die Baumbestände versanken im Dunkel. Allmählich fiel mir auf, daß das letzte Licht erloschen und die Nacht hereingebrochen war. Als ich zu James hinübersah, schüttelte er nur den Kopf. Dann sahen wir in einem kleinen bewaldeten Tal über den Eichenwipfeln die rotbraunen Giebel eines alten Hauses aufragen, während der Fuchs fünfzig Yards vor uns herhetzte. Wir kamen direkt vor dem Haus zwischen den Bäumen hervor, aber es schien keine Auffahrt zu geben, nicht einmal einen Zufahrtsweg. Hinter einigen Fenstern brannte bereits Licht. Wir befanden uns in einem Park, der einmal beeindruckend gewesen sein mußte; er befand sich in einem unglaublich verwahrlosten Zustand. Alles war von Unkraut und Gebüsch überwuchert. Wir konnten den Fuchs im Dunkel vor uns nicht mehr ausmachen, aber er konnte uns nicht mehr entkommen; die Hunde waren direkt vor uns - und ein dicht gezimmerter Eichenzaun von vier Fuß Höhe. Unter normalen Umstände hätte ich es selbst mit einem frischen Pferd nicht riskiert, und meins war völlig ausgepumpt. Aber was für eine Jagd! Etwas, was man sein Lebtag nicht mehr vergißt, und der Fuchs war drauf und dran, im Dunkel zu verschwinden, mit den Hunden dicht hinter sich, während ich noch zögerte. Ich riskierte es. Mein Pferd hob sich vielleicht acht Zoll und prallte mit der Vorhand auf das Holz, das als Sprühregen nasser Splitter explodierte; die Jahre hatten es völlig zerrottet. Und dann hielten wir auf einem Rasen; am hinteren Ende balgten sich die Hunde um den Fuchs. Nach zwanzig Meilen waren der Fuchs, die Hunde und das Licht am Ende. Trotz des Radaus, den wir veranstaltet hatten, kam niemand aus dem merkwürdigen alen Haus, um nach dem Rechten zu sehen.
Ich fühlte mich ziemlich zerschlagen, als ich mit der Lunte und der Maske (*) zum Eingang ging, während James mit den Hunden und den beiden Pferden nach dem Stall suchte. Ich läutete an einem Glockenzug, der dick von Rost überzogen war, und nach geraumer Zeit öffnete sich die Tür einen Spalt und gab den Blick auf einen Korridor mit zahlreichen alten Rüstungen frei und auf den abgerissensten Butler, den ich je gesehen habe.
Ich fragte ihn, wer hier wohne. Sir Richard Alden, war die Antwort. Ich erklärte ihm, daß mein Pferd heute keinen Schritt mehr tun konnte und daß ich Sir Richard Alden um ein Logis für die Nacht bäte.
"Oh, hier kommt niemand je vorbei," sagte der Butler.
Ich wies ihn darauf hin, daß ich ja wohl vorbeigekommen sei.
"Ich denke nicht, daß es sich einrichten läßt," sagte er.
Das ärgerte mich und ich verlangte Sir Richard persönlich zu sprechen, und bestand so lange darauf, bis er kam. Dann entschuldigte ich mich und legte meine Situation dar. Er wirkte wie fünfzig, aber ein Ruder eines Universitätsachters, auf dem eine Jahreszahl aus dem frühen Siebzigern zu lesen war, machte klar, daß er älter war. In seinen Zügen lag etwas von der Verschlossenheit, wie man sie oft bei Einsiedlern sieht. Es täte ihm leid, aber er hätte kein Nachtlager für mich. Ich war mir sicher, daß das nicht stimmte; und ich war mir ebenso sicher, daß ich nirgendwo sonst auf Meilen im Umkreis unterkommen könnte; ich bestand also auf meiner Bitte. Zu meinem Erstaunen wandte er sich schließlich an seinen Butler, und sie besprachen die Sache leise. Sie kamen zu dem Entschluß, daß es doch möglich wäre, obwohl sie sichtlich nicht davon begeistert waren. Es war jetzt sieben Uhr, und Sir Richard erklärte mir, daß er um halb acht diniere. Ich konnte mich selbstredend nicht umziehen, da mein Gastgeber von kleinerer und stämmigerer Figur war als ich. Er führte mich ins Speisezimmer und erschien um halb acht im Abendanzug mit weißer Weste. Das Speisezimmer war geräumig und voller Möbel, die eher abgewetzt als ehrwürdig waren; ein Aubusson-Teppich schlug Falten auf dem Boden, der Wind schien freien Zutritt zu haben; durch die Ecken wehte ein ehrwürdiger Durchzug. das beständige Getrippel der Ratten hinter der Täfelung zeigte die Verheerung an, die der Zahn der Zeit hinterlassen hatte; irgendwo über uns schlug ein Fensterladen auf und zu; die blakenden Kerzen reichten nicht aus, das Dunkel zu vertreiben. Diese ganze düstere Stimmung paßte sehr gut zu der ersten Bemerkung, die Sir Richard an mich richtete, nachdem er das Speisezimmer betreten hatte: "Sir, ich muß Ihnen gestehen, daß ich ein schlechtes Leben geführt habe. Ein überaus sündiges."
Es kommt nicht oft vor, daß einem derartige Vertraulichkeiten von jemandem, der erheblich älter ist und den man erst seit einer halben Stunde kennt, zuteil werden. Mir fiel keine passende Entgegnung ein. Ich sagte also "Ach, wirklich?", und um weiteren Konfidenzen dieser Art zuvorzukommen, fuhr ich fort: "Sie besitzen ein eindrucksvolles Heim."
"Ja," sagte er. "Ich habe es seit vierzig Jahren nicht verlassen. Seit ich von der Universität abgegangen bin. Da ist man jung, und da hat man Gelegenheit - aber ich entschuldige mich nicht dafür, oh nein." Und der rostige Riegel der Tür sprang auf, der Luftzug ließ die Tür ins Zimmer schwingen, der lange Teppich warf Wellen und die Gobelins an den Wänden bauschten sich, dann verlor sich der Luftzug wieder und die Tür fiel wieder ins Schloß.
"Ah, Marianne," sagte er. "Wir haben heute abend einen Tischgast, Mr. Linton. Darf ich vorstellen: Marianne Gib." Und in diesem Augenblick wurde mir alles klar. "Wahnsinn," sagte ich zu mir, denn niemand hatte das Zimmer betreten.
Hinter der Täfelung trippelten die Ratten pausenlos und der Wind stieß die Tür wieder auf und der Teppich wogte bis zu der Stelle, an dem unsere Schuhe darauf ruhten.
"Darf ich vorstellen: Mr. Linton," sagte mein Gastgeber, "- Lady Mary Errinjer."
Die Tür schlug wieder zu. Ich verneigte mich höflich. Selbst wenn ich eingeladen gewesen wäre, hätte ich mich ihm gegenüber nicht anders verhalten, aber als ungebetener Gast war dies das mindeste.
Alles in allem wiederholte sich dieses Spiel elf Mal: das Rascheln und der Faltenschlag im Teppich und das Getrappel der Ratten, die Tür, die auf- und zu schlug, und die gedämpfte Stimme meines Gastgebers, der mich den Phantomen vorstellte. Dann herrschte Schweigen, während ich mir überlegte, wie ich mit der Situation umgehen sollte. Und dann entstand wieder der Luftzug und die flackernden Kerzen ließen Schatten über die Wände tanzen. "Ah, Cecily," sagte mein Gastgeber mit seiner leisen, tiefen Stimme. "Wie immer zu spät." Dann setzten wir uns zum Diner mit diesem Herrn und seinem verwirrten Geist und den zwölf Gespenstern, die darin umgingen. Die Tafel war mit feinem alten Tafelsilber für vierzehn Gäste gedeckt; der Butler trug jetzt Abendgarderobe; der Luftzug hatte nachgelassen und die Stimmung war weniger düster. "Nehmen Sie doch bitte neben Rosalind am anderen Ende Platz," sagte Sir Richard zu mir. "Sie sitzt immer am Kopfende. Ihr habe ich das größte Unrecht von allen angetan." Ich sagte: "Es soll mir eine Ehre sein."
Ich betrachtete mir den Butler genau: aber mit keine Miene oder Geste verriet er, daß er mit etwas anderem beschäftigt war, als vierzehn Menschen zu bedienen, die in jeder Hinsicht anwesend waren. Vielleicht wurde da und dort ein Gericht zurückgewiesen, aber jedes Glas wurde bis oben mit Champagner eingeschenkt. Zuerst fiel mir nichts rechtes ein, das ich sagen könnte, aber dann bemerkte Sir Richard vom anderen Tischende her: "Sie sind müde, Herr Linton?" und erinnerte mich daran, daß ich meinem Gastgeber, dem ich mich aufgedrängt hatte, etwas schuldig war. Der Champagner war ausgezeichnet, und nach dem zweiten Glas konnte ich mich dazu überwinden, eine Tischgespräch mit Miss Helen Errold anzuknüpfen, die mir gegenüber Platz genommen hatte. Es dauerte nicht lang, und ich gewann mehr Übung darin. Ich legte in meinem Monolog Kunstpausen ein, wie Markus Antonius bei Shakespeare, und mitunter richtete ich eine Seitenbemerkung an Miss Rosalind Smith neben mir. Am anderen Kopfende sprach Sir Richard, wie ein Verurteilter zu dem Richter sprechen könnte, der das Urteil über ihn gefällt hat, und doch auch in der Art und Weise, wie ein Richter zu einem Angeklagten reden könnte, den er einmal zu Unrecht verurteilt hat. Mein Geist begann sich traurigen Gedanken zuzuwenden. Ich hatte ein drittes Glas Champagner geleert, aber mein Durst war noch nicht gestillt. Es war, als wenn der Wind, der durch die Wälder von Kent geweht hätte, den letzten Tropfen Flüssigkeit aus meinem Leib gesaugt hätte. Aber ich redete noch nicht genug; mein Gastgeber warf mir einen warnenden Blick zu. Ich hob von Neuem an. Schließlich hatte ich etwas zu erzählen: eine Hetzjagd über zwanzig Meilen kommt nicht oft im Leben vor; schon gar nicht südlich der Themse. Ich fing an, Rosaland Smith die Jagd zu schildern. Ich konnte sehen, daß mein Gastgeber entzückt war, über seine traurige Miene lief es wie ein Wetterleuchten, wie sich der Nebel auf den Bergen an verhangenen Tagen hebt, wenn ihn eine frische Brise vom Meer fortfegt. Der aufmerksame Butler schenkte mein Glas voll. Ich fragte sie, ob sie selber jagte, wartete kurz und begann mit meiner Erzählung. Ich berichtete ihr, wie wir auf den Fuchs gestoßen waren und wie schnell und pfeilgerade er davon gerast war, und wie ich ohne Zeitverlust durchs Dorf geritten war, indem ich mich auf der Dorfstraße hielt, während die Gärten und Zäune und der Fluß den Rest des Feldes aufhielten. Ich erzählte ihr von dem Landstrich, durch den wir gekommen waren: wie die Wiesen im Sonnenlicht dalagen und wie geheimnisvoll die Täler wirkten, als die Dämmerung sie einhüllte, wie großartig mein Pferd war und wie es sich hielt. Ich war nach der großen Jagd so schrecklich durstig, daß ich ab und zu eine Pause einlegen mußte, aber dann nahm ich meine Schilderung der Hatz wieder auf, denn ich war in Fahrt gekommen, und außer mir gab es schließlich niemanden, der davor erzählen konnte, außer meinem Jagdhelfer, "und der alte Knabe hat mittlerweile womöglich schon einen sitzen," sagte ich zu mir. Ich beschrieb ihr die genaue Stelle, an der mir klar wurde, daß das hier die tollste Jagd war, die es je in der Geschichte von Kent gegeben hatte. Mitunter vergaß ich die eine oder anderen Einzelheit, wie das vorkommen kann, wenn man von einer Jagd über zwanzig Meilen erzählt, und dann mußte ich die Lücken auffüllen, indem ich mir etwas ausdachte. Mir tat es gut, daß ich der Mittelpunkt unserer Tischgesellschhaft war, und die Dame, mir der ich mich unterhielt, war ausnehmend hübsch. Natürlich nicht in Fleisch und Blut, aber über dem Stuhl neben mir konnte ich einen schemenhaften Umriß erkennen, der erkennen ließ, daß Miss Rosalind Smith eine Augenweide gewesen war, als sie noch unter den Sterblichen weilte; und mir wurde klar, daß das, was ich zunächst für Kerzenrauch und flackernden Lichtschein und den Luftzug, der das Tischtuch aufbauschte, gehalten hatte, in Wirklichkeit eine angeregte Tischgesellschaft war, die gebannt meinem Bericht von der größten Hetzjagd lauschte, die die Welt je gesehen hatte. Ich ging noch weiter und versicherte ihnen, daß es auch niemals wieder eine solche Jagd geben würde. Nur meine Kehle war furchtbar ausgetrocknet. Und dann schien es mir, daß sie mehr von meinem Pferd hören wollten. Ich hatte ganz vergessen, daß ich auf einem Pferd hier gelangt war; aber jetzt fiel mir alles wieder ein; sie harrten so gebannt auf das, was ich ihnen erzählte, daß ich ihnen in jeder Hinsicht Auskunft gab. Es wäre alles wunderbar gewesen, wenn sich nur Sir Richards Stimmung aufgehellt hätte. Ich konnte seine traurige Stimme ab und an vernehmen - dies hier war eine nette Gesellschaft, wenn er sich nur auf sie einlassen würde. Ich konnte verstehen, daß ihn seine Vergangenheit reute, aber die frühen siebziger Jahre schienen Jahrhunderte hinter uns zu liegen und ich war mir sicher, daß er ihre Gegenwart mißverstand. Sie waren nicht auf Rache aus, wie er anzunehmen schien. Ich wollte ihm gerne zeigen, wie fröhlich sie doch waren, und machte einen Scherz und sie lachten darüber, und dann neckte ich sie ein wenig, besonders Rosalind, und niemand von ihnen schien es im geringsten übel zu nehmen. Aber Sir Richard saß immer noch mit seiner Leichenbittermiene dort, wie jemand, der selbst das Weinen aufgegeben hat, weil es nichts nützt und der jetzt sogar den Trost heißer Tränen entbehren muß.
Es war geraume Zeit vergangen und viele der Kerzen waren heruntergebrannt, aber es war noch hell genug im Raum. Ich war froh, ein aufmerksames Publikum zu haben, und da ich guter Laune war, war ich fest entschlossen, daß Sir Richard es auch sein sollte. Ich riß ein paar Scherze mehr, und sie lachten immer noch höflich; möglicherweise waren manche davon etwas gewagt, aber sie waren nicht böse gemeint. Und dann - dies soll keine Entschuldigung sein - aber ich hatte einen anstrengenden Tag hinter mir, und war sicher völlig erschöpft, ohne daß es mir bewußt war; in diesem Zustand war mir der Champagner zu Kopf gestiegen, und was unter normalen Umständen harmlos gewesen wäre, artete in meiner Erschöpfung aus. Ich machte meinen Scherz - ich kann mich in keiner Weise daran erinnern, welchen - den sie übel nahmen. Ich merkte, wie Unruhe in der Luft um mich entstand. Ich blickte auf und sah, daß sie sich allesamt von der Tafel erhoben hatten und der Tür zustrebten. Mir blieb keine Zeit, sie zu öffnen; ein Windstoß stieß sie auf. Ich konnte kaum erkennen, was Sir Richard tat, denn es brannten nur noch zwei der Kerzen; die übrigen hatte der Luftzug ausgeblasen, als sich die Damen erhoben hatten. Ich sprang auf, um mich bei ihnen zu entschuldigen, ihnen zu versichern, daß ich nicht mit Absicht ... und dann fällte mich die Erschöpfung wie mein Pferd vor dem letzten Zaun. Ich versuchte, mich an der Tafel festzuhalten, aber das Tischtuch rutschte ab, und ich stürzte. Der Sturz, und die Dunkelheit unter dem Tisch und die aufgestaute Ermattung bemächtigten sich meiner auf einen Schlag.
Die Sonne strahlte über leuchtenden Feldern und in ein Zimmer und zahllose Vögel brachten dem Frühling ein Morgenständchen, und ich fand mich auf einem altmodischen Himmelbett wieder, vollständig angekleidet, mit Stiefeln an den Füßen, auf denen der Schlamm eingetrocknet war. Jemand hatte mir die Sporen abgeschnallt und es dabei belassen. Für einen Moment wußte ich nicht, wo ich mich befand; dann erinnerte ich mich an mein unmögliches Benehmen und daran, daß ich mich bei Sir Richard entschuldigen mußte. Ich zog an einem gehäkelten Glockenzug, bis der Butler kam. Er erschien in bester Laune und in unbeschreiblich abgetragener Livree. Ich bat ihn, mich unverzüglich zu Sir Richard zu bringen. Er saß im Raucherzimmer. "Guten Morgen," sagte er fröhlich, als ich hereinkam. Ich machte keine Umschweife. "Ich fürchte, ich habe einige der Damen Ihrer Tischgesellschaft überaus brüskiert -" fing ich an.
"Das haben Sie," sagte er. "Fürwahr, das haben Sie." Und dann brach er in Tränen aus und griff nach meiner Hand. "Wie kann ich Ihnen jemals dafür danken?" sagte er. "Seit dreißig Jahren sind wir dreizehn bei Tisch gewesen und ich habe es nie gewagt, sie zu beleidigen, weil ich mich gegenüber allen von ihnen versündigt hatte, und jetzt haben Sie es getan, und sie werden mich hier nie mehr heimsuchen." Er hielt meine Hand lange Zeit fest, dann schüttelte er sie, mit einer Geste, die ich für einen Abschied nahm, und ich entzog ihm meine Hand und verließ das Haus. Ich ging zum Stall hinüber und fand James bei den Pferden und den Hunden vor und fragte ihn, wie er die Nacht verbracht hatte. James, der kein Mann vieler Worte ist, meinte, daß er sich nicht gut erinnern könne. Ich ließ mir vom Butler meine Sporen holen und wir stiegen auf die Pferde und ließen das merkwürdige alte Haus hinter uns und ritten langsam heim, denn die Meute war guter Laune, aber noch fußlahm, und die Pferde waren immer noch erschöpft. Und als wir uns daran erinnerten, daß die Jagdsaison jetzt zu Ende war, wandten wir uns dem Frühling zu und dachten an die neuen, frischen Dinge, die das Abgestandene, Alte ersetzen. Und noch im selben Jahr hieß es - und hieß es noch oft - daß in Sir Richard Aldens Heim jetzt glücklichere Empfänge und Tanzabende gegeben wurden.
* * *
"Thirteen at Table" erschien zuerst in der Sammlung Tales of Wonder im Oktober 1916 im Londoner Verlag Elkin Matthews.
* Die deutsche Jägersprache kennt für den Schwanz der Fuchses den Ausdruck "Lunte", aber keinen für seinen Kopf; die englische Waidmannssprache hat dafür die Worte "brush" und "mask".
die über das Wild die Gewalt
hatten auf Erden
- färbt sich wieder der Wald
gelber und gelber -,
selber den Hunden zum Raub
fallen und selber
liegen auf blutigem Laub.
Einmal, da werden,
in den langen Alleen,
sie vor den Pferden
selber im Läuten gehn,
rennen und rasen,
die die Jagenden sie
sehen, da blasen
ihre Piquere: La Vue!
Keuchender Meute
werfen die Jäger dann ihr
Recht am Gescheide
zu von jeglichem Tier.
Unter den Bäumen
raufen die Hunde im Zorn.
In ihren Träumen
geistert noch lange das Horn.
- Alexander Lernet-Holenia, "La chasse à force des chiens courants" (1935)
* * *
Als sich die Gesellschaft am Abend vor dem großen Kamin versammelt hatte, in dem die Scheite loderten, und die Männer mit Gläsern und Pfeifen in den Händen in bequemen Sesseln davor saßen, und das stürmische Wetter draußen, die Geborgenheit drinnen und die Jahreszeit - denn es war Weihnachten -, als all das nach einer merkwürdigen und unheimlichen Geschichte verlangte, da erzählte der frühere Jagdhundemeister seine Geschichte.
Mir ist auch einmal etwas Merkwürdiges passiert. Das war, als ich die Jagdhundmeuten in Bromley und Sydenham betreute, in meinem letzten Jahr dort. Es war sogar der allerletzte Tag der Jagdsaison. Es lohnte sich nicht mehr, weiter zu jagen, weil es im ganzen Landstrich keine Füchse mehr gab, und London so langsam seine Krankenarme um uns schloß. Von allen Hundezwingern aus konnte man die Stadt in der Ferne anrücken sehen wie eine in grau getarnte Armee. Und die Mengen an neuen Villen unten in der Tälern vermehrten sich mit jedem Jahr, das verging. Unsere Fuchsdeckungen lagen alle oben auf den Hügelkämmen, und sobald die Stadt sich daran machte, die Täler zu besetzen, verschwanden die Füchse von dort, ließen die Gegend hinter sich und kehrten nie zurück.
Ich nehme an, daß sie im Schutz der Dunkelheit weite Strecken hinter sich brachten. Jedenfalls war es schon April geworden, und wir hatten den ganzen Tag über vergeblich gejagt, und als wir die Hunde zum letzten Mal an diesem letzten Tag der Jagdsaison ausschwärmen ließen, scheuchten wir einen Fuchs auf. Er schoß aus dem Dickicht heraus, fort von London und den Eisenbahnstrecken und Villen und den Leitungen, in Richtung Kent mit seinen lockeren Kalkböden. Ich kam mir vor wie damals als Kind, als ich beim Spielen auf eine Gartentür gestoßen war, die jemand offengelassen hatte und ich sie aufstieß und das weite Land sich vor mir mit einen Kornfeldern auftat, die sich im Wind wiegten.
Wir verfielen in einen steten Galopp und die Felder begannen unter uns dahinzufließen, und ein frischer Wind erhob sich. Wir ließen die Lehmböden mit ihren Farnbeständen hinter uns und gerieten in ein Tal am Rande der Kalkhügel. Wir ritten hinein und sahen den Fuchs wie einen dunklen Schatten am Hang gegenüber hinaufschießen und in einem Waldstück auf der Kuppe verschwinden. Wir sahen nur kurz Schlüsselblumen aufblitzen, dann kamen wir unter den Bäumen hervor; die Hunde jagten perfekt und der Fuchs rannte geradeaus wie ein Pfeil, den ein Bogenschütze von der Sehne gelassen hat. Mir ging auf, daß uns eine herrliche Jagd bevorstand und holte tief Luft; die belebende Luft an diesem perfekten Frühlingsabend und der Gedanke an eine großartige Hatz wirkten auf mich wie ein berauschender Wein. Unser Weg führte uns in ein neues Tal; breite Felder erstreckten sich davor, von niedrigen Hecken durchzogen; unter uns plätscherte ein blauer Bach und Rauch stieg aus den Schornsteinen eines kleinen Dorfs auf; auf den Hängen drüben tanzte das Sonnenlicht, und darüber erhoben sich finster blickend die alten Bergkämme, während sie von Frühling träumten. Das "Feld" war weit hinter uns zurückgefallen und mein einziger Begleiter war James, mein alter oberster Meutenhelfer, der selbst fast über die Instinkte eines Jagdhundes verfügte und Füchse mit einem abgrundtiefen Groll haßte, den man ihm anhörte, sobald er etwas sagte.
Der Fuchs schoß durch das Tal wie ein Zug auf dem Gleis, und wieder rasten wir ohne jede Pause durch den Wald auf dem Hügelkamm. Ich kann mich daran erinnern, daß wir Männer rufen und singen hörten, während sie von der Arbeit heimkehrten, und daß Kinder vor sich hin pfiffen; wir konnten es oben auf der Kuppe vom Dorf unten im Tal vernehmen. Danach trafen wir nicht mehr auf Dörfer, aber die Täler senkten und hoben sich vor uns wie ein Meer aus Wald und Stein, und vor uns huschte der Fuchs wie der Fliegende Holländer voraus. Außer meinem Jagdgehilfen war jetzt niemand mehr zu sehen; wir hatten beide das Pferd gewechselt, während wir die Meute zum letzten Mal ausschwärmen ließen.
Wir hatten zwei oder drei Mal in diesen weiten Tälern hinter dem Dorf angehalten, aber allmählich fing ich an, auf meine Eingebungen zu vertrauen. Ich war mir sicher, daß der Fuchs sich einfach geradeaus gegen den Wind halten würde, bis er tot zusammenbräche oder es dunkel würde und wir nicht mehr nachsetzen konnten, also gab ich die übliche Umsicht auf und preschte geradeaus; und jedesmal nahmen die Hunde die Spur wieder auf. Ich bin sicher, daß dieser Fuchs der letzte war, den es in unserem von Villen heimgesuchten Landstrich gehalten hatte und daß er schon lange vorhatte, sich zu den fernen Hügeln aufzumachen. Wenn wir einen Tag später gejagt hätten, hätten wir ihn nicht mehr angetroffen.
Der Abend hielt in den Tälern Einzug, aber die Hunde liefen immer noch, wie die langsamen Wolkenschatten an Sommertagen, die stets in Bewegung sind. Wir hörten einen Schäfer nach seinem Hütehund rufen, wir sahen zwei Mädchen auf dem Weg zu einem uns verborgenen Bauernhof, von denen eine vor sich hin sang, aber außer unserem Lärmen störte kein Laut die Stille und die Abgeschiedenheit dieser Gegend, in denen noch niemand, so konnte es scheinen, von Erfindungen wie Dampfmaschinen oder Schießpulver gehört hatte (so wie es heißt, daß man in manchen entlegenen Berggegenden in China noch nie davon gehört hat, daß das Land einen Krieg gegen Japan geführt hat).
Jetzt begann der Tag zur Neige zu gehen, und unsere Pferde waren erschöpft, aber der Fuchs hielt immer noch durch. Ich überschlug den Weg, den wir zurückgelegt hatten, und versuchte herauszufinden, wo wir uns befanden. Die letzte Wegmarke, die mir aufgefallen war, mußte über fünf Meilen hinter uns liegen, und bis dahin hatten wir bereits mindestens zehn Meilen hinter uns gebracht. Wenn wir nur den Fuchs erledigen könnten! Dann ging die Sonne unter, und ich überschlug noch einmal unsere Chancen, den Fuchs zu erwischen. Ich sah James an, der neben mir ritt. Er schien noch immer guter Dinge zu sein, aber sein Pferd war so erschöpft wie meins. Die Dämmerung war hell und klar, und die Hunde verfolgten die Spur so gut wie bislang, die Hecken waren niedrig genug, aber diese Täler kosteten uns Kraft und taten sich eines hinter dem anderen auf. Es war, als ob das letzte Tageslicht länger als der Fuchs und die Pferde durchhalten würde; wenn er nicht aufgab und die Hunde die Witterung nicht verloren. Seit einiger Zeit hatten wir weder Häuser noch Wege angetroffen. Links und rechts erhoben sich nur die weißen Kalkhänge in der Abenddämmerung, ein paar verstreute Schafe grasten, und die Baumbestände versanken im Dunkel. Allmählich fiel mir auf, daß das letzte Licht erloschen und die Nacht hereingebrochen war. Als ich zu James hinübersah, schüttelte er nur den Kopf. Dann sahen wir in einem kleinen bewaldeten Tal über den Eichenwipfeln die rotbraunen Giebel eines alten Hauses aufragen, während der Fuchs fünfzig Yards vor uns herhetzte. Wir kamen direkt vor dem Haus zwischen den Bäumen hervor, aber es schien keine Auffahrt zu geben, nicht einmal einen Zufahrtsweg. Hinter einigen Fenstern brannte bereits Licht. Wir befanden uns in einem Park, der einmal beeindruckend gewesen sein mußte; er befand sich in einem unglaublich verwahrlosten Zustand. Alles war von Unkraut und Gebüsch überwuchert. Wir konnten den Fuchs im Dunkel vor uns nicht mehr ausmachen, aber er konnte uns nicht mehr entkommen; die Hunde waren direkt vor uns - und ein dicht gezimmerter Eichenzaun von vier Fuß Höhe. Unter normalen Umstände hätte ich es selbst mit einem frischen Pferd nicht riskiert, und meins war völlig ausgepumpt. Aber was für eine Jagd! Etwas, was man sein Lebtag nicht mehr vergißt, und der Fuchs war drauf und dran, im Dunkel zu verschwinden, mit den Hunden dicht hinter sich, während ich noch zögerte. Ich riskierte es. Mein Pferd hob sich vielleicht acht Zoll und prallte mit der Vorhand auf das Holz, das als Sprühregen nasser Splitter explodierte; die Jahre hatten es völlig zerrottet. Und dann hielten wir auf einem Rasen; am hinteren Ende balgten sich die Hunde um den Fuchs. Nach zwanzig Meilen waren der Fuchs, die Hunde und das Licht am Ende. Trotz des Radaus, den wir veranstaltet hatten, kam niemand aus dem merkwürdigen alen Haus, um nach dem Rechten zu sehen.
Ich fühlte mich ziemlich zerschlagen, als ich mit der Lunte und der Maske (*) zum Eingang ging, während James mit den Hunden und den beiden Pferden nach dem Stall suchte. Ich läutete an einem Glockenzug, der dick von Rost überzogen war, und nach geraumer Zeit öffnete sich die Tür einen Spalt und gab den Blick auf einen Korridor mit zahlreichen alten Rüstungen frei und auf den abgerissensten Butler, den ich je gesehen habe.
Ich fragte ihn, wer hier wohne. Sir Richard Alden, war die Antwort. Ich erklärte ihm, daß mein Pferd heute keinen Schritt mehr tun konnte und daß ich Sir Richard Alden um ein Logis für die Nacht bäte.
"Oh, hier kommt niemand je vorbei," sagte der Butler.
Ich wies ihn darauf hin, daß ich ja wohl vorbeigekommen sei.
"Ich denke nicht, daß es sich einrichten läßt," sagte er.
Das ärgerte mich und ich verlangte Sir Richard persönlich zu sprechen, und bestand so lange darauf, bis er kam. Dann entschuldigte ich mich und legte meine Situation dar. Er wirkte wie fünfzig, aber ein Ruder eines Universitätsachters, auf dem eine Jahreszahl aus dem frühen Siebzigern zu lesen war, machte klar, daß er älter war. In seinen Zügen lag etwas von der Verschlossenheit, wie man sie oft bei Einsiedlern sieht. Es täte ihm leid, aber er hätte kein Nachtlager für mich. Ich war mir sicher, daß das nicht stimmte; und ich war mir ebenso sicher, daß ich nirgendwo sonst auf Meilen im Umkreis unterkommen könnte; ich bestand also auf meiner Bitte. Zu meinem Erstaunen wandte er sich schließlich an seinen Butler, und sie besprachen die Sache leise. Sie kamen zu dem Entschluß, daß es doch möglich wäre, obwohl sie sichtlich nicht davon begeistert waren. Es war jetzt sieben Uhr, und Sir Richard erklärte mir, daß er um halb acht diniere. Ich konnte mich selbstredend nicht umziehen, da mein Gastgeber von kleinerer und stämmigerer Figur war als ich. Er führte mich ins Speisezimmer und erschien um halb acht im Abendanzug mit weißer Weste. Das Speisezimmer war geräumig und voller Möbel, die eher abgewetzt als ehrwürdig waren; ein Aubusson-Teppich schlug Falten auf dem Boden, der Wind schien freien Zutritt zu haben; durch die Ecken wehte ein ehrwürdiger Durchzug. das beständige Getrippel der Ratten hinter der Täfelung zeigte die Verheerung an, die der Zahn der Zeit hinterlassen hatte; irgendwo über uns schlug ein Fensterladen auf und zu; die blakenden Kerzen reichten nicht aus, das Dunkel zu vertreiben. Diese ganze düstere Stimmung paßte sehr gut zu der ersten Bemerkung, die Sir Richard an mich richtete, nachdem er das Speisezimmer betreten hatte: "Sir, ich muß Ihnen gestehen, daß ich ein schlechtes Leben geführt habe. Ein überaus sündiges."
Es kommt nicht oft vor, daß einem derartige Vertraulichkeiten von jemandem, der erheblich älter ist und den man erst seit einer halben Stunde kennt, zuteil werden. Mir fiel keine passende Entgegnung ein. Ich sagte also "Ach, wirklich?", und um weiteren Konfidenzen dieser Art zuvorzukommen, fuhr ich fort: "Sie besitzen ein eindrucksvolles Heim."
"Ja," sagte er. "Ich habe es seit vierzig Jahren nicht verlassen. Seit ich von der Universität abgegangen bin. Da ist man jung, und da hat man Gelegenheit - aber ich entschuldige mich nicht dafür, oh nein." Und der rostige Riegel der Tür sprang auf, der Luftzug ließ die Tür ins Zimmer schwingen, der lange Teppich warf Wellen und die Gobelins an den Wänden bauschten sich, dann verlor sich der Luftzug wieder und die Tür fiel wieder ins Schloß.
"Ah, Marianne," sagte er. "Wir haben heute abend einen Tischgast, Mr. Linton. Darf ich vorstellen: Marianne Gib." Und in diesem Augenblick wurde mir alles klar. "Wahnsinn," sagte ich zu mir, denn niemand hatte das Zimmer betreten.
Hinter der Täfelung trippelten die Ratten pausenlos und der Wind stieß die Tür wieder auf und der Teppich wogte bis zu der Stelle, an dem unsere Schuhe darauf ruhten.
"Darf ich vorstellen: Mr. Linton," sagte mein Gastgeber, "- Lady Mary Errinjer."
Die Tür schlug wieder zu. Ich verneigte mich höflich. Selbst wenn ich eingeladen gewesen wäre, hätte ich mich ihm gegenüber nicht anders verhalten, aber als ungebetener Gast war dies das mindeste.
Alles in allem wiederholte sich dieses Spiel elf Mal: das Rascheln und der Faltenschlag im Teppich und das Getrappel der Ratten, die Tür, die auf- und zu schlug, und die gedämpfte Stimme meines Gastgebers, der mich den Phantomen vorstellte. Dann herrschte Schweigen, während ich mir überlegte, wie ich mit der Situation umgehen sollte. Und dann entstand wieder der Luftzug und die flackernden Kerzen ließen Schatten über die Wände tanzen. "Ah, Cecily," sagte mein Gastgeber mit seiner leisen, tiefen Stimme. "Wie immer zu spät." Dann setzten wir uns zum Diner mit diesem Herrn und seinem verwirrten Geist und den zwölf Gespenstern, die darin umgingen. Die Tafel war mit feinem alten Tafelsilber für vierzehn Gäste gedeckt; der Butler trug jetzt Abendgarderobe; der Luftzug hatte nachgelassen und die Stimmung war weniger düster. "Nehmen Sie doch bitte neben Rosalind am anderen Ende Platz," sagte Sir Richard zu mir. "Sie sitzt immer am Kopfende. Ihr habe ich das größte Unrecht von allen angetan." Ich sagte: "Es soll mir eine Ehre sein."
Ich betrachtete mir den Butler genau: aber mit keine Miene oder Geste verriet er, daß er mit etwas anderem beschäftigt war, als vierzehn Menschen zu bedienen, die in jeder Hinsicht anwesend waren. Vielleicht wurde da und dort ein Gericht zurückgewiesen, aber jedes Glas wurde bis oben mit Champagner eingeschenkt. Zuerst fiel mir nichts rechtes ein, das ich sagen könnte, aber dann bemerkte Sir Richard vom anderen Tischende her: "Sie sind müde, Herr Linton?" und erinnerte mich daran, daß ich meinem Gastgeber, dem ich mich aufgedrängt hatte, etwas schuldig war. Der Champagner war ausgezeichnet, und nach dem zweiten Glas konnte ich mich dazu überwinden, eine Tischgespräch mit Miss Helen Errold anzuknüpfen, die mir gegenüber Platz genommen hatte. Es dauerte nicht lang, und ich gewann mehr Übung darin. Ich legte in meinem Monolog Kunstpausen ein, wie Markus Antonius bei Shakespeare, und mitunter richtete ich eine Seitenbemerkung an Miss Rosalind Smith neben mir. Am anderen Kopfende sprach Sir Richard, wie ein Verurteilter zu dem Richter sprechen könnte, der das Urteil über ihn gefällt hat, und doch auch in der Art und Weise, wie ein Richter zu einem Angeklagten reden könnte, den er einmal zu Unrecht verurteilt hat. Mein Geist begann sich traurigen Gedanken zuzuwenden. Ich hatte ein drittes Glas Champagner geleert, aber mein Durst war noch nicht gestillt. Es war, als wenn der Wind, der durch die Wälder von Kent geweht hätte, den letzten Tropfen Flüssigkeit aus meinem Leib gesaugt hätte. Aber ich redete noch nicht genug; mein Gastgeber warf mir einen warnenden Blick zu. Ich hob von Neuem an. Schließlich hatte ich etwas zu erzählen: eine Hetzjagd über zwanzig Meilen kommt nicht oft im Leben vor; schon gar nicht südlich der Themse. Ich fing an, Rosaland Smith die Jagd zu schildern. Ich konnte sehen, daß mein Gastgeber entzückt war, über seine traurige Miene lief es wie ein Wetterleuchten, wie sich der Nebel auf den Bergen an verhangenen Tagen hebt, wenn ihn eine frische Brise vom Meer fortfegt. Der aufmerksame Butler schenkte mein Glas voll. Ich fragte sie, ob sie selber jagte, wartete kurz und begann mit meiner Erzählung. Ich berichtete ihr, wie wir auf den Fuchs gestoßen waren und wie schnell und pfeilgerade er davon gerast war, und wie ich ohne Zeitverlust durchs Dorf geritten war, indem ich mich auf der Dorfstraße hielt, während die Gärten und Zäune und der Fluß den Rest des Feldes aufhielten. Ich erzählte ihr von dem Landstrich, durch den wir gekommen waren: wie die Wiesen im Sonnenlicht dalagen und wie geheimnisvoll die Täler wirkten, als die Dämmerung sie einhüllte, wie großartig mein Pferd war und wie es sich hielt. Ich war nach der großen Jagd so schrecklich durstig, daß ich ab und zu eine Pause einlegen mußte, aber dann nahm ich meine Schilderung der Hatz wieder auf, denn ich war in Fahrt gekommen, und außer mir gab es schließlich niemanden, der davor erzählen konnte, außer meinem Jagdhelfer, "und der alte Knabe hat mittlerweile womöglich schon einen sitzen," sagte ich zu mir. Ich beschrieb ihr die genaue Stelle, an der mir klar wurde, daß das hier die tollste Jagd war, die es je in der Geschichte von Kent gegeben hatte. Mitunter vergaß ich die eine oder anderen Einzelheit, wie das vorkommen kann, wenn man von einer Jagd über zwanzig Meilen erzählt, und dann mußte ich die Lücken auffüllen, indem ich mir etwas ausdachte. Mir tat es gut, daß ich der Mittelpunkt unserer Tischgesellschhaft war, und die Dame, mir der ich mich unterhielt, war ausnehmend hübsch. Natürlich nicht in Fleisch und Blut, aber über dem Stuhl neben mir konnte ich einen schemenhaften Umriß erkennen, der erkennen ließ, daß Miss Rosalind Smith eine Augenweide gewesen war, als sie noch unter den Sterblichen weilte; und mir wurde klar, daß das, was ich zunächst für Kerzenrauch und flackernden Lichtschein und den Luftzug, der das Tischtuch aufbauschte, gehalten hatte, in Wirklichkeit eine angeregte Tischgesellschaft war, die gebannt meinem Bericht von der größten Hetzjagd lauschte, die die Welt je gesehen hatte. Ich ging noch weiter und versicherte ihnen, daß es auch niemals wieder eine solche Jagd geben würde. Nur meine Kehle war furchtbar ausgetrocknet. Und dann schien es mir, daß sie mehr von meinem Pferd hören wollten. Ich hatte ganz vergessen, daß ich auf einem Pferd hier gelangt war; aber jetzt fiel mir alles wieder ein; sie harrten so gebannt auf das, was ich ihnen erzählte, daß ich ihnen in jeder Hinsicht Auskunft gab. Es wäre alles wunderbar gewesen, wenn sich nur Sir Richards Stimmung aufgehellt hätte. Ich konnte seine traurige Stimme ab und an vernehmen - dies hier war eine nette Gesellschaft, wenn er sich nur auf sie einlassen würde. Ich konnte verstehen, daß ihn seine Vergangenheit reute, aber die frühen siebziger Jahre schienen Jahrhunderte hinter uns zu liegen und ich war mir sicher, daß er ihre Gegenwart mißverstand. Sie waren nicht auf Rache aus, wie er anzunehmen schien. Ich wollte ihm gerne zeigen, wie fröhlich sie doch waren, und machte einen Scherz und sie lachten darüber, und dann neckte ich sie ein wenig, besonders Rosalind, und niemand von ihnen schien es im geringsten übel zu nehmen. Aber Sir Richard saß immer noch mit seiner Leichenbittermiene dort, wie jemand, der selbst das Weinen aufgegeben hat, weil es nichts nützt und der jetzt sogar den Trost heißer Tränen entbehren muß.
Es war geraume Zeit vergangen und viele der Kerzen waren heruntergebrannt, aber es war noch hell genug im Raum. Ich war froh, ein aufmerksames Publikum zu haben, und da ich guter Laune war, war ich fest entschlossen, daß Sir Richard es auch sein sollte. Ich riß ein paar Scherze mehr, und sie lachten immer noch höflich; möglicherweise waren manche davon etwas gewagt, aber sie waren nicht böse gemeint. Und dann - dies soll keine Entschuldigung sein - aber ich hatte einen anstrengenden Tag hinter mir, und war sicher völlig erschöpft, ohne daß es mir bewußt war; in diesem Zustand war mir der Champagner zu Kopf gestiegen, und was unter normalen Umständen harmlos gewesen wäre, artete in meiner Erschöpfung aus. Ich machte meinen Scherz - ich kann mich in keiner Weise daran erinnern, welchen - den sie übel nahmen. Ich merkte, wie Unruhe in der Luft um mich entstand. Ich blickte auf und sah, daß sie sich allesamt von der Tafel erhoben hatten und der Tür zustrebten. Mir blieb keine Zeit, sie zu öffnen; ein Windstoß stieß sie auf. Ich konnte kaum erkennen, was Sir Richard tat, denn es brannten nur noch zwei der Kerzen; die übrigen hatte der Luftzug ausgeblasen, als sich die Damen erhoben hatten. Ich sprang auf, um mich bei ihnen zu entschuldigen, ihnen zu versichern, daß ich nicht mit Absicht ... und dann fällte mich die Erschöpfung wie mein Pferd vor dem letzten Zaun. Ich versuchte, mich an der Tafel festzuhalten, aber das Tischtuch rutschte ab, und ich stürzte. Der Sturz, und die Dunkelheit unter dem Tisch und die aufgestaute Ermattung bemächtigten sich meiner auf einen Schlag.
Die Sonne strahlte über leuchtenden Feldern und in ein Zimmer und zahllose Vögel brachten dem Frühling ein Morgenständchen, und ich fand mich auf einem altmodischen Himmelbett wieder, vollständig angekleidet, mit Stiefeln an den Füßen, auf denen der Schlamm eingetrocknet war. Jemand hatte mir die Sporen abgeschnallt und es dabei belassen. Für einen Moment wußte ich nicht, wo ich mich befand; dann erinnerte ich mich an mein unmögliches Benehmen und daran, daß ich mich bei Sir Richard entschuldigen mußte. Ich zog an einem gehäkelten Glockenzug, bis der Butler kam. Er erschien in bester Laune und in unbeschreiblich abgetragener Livree. Ich bat ihn, mich unverzüglich zu Sir Richard zu bringen. Er saß im Raucherzimmer. "Guten Morgen," sagte er fröhlich, als ich hereinkam. Ich machte keine Umschweife. "Ich fürchte, ich habe einige der Damen Ihrer Tischgesellschaft überaus brüskiert -" fing ich an.
"Das haben Sie," sagte er. "Fürwahr, das haben Sie." Und dann brach er in Tränen aus und griff nach meiner Hand. "Wie kann ich Ihnen jemals dafür danken?" sagte er. "Seit dreißig Jahren sind wir dreizehn bei Tisch gewesen und ich habe es nie gewagt, sie zu beleidigen, weil ich mich gegenüber allen von ihnen versündigt hatte, und jetzt haben Sie es getan, und sie werden mich hier nie mehr heimsuchen." Er hielt meine Hand lange Zeit fest, dann schüttelte er sie, mit einer Geste, die ich für einen Abschied nahm, und ich entzog ihm meine Hand und verließ das Haus. Ich ging zum Stall hinüber und fand James bei den Pferden und den Hunden vor und fragte ihn, wie er die Nacht verbracht hatte. James, der kein Mann vieler Worte ist, meinte, daß er sich nicht gut erinnern könne. Ich ließ mir vom Butler meine Sporen holen und wir stiegen auf die Pferde und ließen das merkwürdige alte Haus hinter uns und ritten langsam heim, denn die Meute war guter Laune, aber noch fußlahm, und die Pferde waren immer noch erschöpft. Und als wir uns daran erinnerten, daß die Jagdsaison jetzt zu Ende war, wandten wir uns dem Frühling zu und dachten an die neuen, frischen Dinge, die das Abgestandene, Alte ersetzen. Und noch im selben Jahr hieß es - und hieß es noch oft - daß in Sir Richard Aldens Heim jetzt glücklichere Empfänge und Tanzabende gegeben wurden.
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"Thirteen at Table" erschien zuerst in der Sammlung Tales of Wonder im Oktober 1916 im Londoner Verlag Elkin Matthews.
* Die deutsche Jägersprache kennt für den Schwanz der Fuchses den Ausdruck "Lunte", aber keinen für seinen Kopf; die englische Waidmannssprache hat dafür die Worte "brush" und "mask".
U.E.
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