"Einmal, auf dem Bernsteinfluß..." begann Locquialton.
Wir alle hielten fast den Atem an und hörten ihm zu in unserer Runde um den alten Wirtshaustisch, an dem Locquialton saß. Außer ihm waren wir zu fünft. Ein alter, schwerer Tisch, ein niedriger Schankraum, hinter Locquialton ein großer, alter Kamin, in dem man ganze Baumstämme hätte verbrennen können. Die Scheite waren heruntergebrannt, das Feuer loderte nur noch schwach, draußen war es dunkel. Der Raum war nur noch ein paar Kerzen erhellt. Blauer Zigarrenrauch waberte durch den Raum. Ich sehe die Szene noch lebhaft vor mir: der hellblaue Zigarrenqualm, das tiefe Blau der Nacht hinter den Fenstern, das Kastanienbaun des Tisches und Locquialton, wie er sich vorbeugt. Ich höre noch seine Stimme, wie sie "einmal, auf dem Bernsteinfluß..." sagt. Uns war bekannt, was er für ein Weltreisender gewesen war. Oder genauer gesagt: es war uns eben nicht bekannt; niemand wußte, wo er sich herumgetrieben hatte. Wir erinnerten uns nur daran, daß er jahrelang fortgewesen war, ohne jede Nachricht, und dann plötzlich wieder auftauchte. Daß er nichts von seinen Reisen berichtet hatte. Und so entstanden Gerüchte, über unbekannte Flüsse und ferne Länder, die er erkundet hate. Er selbst sprach nicht davon; keiner von uns wußte, wohin er gereist war und zu welchem Zweck. Und eines Tages, während wir zusammensaßen und rauchten, fing er an: "einmal, auf dem Bernsteinfluß..." Wir hörten gespannt zu, und er erzählte uns eine seiner Geschichten. Noch nie zuvor hatte er von sich selbst erzählt. Bald danach änderten sich die Dinge zwischen uns; so weit wir das sagen können, ist dies die einzige Geschichte, die er erzählt hat. Ich kann nicht sagen, ob sie wahr ist; niemand kann das. Ich kannte Locquialton so gut wie wir alle, und kann mit Bestimmtheit sagen, daß er keinen Funken Phantasie besaß. "Einmal, auf dem Bernsteinfluß...": das waren genau die Worte, an die ich mich erinnere - und an den Rest seiner Geschichte erinnere ich mich nach all dieser Zeit eher wie eine Folge von Bildern, die sich in unserer Phantasie abspielten, die vor uns vorbeizogen wie die Schwaden des blauen Zigarrenrauchs vor dem Kaminfeuer. Und diese Geschichte gibt keine Aufklärung über ihn; sie ist so seltsam, wie er es selbst war. Ich halte sie für die seltsamste Geschichte, die ich je gehört habe - aber das mögen meine Leser beurteilen, falls ich nichts vergesse.
Einmal also fuhr Locquialton den Bernsteinfluß hinab, in einem Boot, das er nicht näher beschrieb, und für das er ein seltsames Wort verwendete, einem langen Boot mit dreizehn Ruderern, schwarzen Männern. Er befand sich so weit von jeder Zivilisation entfernt, daß er abends einen gestärkten weißen Hemdkragen hervorholte und anschaute. Ich stelle mir vor, daß er mit Wehmut betrachtete und an elegante Londoner Tanzabende dachte, aber ich weiß es nicht. Bei Locquialton wußte man nie, was er gerade dachte. Er erwähnte den Kragen nur beiläufig, aber es half mir mehr, mir die Gegend vorzustellen, als wenn der Längen- und Breitengrad genannt hätte. Und er erzählte uns von den Liedern, die die Ruderer sangen, seltsame Lieder; ich weiß nicht mehr, was er uns darüber erzählte, aber ich sehe ihn noch deutlich vor mir, als er das tat. Schließlich kamen sie zu einer Biegung des Flusses; am linken Flußufer stand eine Schilfhütte, in der ein Weißer wohnte. Ein weißer Mann, der ganz allein am Bernsteinfluß lebte. Locquialton landete und ging zu der Hütte hinüber; er hatte den Eindruck, daß die Schwarzen sie abschätzig ansahen, aber er war sich nicht ganz sicher, obwohl er sie so gut kannte wie jedermann. Auf jeden Fall handelte es sich um ein recht armseliges Hüttchen, nicht mehr als sechs Fuß hoch und etwa so groß wie ein Gartenhäuschen. Dort lebte der Weiße ganz für sich. Als Locquialton ankam, saß er vor seiner Hütte und blickte auf den Fluß hinaus, als ob ihm die ganze Welt gehören würde. Hinter der Hütte waren ein paar Kisten übereinandergestapelt, und er holte daraus zwei Flaschen vom besten Champagner hervor, den Locquialton nach eigener Aussage je in seinem Leben getrunken hatte. Dieser merkwürdige weiße Mann trank selber keinen Schluck davon; er sagte, er würde Champagner verabscheuen, und sah Locquialton belustigt zu, wie ihm schien, während er sich bediente. Sein einziges Gesprächsthema waren die Berge.
Was Locquialton ihm zu berichten hatte, war in jener Weltgegend weniger wert als Elfenbein; er hätte ihm mitteilen können, welche Modetänze in London angesagt waren, welche Schlager gespielt wurden, welche Themen den Wahlkampf bestimmten. Er wußte, welche Herrenhandschuhe bei den Tanzveranstaltungen getragen wurden, irgendetwas erzählen, das Leute entbehren müssen, die mutterseelenallein am Bernsteinfluß leben, aber der merkwürdige Mensch interessierte sich nur für die Berge. Er schien ganz zufrieden, beinahe glücklich, aber er lebte dort auf dem Schwemmland, das der Bernsteinfluß teilt, wo es auf hunderte von Meilen keine Berge gab, und sprach von nichts anderem. Ganz offenbar waren ihm die Berge das, was London und seine Veranstaltungen für Locquialton waren.
Schließlich, bevor sich Locquialton wieder verabschiedete, öffnete sein Gastgeber einen kleinen Verschlag im Boden der Hütte und holte ein Kistchen hervor, das eine alte, sehr alte Flasche enthielt. Mit äußerster Sorgfalt goß er sich ein kleines Weinglas voll, bot seinem Gast nichts davon an, verkorkte die Flasche vorsichtig wieder, legte das Kistchen in sein Versteck zurück und schloß die Luke im Boden. Er trank, und sein Geist schien ihn zu verlassen und auf Reisen zu gehen und Locquialton mit seinem Champagner und alle Sorgen dieser Welt weit hinter sich zu lassen. Wenn Locquialton etwas zu ihm sagte, sahen die blauen Augen durch ihn hindurch, das gütige Lächeln galt nicht ihm, er sagte nichts mehr und schien Locquialton überhaupt nicht mehr zu bemerken - oder falls doch, nur wie ein uralter, völlig abgeklärter Weiser kleinen Kindern beim Zanken zusieht. So wie Locquialton es uns erzählte, wurde uns klar, daß Locquialton ausfällig geworden sein mußte und die Beherrschung verloren hatte. Schließlich stand er auf, ging zu seinem Boot, und die Schwarzen ruderten davon.
Im Jahr darauf, als sich Locquialton auf dem Rückweg den Fluß hinauf rudern ließ, kan er wieder an der Stelle vorbei. Die Hütte wirkte genauso ärmlich wie vorher, und der Weiße mit seinem blonden Bart saß davor im Schatten und blickte genauso vor sich hin, als ob ihm das ganze Universum gehören würde. Bei der Gelegenheit gelang es Locquialton, seine Geschichte in Erfahrung zu bringen. Er sprach mit ihm über Berge, und von nichts anderem. Der Mann liebte die Berge, obwohl er so weit von ihnen entfernt lebte wie Locquialton von den Tanzlokalen Londons.
Sein Name war MacDonald, wie er sagte; in seiner Jugend war er ein begeisterter Bergsteiger gewesen, war in allen Gebirgen der Welt gewesen, und eines Tages auch in die Huthneth-Berge gelangt. Sie saßen am Tisch in der Hütte vor dem vorzüglichen Champagner, den MacDonald nicht mochte, und MacDonald zog seine alte Jacke aus, knöpfte sein Hemd auf und zeigte Locquialton eine Narbe auf seinem linken Schulterblatt. Eine alte Pfeilwunde, erklärte er. Der Pfeil hatte ihn getroffen, als er sich hoch oben in den Bergen befand und hätte ihn fast in den Hals getroffen, aber der obere Rand des Schulterblatt hatte die Spitze nach links abgelenkt. Als MacDonald es zurück bis ins Lager geschafft hatte, hatte der Arzt den Schaft des Pfeils abgebrochen und die Spitze herausoperiert, indem er sie vorsichtig nach vorn schob - es gibt wegen der Widerhaken keine andere Möglichkeit, eine Pfeilspitze zu entfernen. Sie hatten die Spitze gesäubert und näher angeschaut. Selbst nach so vielen Jahren wurde MacDonalds Stimme an dieser Stelle leiser. So verletzt und geschwächt er auch gewesen war, er hatte sich sofort aufgemacht und hatte die Berge verlassen und hatte seitdem sein Leben weit wie möglich von Bergen entfernt verbracht. Denn die Pfeilspitze war ein Opal. (An dieser Stelle holte Locquialton den prächtigsten Opal aus seiner Jackentasche, den je ein Mensch gesehen hatte, und gab ihm seinem Gast: aus einem funkelnden Blau wie Mondschein in tiefster Mitternacht, der in den Tiefen eines Sees im strahlenden Sonnenschein aufblitzt.) Locquailton versuchte ihn zu beschreiben, aber es gelang ihm nicht, die rechten Worte zu finden. In der Mitte verlief ein Strich von tiefstem Rot, als wenn eine Flamme im Eis eingefroren wäre, sagte Locquialton, oder eine Sturmwolke, wenn die untergehende Sonne hindurchbricht. Etwa so müßte der Himmel aussehen, wenn man aus der Ferne einen Blick darauf erhaschen könnte, sagte er. Dieser Opal löste unnennbare Sehnsüchte aus, aber es gab keine Worte, um ihn angemessen zu beschreiben. "Nur die Zwerge benutzen dergleichen," sagte MacDonald. Locquialton hatte die scharfe Pfeilspitze angeschaut und genickt. "Mir war klar, daß ich mir den Zorn der Zwerge zugezogen hatte," sagte MacDonald.
Und Locquialton sagte, "Sie müssen eins ihrer strengen Tabus verletzt haben," oder etwas in dieser Richtung, und MacDonald hatte eine Weile geschwiegen, und Locquialton hatte dem Champagner zugesprochen. Und dann hatte MacDonald geseufzt. Daß solch ein selbstzufriedener, lächelnder Mensch seufzte, hatte Locquialton überrascht, es war, als ob unverhofft über einem See ein Gewitter losgebrochen wäre. MacDonald seufzte also und sagte dann:
"Ich gehe zurück in die Berge."
Loquialton sagte nichts, und sein Schweigen brachte MacDonald dazu, weiterzusprechen, so wie er gehofft hatte.
"Ich hatte Gorgunder gestohlen," sagte MacDonald.
Locquialton mußte keinem von uns in dieser düsteren Kaschemme erklären, was Gorgunder war: wir hatten alle Das Letzte Buch der Wunder gelesen und wußten, daß es der Wein war, den die Zwerge in ihren Schatzkellern horten.
"Ich hatte Gorgunder gestohlen," sagte MacDonald, "und die Zwerge waren hinter mir her."
Und er sagte zu Locquialton, daß die letzte Flasche aus gepunztem Eisen, die er unter dem Hüttenboden aufbewahrte, beinahe leer war und daß er nie wieder Champagner oder dergleichen genießen könnte; er könne sich ebensogut auf Wasser beschränken. Und Leben ohne Gorgunder sei zwar für die möglich, die ihn niemals probiert hätten, aber für die, die ihn getrunken hätten, sei ein Leben ohne ihn sinnlos, so wie es jener alte Grieche einmal ausgedrückt hatte.
"Welcher alte Grieche?" fragten wir Locquialton.
"Na, der," gab Locquialton zur Antwort, "der gesagt hat, daß es das Beste wäre, wenn man nie geboren wäre, und das zweitbeste, jung zu sterben."
"Ach, ja, der. Erzählen Sie weiter," sagten wir.
MacDonald hatte geseufzt und war bei seinem Plan geblieben, bald in die Berge zurückzukehren. Dann hatte er Locquailton von dem erzählt, was ihm die alten Bauern unten in den Tälern berichtet hatten, wortkarge Leute, die erst lange schweigen und einem dann unschätzbare Dinge mitteilen, und die von einem Zwerg wußten, der hoch oben in den Bergen lebte und der nie sein Ziel verfehlte. Die Bauern dort waren überzeugt, daß die Gemsen in ihrer Gegend nie eines natürlichen Todes sterben, der Zwerg, mit seinem braunen Bart und seiner braunen Haut, von der Farbe der Steine, der nie sein Ziel verfehlte, erlegte sie alle. Und MacDonald war überzeugt, daß er es war, der den Schatz der Zwerge bewachte, auf der anderen Seite der Berge, jener Zwerg, dessen Pfeilspitze er in seiner Tasche bei sich trug. Es war der windigste Tag gewesen, den er in seinem Leben erlebt hatte, und der Zwerg mußte auf sein Rückgrat gezielt haben, und trotz seiner Treffsicherheit hatte der Wind den Pfeil um einen Zoll abgelenkt. Und jetzt wollte er zurück dorthin, denn ohne Gorgunder war das Leben nicht lebenswert, und er seufzte und flüsterte von sich hin: "der Zwerg, der niemals sein Ziel verfehlt."
"Und für mich," sagte Locquialton, "gilt übrigens dasselbe."
Sie besprachen ihre Pläne und beschlossen folgendes: sie würden in die Huthneth-Berge reisen; MacDonald sollte seinen Gorgunder stehlen, und Locquialton würde sich in der Nähe verbergen mit seiner Büchse mit Kaliber .275 und einem Dumdumgeschoß und den Zwerg erledigen, wenn er MacDonald nachsetzte. MacDonald sollte ein Pferd über die Hochpässe in die Nähe des Zwergenhorts hinaufführen, den Hort ausrauben; der Zwerg würde ihn verfolgen und Locquialton würde ihn erwischen.
Es war eine merkwürdige Abmachung, die die beiden da getroffen hatten. Wir schrieben das dem Umstand zu, daß Locquailton möglicherweise in MacDonald jemandem wie sich selbst erkannte, eine Verwandtschaft zwischen ihm und diesem Mann, der aus seinen geliebten Bergen verjagt worden war. Es gab ein Gerücht, daß auch Locquialton verjagt worden war und sich nicht mehr auf hundert Meilen in der Nähe des Tals, das ihm als das schönste auf der Welt erschienen war, sehen lassen durfte, weil er eine Elefantenkuh getötet hatte.
Diese Gedanken gingen uns durch den Kopf, während Locquialtons blaue Augen dem Zigarrenrauch nachsahen, als er schwieg und nachdachte. Als er mit seinem Bericht fortfuhr, sprach er von seinem Besuch, den er der Hütte am Bernsteinfluß zwei Jahre später abgestattet hatte. Sie war in sich zusammengestürzt, wie es mit Schilfhütten so geht; der Tisch war in der tropischen Hitze verrottet, die eiserne Flasche im Bodenversteck war leer, aber in den Kisten hinter den eingefallenen Wänden lagerten noch zweiunddreißig Flaschen vom besten Champagner. Locquialton schwieg erneut, wie wir es seit Jahren von ihm gewohnt waren; er hatte seine Geschichte vom Bernsteinfluß erzählt; Berge interessierten ihn nicht, seine Phantasie, seine Erinnerung - wie immer man das nennen mag - verweilte noch auf dem Bernsteinfluß, bei jenem Langboot, das von Schwarzen gerudert wurde. Wir pafften unsere Zigarren und warteten.
"Was ist in den Bergen passiert?" fragte endlich jemand.
Locquialton zuckte zusammen und war wieder bei uns.
"Ich kam als erster an," sagte er, "und versteckte mich hinter einer Art kleiner Bergspitze, die höher als die Schatzkammer der Zwerge gelegen war, etwa fünfhundert Meter entfernt - fünfhundertvierundzwanzig, um ganz genau zu sein. Eine schmale grüne Talsenke führte direkt bis zur Schatzkammer der Zwerge. MacDonald führte sein Pferd dorthin, hobbelte es an, stieg gute dreißig Meter den Hang empor, bis er zum Eingang der Schatzkammer kam, und kroch hinein. Nach kurzer zeit kam er wieder zum Vorschein, mit sechs eisernen Flaschen, die er an Schlaufen an seinen Gürtel gehängt hatte. Er hastete eilig den Hang hinab, sprang auf sein Pferd, zog an der Schlaufe, um sie zu lösen, und der Zwerg sauste hinter ihm her. Es sah aus, als würde sich eine Sturzflut an braunem Wasser über die Felsen ergießen. Ich konnte nicht sauber zielen; manchmal war er hinter den Felsen, manchmal davor; und in keinem Fall war er deutlich ausuzumachen. MacDonald schlug auf sein Pferd ein, und die eisernen Flaschen an seinem Gürtel schepperten und dröhnten, was es noch mehr erschreckte, und auf dem abschüssigen Talgrund galoppierte es in Nu rasant. Als der Zwerg das Gras erreichte, begann er mit voller Kraft zu laufen, und ich konnte jetzt ordentlich auf ihn zielen. Es war windstill. Wenn man auf jemanden zielt, der läuft, muß man natürlich bei fünfhundert Metern Entfernung gute zehn Meter Vorhand geben. Ich hatte mit ein bißchen weniger gerechnet, weil der Zwerg nur dreieinhalb Fuß hoch war, aber als ich sah, mit welcher Geschwindigkeit er lief, gab ich ein wenig mehr vor. Es war erstaunlich. Ich habe nie ein Wesen gesehen, das weniger zum Schnellauf geeignet gewesen wäre. Er war klein, kurzgliedrig und kompakt, aber er machte das durch schiere Energie wett, durch reine Muskelkraft, seine Füße trampelten stampfend auf die Erde, seine kurzen Beine vollführten einen wahnsinnigen Trommelwirbel. Er rannte ohne jede Eleganz, jeder Schritt dröhnte; er schoß dahin wie ein Hagelschauer. Er war von Kopf bis Fuß von tiefer brauner Farbe und vor dem grünen Talboden gut auszumachen. Er holte auf, aber dann fiel das Pferd in vollen Galopp, was ja bei Pferden erst nach gut hundert Metern der Fall ist. Der Zwerg hielt an, spannte den Bogen und schoß seinen Pfeil ab. Ich hatte selbst schon gefeuert und das Ziel verfehlt, weil ich zu wenig vorgehalten hatte. Kein Schütze hätte ihn treffen können; niemand hätte ahnen können, welche Geschwindigkeit dieser Zwerg erreichen konnte. Nur aus purem Zufall und mit blindem Glück hätte ihn jemand erledigen können. Und so habe ich MacDonald nicht helfen können."
Er schwieg einen Augenblick. Wir hatten die Huthneth-Berge fast vor uns gesehen, und das grüne Hochtal, und den Zwerg, der stehenblieb udn seinen Pfeil abschoß, und als seine Stimme verstummte, saßen wir gewissermaßen wieder im Schankraum mit den blauen Zigarrenrauchschwaden und den Fenstern ohne Vorhängen und der dunklen Nacht davor. Wir saßen da und warteten auf seine letzten Worte und wagten nicht, an seinen Worten zu zweifeln.
"Dieser Mann hatte zwei der wertvollsten Opale, denen je ein Mensch in Berührung gekommen ist," sagte Locquialton. "Einer steckte in seiner Jackentasche. Und einer in seinem Herzen."
* * *
"The Opal Arrowhead" erschien zuerst in Harper's Magazine im Mai 1920; also vor fast genau 100 Jahren, und in Buchform in der Sammlung The Man Who Ate the Phoenix, im Dezember 1949 im Londoner Verlag Jarrolds erschienen. Von der Erzählweise weist die kleine Geschichte schon auf die Art der Erzhälungen hin, die das Spätwerk Dunsanys ausmachen: statt der legendenhaften Wunderberichte aus mythisch grundierten "sekundären" Welten drehen sie sich zumeist um die unerhörten Ereignisse, die Jorkens in seinem Klub berichtet und von denen niemand sagen kann, ob es sich um wahre Begebenheiten handelt oder um Aufschneidereien in der Art eines gewissen Freiherrn aus dem achtzehnten Jahrhundert (seine Zuhörer neigen zur letzteren Auffassung).
Da möglicherweise nicht jeder Leser Dunsanys kleine Sammlung The Last Book of Wonder aus dem Jahr 1916 in der letzten Zeit gelesen hat, sei der Hinweis erlaubt, daß "Gurgundy" (der Auslauf auf -under verdankt sich dem offenkundigen Anklang an Burgundy/Burgunder) eine zentrale Ingredienz in der Erzählung "The Secret of the Sea" darstellt. Die (das?) "expanding bullet", das L. als Geschoß verwendet, umfaßt sowohl Teilmantelgeschosse, die sich beim Aufprall auf das Ziel verformen und daher mehr kinetische Energie abgeben als Vollmantelgeschosse, die aus ihrem Ziel noch mit hoher Geschwindigkeit austreten, aber bei Jägern nicht beliebt sind, weil die großen klaffenden Austrittswunden die Jagdbeute entstellen, als auch Dumdumgeschosse. Da Herr L. augenscheinlich wenig vom waidmännischen Ehrenkodex hält, habe ich mich für die brachiale Version entschieden.
Das Konterfei Dunsanys stammt aus der Zeitschrift The Sketch und erschien in der Ausgabe vom 13. Mai 1914.
"Einmal, auf dem Bernsteinfluß..." begann Locquialton.
Wir alle hielten fast den Atem an und hörten ihm zu in unserer Runde um den alten Wirtshaustisch, an dem Locquialton saß. Außer ihm waren wir zu fünft. Ein alter, schwerer Tisch, ein niedriger Schankraum, hinter Locquialton ein großer, alter Kamin, in dem man ganze Baumstämme hätte verbrennen können. Die Scheite waren heruntergebrannt, das Feuer loderte nur noch schwach, draußen war es dunkel. Der Raum war nur noch ein paar Kerzen erhellt. Blauer Zigarrenrauch waberte durch den Raum. Ich sehe die Szene noch lebhaft vor mir: der hellblaue Zigarrenqualm, das tiefe Blau der Nacht hinter den Fenstern, das Kastanienbaun des Tisches und Locquialton, wie er sich vorbeugt. Ich höre noch seine Stimme, wie sie "einmal, auf dem Bernsteinfluß..." sagt. Uns war bekannt, was er für ein Weltreisender gewesen war. Oder genauer gesagt: es war uns eben nicht bekannt; niemand wußte, wo er sich herumgetrieben hatte. Wir erinnerten uns nur daran, daß er jahrelang fortgewesen war, ohne jede Nachricht, und dann plötzlich wieder auftauchte. Daß er nichts von seinen Reisen berichtet hatte. Und so entstanden Gerüchte, über unbekannte Flüsse und ferne Länder, die er erkundet hate. Er selbst sprach nicht davon; keiner von uns wußte, wohin er gereist war und zu welchem Zweck. Und eines Tages, während wir zusammensaßen und rauchten, fing er an: "einmal, auf dem Bernsteinfluß..." Wir hörten gespannt zu, und er erzählte uns eine seiner Geschichten. Noch nie zuvor hatte er von sich selbst erzählt. Bald danach änderten sich die Dinge zwischen uns; so weit wir das sagen können, ist dies die einzige Geschichte, die er erzählt hat. Ich kann nicht sagen, ob sie wahr ist; niemand kann das. Ich kannte Locquialton so gut wie wir alle, und kann mit Bestimmtheit sagen, daß er keinen Funken Phantasie besaß. "Einmal, auf dem Bernsteinfluß...": das waren genau die Worte, an die ich mich erinnere - und an den Rest seiner Geschichte erinnere ich mich nach all dieser Zeit eher wie eine Folge von Bildern, die sich in unserer Phantasie abspielten, die vor uns vorbeizogen wie die Schwaden des blauen Zigarrenrauchs vor dem Kaminfeuer. Und diese Geschichte gibt keine Aufklärung über ihn; sie ist so seltsam, wie er es selbst war. Ich halte sie für die seltsamste Geschichte, die ich je gehört habe - aber das mögen meine Leser beurteilen, falls ich nichts vergesse.
Einmal also fuhr Locquialton den Bernsteinfluß hinab, in einem Boot, das er nicht näher beschrieb, und für das er ein seltsames Wort verwendete, einem langen Boot mit dreizehn Ruderern, schwarzen Männern. Er befand sich so weit von jeder Zivilisation entfernt, daß er abends einen gestärkten weißen Hemdkragen hervorholte und anschaute. Ich stelle mir vor, daß er mit Wehmut betrachtete und an elegante Londoner Tanzabende dachte, aber ich weiß es nicht. Bei Locquialton wußte man nie, was er gerade dachte. Er erwähnte den Kragen nur beiläufig, aber es half mir mehr, mir die Gegend vorzustellen, als wenn der Längen- und Breitengrad genannt hätte. Und er erzählte uns von den Liedern, die die Ruderer sangen, seltsame Lieder; ich weiß nicht mehr, was er uns darüber erzählte, aber ich sehe ihn noch deutlich vor mir, als er das tat. Schließlich kamen sie zu einer Biegung des Flusses; am linken Flußufer stand eine Schilfhütte, in der ein Weißer wohnte. Ein weißer Mann, der ganz allein am Bernsteinfluß lebte. Locquialton landete und ging zu der Hütte hinüber; er hatte den Eindruck, daß die Schwarzen sie abschätzig ansahen, aber er war sich nicht ganz sicher, obwohl er sie so gut kannte wie jedermann. Auf jeden Fall handelte es sich um ein recht armseliges Hüttchen, nicht mehr als sechs Fuß hoch und etwa so groß wie ein Gartenhäuschen. Dort lebte der Weiße ganz für sich. Als Locquialton ankam, saß er vor seiner Hütte und blickte auf den Fluß hinaus, als ob ihm die ganze Welt gehören würde. Hinter der Hütte waren ein paar Kisten übereinandergestapelt, und er holte daraus zwei Flaschen vom besten Champagner hervor, den Locquialton nach eigener Aussage je in seinem Leben getrunken hatte. Dieser merkwürdige weiße Mann trank selber keinen Schluck davon; er sagte, er würde Champagner verabscheuen, und sah Locquialton belustigt zu, wie ihm schien, während er sich bediente. Sein einziges Gesprächsthema waren die Berge.
Was Locquialton ihm zu berichten hatte, war in jener Weltgegend weniger wert als Elfenbein; er hätte ihm mitteilen können, welche Modetänze in London angesagt waren, welche Schlager gespielt wurden, welche Themen den Wahlkampf bestimmten. Er wußte, welche Herrenhandschuhe bei den Tanzveranstaltungen getragen wurden, irgendetwas erzählen, das Leute entbehren müssen, die mutterseelenallein am Bernsteinfluß leben, aber der merkwürdige Mensch interessierte sich nur für die Berge. Er schien ganz zufrieden, beinahe glücklich, aber er lebte dort auf dem Schwemmland, das der Bernsteinfluß teilt, wo es auf hunderte von Meilen keine Berge gab, und sprach von nichts anderem. Ganz offenbar waren ihm die Berge das, was London und seine Veranstaltungen für Locquialton waren.
Schließlich, bevor sich Locquialton wieder verabschiedete, öffnete sein Gastgeber einen kleinen Verschlag im Boden der Hütte und holte ein Kistchen hervor, das eine alte, sehr alte Flasche enthielt. Mit äußerster Sorgfalt goß er sich ein kleines Weinglas voll, bot seinem Gast nichts davon an, verkorkte die Flasche vorsichtig wieder, legte das Kistchen in sein Versteck zurück und schloß die Luke im Boden. Er trank, und sein Geist schien ihn zu verlassen und auf Reisen zu gehen und Locquialton mit seinem Champagner und alle Sorgen dieser Welt weit hinter sich zu lassen. Wenn Locquialton etwas zu ihm sagte, sahen die blauen Augen durch ihn hindurch, das gütige Lächeln galt nicht ihm, er sagte nichts mehr und schien Locquialton überhaupt nicht mehr zu bemerken - oder falls doch, nur wie ein uralter, völlig abgeklärter Weiser kleinen Kindern beim Zanken zusieht. So wie Locquialton es uns erzählte, wurde uns klar, daß Locquialton ausfällig geworden sein mußte und die Beherrschung verloren hatte. Schließlich stand er auf, ging zu seinem Boot, und die Schwarzen ruderten davon.
Im Jahr darauf, als sich Locquialton auf dem Rückweg den Fluß hinauf rudern ließ, kan er wieder an der Stelle vorbei. Die Hütte wirkte genauso ärmlich wie vorher, und der Weiße mit seinem blonden Bart saß davor im Schatten und blickte genauso vor sich hin, als ob ihm das ganze Universum gehören würde. Bei der Gelegenheit gelang es Locquialton, seine Geschichte in Erfahrung zu bringen. Er sprach mit ihm über Berge, und von nichts anderem. Der Mann liebte die Berge, obwohl er so weit von ihnen entfernt lebte wie Locquialton von den Tanzlokalen Londons.
Sein Name war MacDonald, wie er sagte; in seiner Jugend war er ein begeisterter Bergsteiger gewesen, war in allen Gebirgen der Welt gewesen, und eines Tages auch in die Huthneth-Berge gelangt. Sie saßen am Tisch in der Hütte vor dem vorzüglichen Champagner, den MacDonald nicht mochte, und MacDonald zog seine alte Jacke aus, knöpfte sein Hemd auf und zeigte Locquialton eine Narbe auf seinem linken Schulterblatt. Eine alte Pfeilwunde, erklärte er. Der Pfeil hatte ihn getroffen, als er sich hoch oben in den Bergen befand und hätte ihn fast in den Hals getroffen, aber der obere Rand des Schulterblatt hatte die Spitze nach links abgelenkt. Als MacDonald es zurück bis ins Lager geschafft hatte, hatte der Arzt den Schaft des Pfeils abgebrochen und die Spitze herausoperiert, indem er sie vorsichtig nach vorn schob - es gibt wegen der Widerhaken keine andere Möglichkeit, eine Pfeilspitze zu entfernen. Sie hatten die Spitze gesäubert und näher angeschaut. Selbst nach so vielen Jahren wurde MacDonalds Stimme an dieser Stelle leiser. So verletzt und geschwächt er auch gewesen war, er hatte sich sofort aufgemacht und hatte die Berge verlassen und hatte seitdem sein Leben weit wie möglich von Bergen entfernt verbracht. Denn die Pfeilspitze war ein Opal. (An dieser Stelle holte Locquialton den prächtigsten Opal aus seiner Jackentasche, den je ein Mensch gesehen hatte, und gab ihm seinem Gast: aus einem funkelnden Blau wie Mondschein in tiefster Mitternacht, der in den Tiefen eines Sees im strahlenden Sonnenschein aufblitzt.) Locquailton versuchte ihn zu beschreiben, aber es gelang ihm nicht, die rechten Worte zu finden. In der Mitte verlief ein Strich von tiefstem Rot, als wenn eine Flamme im Eis eingefroren wäre, sagte Locquialton, oder eine Sturmwolke, wenn die untergehende Sonne hindurchbricht. Etwa so müßte der Himmel aussehen, wenn man aus der Ferne einen Blick darauf erhaschen könnte, sagte er. Dieser Opal löste unnennbare Sehnsüchte aus, aber es gab keine Worte, um ihn angemessen zu beschreiben. "Nur die Zwerge benutzen dergleichen," sagte MacDonald. Locquialton hatte die scharfe Pfeilspitze angeschaut und genickt. "Mir war klar, daß ich mir den Zorn der Zwerge zugezogen hatte," sagte MacDonald.
Und Locquialton sagte, "Sie müssen eins ihrer strengen Tabus verletzt haben," oder etwas in dieser Richtung, und MacDonald hatte eine Weile geschwiegen, und Locquialton hatte dem Champagner zugesprochen. Und dann hatte MacDonald geseufzt. Daß solch ein selbstzufriedener, lächelnder Mensch seufzte, hatte Locquialton überrascht, es war, als ob unverhofft über einem See ein Gewitter losgebrochen wäre. MacDonald seufzte also und sagte dann:
"Ich gehe zurück in die Berge."
Loquialton sagte nichts, und sein Schweigen brachte MacDonald dazu, weiterzusprechen, so wie er gehofft hatte.
"Ich hatte Gorgunder gestohlen," sagte MacDonald.
Locquialton mußte keinem von uns in dieser düsteren Kaschemme erklären, was Gorgunder war: wir hatten alle Das Letzte Buch der Wunder gelesen und wußten, daß es der Wein war, den die Zwerge in ihren Schatzkellern horten.
"Ich hatte Gorgunder gestohlen," sagte MacDonald, "und die Zwerge waren hinter mir her."
Und er sagte zu Locquialton, daß die letzte Flasche aus gepunztem Eisen, die er unter dem Hüttenboden aufbewahrte, beinahe leer war und daß er nie wieder Champagner oder dergleichen genießen könnte; er könne sich ebensogut auf Wasser beschränken. Und Leben ohne Gorgunder sei zwar für die möglich, die ihn niemals probiert hätten, aber für die, die ihn getrunken hätten, sei ein Leben ohne ihn sinnlos, so wie es jener alte Grieche einmal ausgedrückt hatte.
"Welcher alte Grieche?" fragten wir Locquialton.
"Na, der," gab Locquialton zur Antwort, "der gesagt hat, daß es das Beste wäre, wenn man nie geboren wäre, und das zweitbeste, jung zu sterben."
"Ach, ja, der. Erzählen Sie weiter," sagten wir.
MacDonald hatte geseufzt und war bei seinem Plan geblieben, bald in die Berge zurückzukehren. Dann hatte er Locquailton von dem erzählt, was ihm die alten Bauern unten in den Tälern berichtet hatten, wortkarge Leute, die erst lange schweigen und einem dann unschätzbare Dinge mitteilen, und die von einem Zwerg wußten, der hoch oben in den Bergen lebte und der nie sein Ziel verfehlte. Die Bauern dort waren überzeugt, daß die Gemsen in ihrer Gegend nie eines natürlichen Todes sterben, der Zwerg, mit seinem braunen Bart und seiner braunen Haut, von der Farbe der Steine, der nie sein Ziel verfehlte, erlegte sie alle. Und MacDonald war überzeugt, daß er es war, der den Schatz der Zwerge bewachte, auf der anderen Seite der Berge, jener Zwerg, dessen Pfeilspitze er in seiner Tasche bei sich trug. Es war der windigste Tag gewesen, den er in seinem Leben erlebt hatte, und der Zwerg mußte auf sein Rückgrat gezielt haben, und trotz seiner Treffsicherheit hatte der Wind den Pfeil um einen Zoll abgelenkt. Und jetzt wollte er zurück dorthin, denn ohne Gorgunder war das Leben nicht lebenswert, und er seufzte und flüsterte von sich hin: "der Zwerg, der niemals sein Ziel verfehlt."
"Und für mich," sagte Locquialton, "gilt übrigens dasselbe."
Sie besprachen ihre Pläne und beschlossen folgendes: sie würden in die Huthneth-Berge reisen; MacDonald sollte seinen Gorgunder stehlen, und Locquialton würde sich in der Nähe verbergen mit seiner Büchse mit Kaliber .275 und einem Dumdumgeschoß und den Zwerg erledigen, wenn er MacDonald nachsetzte. MacDonald sollte ein Pferd über die Hochpässe in die Nähe des Zwergenhorts hinaufführen, den Hort ausrauben; der Zwerg würde ihn verfolgen und Locquialton würde ihn erwischen.
Es war eine merkwürdige Abmachung, die die beiden da getroffen hatten. Wir schrieben das dem Umstand zu, daß Locquailton möglicherweise in MacDonald jemandem wie sich selbst erkannte, eine Verwandtschaft zwischen ihm und diesem Mann, der aus seinen geliebten Bergen verjagt worden war. Es gab ein Gerücht, daß auch Locquialton verjagt worden war und sich nicht mehr auf hundert Meilen in der Nähe des Tals, das ihm als das schönste auf der Welt erschienen war, sehen lassen durfte, weil er eine Elefantenkuh getötet hatte.
Diese Gedanken gingen uns durch den Kopf, während Locquialtons blaue Augen dem Zigarrenrauch nachsahen, als er schwieg und nachdachte. Als er mit seinem Bericht fortfuhr, sprach er von seinem Besuch, den er der Hütte am Bernsteinfluß zwei Jahre später abgestattet hatte. Sie war in sich zusammengestürzt, wie es mit Schilfhütten so geht; der Tisch war in der tropischen Hitze verrottet, die eiserne Flasche im Bodenversteck war leer, aber in den Kisten hinter den eingefallenen Wänden lagerten noch zweiunddreißig Flaschen vom besten Champagner. Locquialton schwieg erneut, wie wir es seit Jahren von ihm gewohnt waren; er hatte seine Geschichte vom Bernsteinfluß erzählt; Berge interessierten ihn nicht, seine Phantasie, seine Erinnerung - wie immer man das nennen mag - verweilte noch auf dem Bernsteinfluß, bei jenem Langboot, das von Schwarzen gerudert wurde. Wir pafften unsere Zigarren und warteten.
"Was ist in den Bergen passiert?" fragte endlich jemand.
Locquialton zuckte zusammen und war wieder bei uns.
"Ich kam als erster an," sagte er, "und versteckte mich hinter einer Art kleiner Bergspitze, die höher als die Schatzkammer der Zwerge gelegen war, etwa fünfhundert Meter entfernt - fünfhundertvierundzwanzig, um ganz genau zu sein. Eine schmale grüne Talsenke führte direkt bis zur Schatzkammer der Zwerge. MacDonald führte sein Pferd dorthin, hobbelte es an, stieg gute dreißig Meter den Hang empor, bis er zum Eingang der Schatzkammer kam, und kroch hinein. Nach kurzer zeit kam er wieder zum Vorschein, mit sechs eisernen Flaschen, die er an Schlaufen an seinen Gürtel gehängt hatte. Er hastete eilig den Hang hinab, sprang auf sein Pferd, zog an der Schlaufe, um sie zu lösen, und der Zwerg sauste hinter ihm her. Es sah aus, als würde sich eine Sturzflut an braunem Wasser über die Felsen ergießen. Ich konnte nicht sauber zielen; manchmal war er hinter den Felsen, manchmal davor; und in keinem Fall war er deutlich ausuzumachen. MacDonald schlug auf sein Pferd ein, und die eisernen Flaschen an seinem Gürtel schepperten und dröhnten, was es noch mehr erschreckte, und auf dem abschüssigen Talgrund galoppierte es in Nu rasant. Als der Zwerg das Gras erreichte, begann er mit voller Kraft zu laufen, und ich konnte jetzt ordentlich auf ihn zielen. Es war windstill. Wenn man auf jemanden zielt, der läuft, muß man natürlich bei fünfhundert Metern Entfernung gute zehn Meter Vorhand geben. Ich hatte mit ein bißchen weniger gerechnet, weil der Zwerg nur dreieinhalb Fuß hoch war, aber als ich sah, mit welcher Geschwindigkeit er lief, gab ich ein wenig mehr vor. Es war erstaunlich. Ich habe nie ein Wesen gesehen, das weniger zum Schnellauf geeignet gewesen wäre. Er war klein, kurzgliedrig und kompakt, aber er machte das durch schiere Energie wett, durch reine Muskelkraft, seine Füße trampelten stampfend auf die Erde, seine kurzen Beine vollführten einen wahnsinnigen Trommelwirbel. Er rannte ohne jede Eleganz, jeder Schritt dröhnte; er schoß dahin wie ein Hagelschauer. Er war von Kopf bis Fuß von tiefer brauner Farbe und vor dem grünen Talboden gut auszumachen. Er holte auf, aber dann fiel das Pferd in vollen Galopp, was ja bei Pferden erst nach gut hundert Metern der Fall ist. Der Zwerg hielt an, spannte den Bogen und schoß seinen Pfeil ab. Ich hatte selbst schon gefeuert und das Ziel verfehlt, weil ich zu wenig vorgehalten hatte. Kein Schütze hätte ihn treffen können; niemand hätte ahnen können, welche Geschwindigkeit dieser Zwerg erreichen konnte. Nur aus purem Zufall und mit blindem Glück hätte ihn jemand erledigen können. Und so habe ich MacDonald nicht helfen können."
Er schwieg einen Augenblick. Wir hatten die Huthneth-Berge fast vor uns gesehen, und das grüne Hochtal, und den Zwerg, der stehenblieb udn seinen Pfeil abschoß, und als seine Stimme verstummte, saßen wir gewissermaßen wieder im Schankraum mit den blauen Zigarrenrauchschwaden und den Fenstern ohne Vorhängen und der dunklen Nacht davor. Wir saßen da und warteten auf seine letzten Worte und wagten nicht, an seinen Worten zu zweifeln.
"Dieser Mann hatte zwei der wertvollsten Opale, denen je ein Mensch in Berührung gekommen ist," sagte Locquialton. "Einer steckte in seiner Jackentasche. Und einer in seinem Herzen."
* * *
"The Opal Arrowhead" erschien zuerst in Harper's Magazine im Mai 1920; also vor fast genau 100 Jahren, und in Buchform in der Sammlung The Man Who Ate the Phoenix, im Dezember 1949 im Londoner Verlag Jarrolds erschienen. Von der Erzählweise weist die kleine Geschichte schon auf die Art der Erzhälungen hin, die das Spätwerk Dunsanys ausmachen: statt der legendenhaften Wunderberichte aus mythisch grundierten "sekundären" Welten drehen sie sich zumeist um die unerhörten Ereignisse, die Jorkens in seinem Klub berichtet und von denen niemand sagen kann, ob es sich um wahre Begebenheiten handelt oder um Aufschneidereien in der Art eines gewissen Freiherrn aus dem achtzehnten Jahrhundert (seine Zuhörer neigen zur letzteren Auffassung).
Da möglicherweise nicht jeder Leser Dunsanys kleine Sammlung The Last Book of Wonder aus dem Jahr 1916 in der letzten Zeit gelesen hat, sei der Hinweis erlaubt, daß "Gurgundy" (der Auslauf auf -under verdankt sich dem offenkundigen Anklang an Burgundy/Burgunder) eine zentrale Ingredienz in der Erzählung "The Secret of the Sea" darstellt. Die (das?) "expanding bullet", das L. als Geschoß verwendet, umfaßt sowohl Teilmantelgeschosse, die sich beim Aufprall auf das Ziel verformen und daher mehr kinetische Energie abgeben als Vollmantelgeschosse, die aus ihrem Ziel noch mit hoher Geschwindigkeit austreten, aber bei Jägern nicht beliebt sind, weil die großen klaffenden Austrittswunden die Jagdbeute entstellen, als auch Dumdumgeschosse. Da Herr L. augenscheinlich wenig vom waidmännischen Ehrenkodex hält, habe ich mich für die brachiale Version entschieden.
Das Konterfei Dunsanys stammt aus der Zeitschrift The Sketch und erschien in der Ausgabe vom 13. Mai 1914.
(Harper's Magazine; Ausgabe vom Juli 1920)
U.E.
© U.E.. Für Kommentare bitte hier klicken.