Vor ein paar Tagen, am 31. Mai 2020, ist in New York der Künstler Christo Vladimirov Jevascheff (ich erlaube mir aufgrund seiner amerikanischen Staatsbürgerschaft die englische Schreibweise seines Namens), weltweit bekannt nur unter seinem Vornamen Christo (und seit Mitte der neunziger Jahre aufgrund seiner lebenslangen künstlerischen Partnerschaft mit seiner Ehefrau Jeanne-Denat de Guillebon, mit der er das Geburtdatem am 13. Juni 1935 teilte, als Christo und Jeanne-Claude) geläufig im Alter von 84 Jahren gestorben. In das deutsche kulturelle Gedächtnis ist er durch seiner Verhüllung des Berliner Reichstagsgebäudes eingeprägt worden, dessen Beginn sich am 17. Juni (dieses Datum ist kein Zufall) zum 25 Mal jähren wird und bis zum 7. Juli 1995 dauerte. Die Tatsachen gingen durch alle Feuilletons; die Eckdaten seines Schaffens, die ikonischen Werke, mit mit seinem Namen verbunden sind, sind (zumindest anläßlich der Rückblicked aus diesem Anlaß) allegemein geläufig. Gibt es noch etwas hinzuzufügen? Vielleicht - wenn man die beiden Gedankengänge, die mir bei dieser Gelegenheit durch den Kopf gingen, nebeneinanderlegt. Wohlgemerkt: ich beanspruche keinerlei Originalität für diese kleinen Überlegungen (womöglich sind sie in den Nachrufen in den Feulletons hunderte von Malen formuliert worden) noch irgendeine "Profundität" - und schon gar keine "Richtigkeit". Die postmoderne Kunst - die mit der praktischen Anwendung des "erweiterten Kunstbegriffs" ihren Anlauf nahm - und zu der eben auch das Schaffen von Christo gehört, seit seinen ersten Auftritten Anfang der 1960er Jahre im Umfeld des Fluxus, der Objektkunst, des "nouveau réalisme", zu denen auch Yves Klein zählte mit seinen Aktionen, bei denen er etwa nackte Assistentinnen durch blaue Farbe zog; auch die Pop Art jener Jahre darf dazu gezähöt werden (Christos kleine eingepackte Alltagsgegenstände aus seiner allerersten Schaffenphase entsprechend hier den Verpackungen, die Andy Warhol durch die Applikation seiner Unterschrift zum work of art veredelte - gehört ihrem Wesen nach zum exemplarischen Anwendungsfall von Umberto Ecos Theorie des "offenen Kunstwerks", naach dem ein Kunstwerk dazu dient, Interpretationen, Ausdeutungen zu generieren (je mehr, desto besser), von denen keine in Anspruch nehmen kann, "richtiger", "zutreffender" zu sein als die anderen.
* * *
1.
Christos Kunst - jedenfalls jenseits dieser bescheidenen ersten Schritte - war immer die Land Art, jene Richtung des künstlerischen Betätigung ab Ende der sechziger Jahre, zu deren ikonischen Werken Walter de Marias Lightning Field und Robert Smithsons Spiral Jetty zählen. Zwar haben sich Landschaftsarchitekten seit jeher mit der Bewegung großer Erd- und Gesteinsmassen beschäftigt; Gärten und Parks spiegeln die Paradieskonzeptionen der Menschen vom alten Orient über Fernost bis zu den Wiederspiegelungen formaler idealer Gesellschaftszustände in den strengen Formenkanons der Renaissance und des Barock, der durch Kunst gezähmten Naturschwärmerei des englischen Landschaftsgarten. Skulpturen und Bauten dienten neben den ihnen selbst innewohnenden Symbolwerten auch immer als Landschaftsakzent, und den Leuchttürme und Brücken, die die Welt im Zuge der industriellen Revolution dem Verkehr und Warenaustausch erschlossen, eignete immer ein hoher ästhetischer Wert, der über ihre utilitaristische Funktionm weit hinausging. Aber die Werke der Land Art, bei denen die Konturen der Landschaft selbst, ihre Steine, ihr Daliegen unter dem offenen Himmel gewissermaßen als Leinwand dienten, stellen nichts mehr da: sie sind bloßer ästhetischer Ausdruck, sie genügen sich selbst. Wenn sie aus etwas verweisen, so höchsten auf den Akt ihrer Erschaffung durch den Menschen. Sie dienen keinem Zweck mehr: nicht der Kultivierung der Natur in den Bereich des Ästhetischen als Blumenhort und des Nahrhaften als Lieferant von Obst und Gemüse; sie sind sind keine Orte des Heiligen oder früherer Verehrung (obschon diese Assoziation bei manchen durchaus mitschwingt: die Spiral Jetty erweckt, durchaus mit Vorbedacht, Anklänge an prähistorische Steinsetzungen wie etwas Stonehenge oder die Menhirreihen Alteuropas; man kann sich ohne jede Mühe vorstellen, daß sie nicht im April 1970, vor genau einem halben Jahrhundert von einem lokalen Bauunternehmen mit zwei Kipplastern und einer Planierraupe im Lauf einer Woche am Uferbereich des Great Salt Lake aufgeschichtet wurde, sondern vor Jahrtausenden von einem längst vergessenen Volk zu Ehren unbekannter Gottheiten. Das ist das andere Kennmerk dieser Werke: sie sind zeitlos: während einem "normalen" Kunstwerk die Zeit seiner Entstehung (zumindest von Kennern) mühelos anzusehen ist, wirken sie diesen wechselnden "künstlerischen Verfahren" (um das negativ belastete "Moden" zu vermeiden) enthoben: wie die Formen, die aus den Kräften des Geologie, aus Wind und Erosion, aus den Wachstumsfolgen von Ökosystemen, den Bauten stammesbildender Insekten entstehen. Christos "Running Fence" von 1976, der seinen Namen in den USA zu einem "household name" der Kunstszene machte, zeichnete "im Grunde" nur die Konturen des Erdbodens des kalifornischen Sonoma County nach, hob sie zwei Wochen lang ikonisch hervor - bevor die Installation abgebaut wurde und nur noch Photos und ein paar Fremdenverkehrs-Erinnerungstafeln davon Zeugnis ablegten.
Das ist das andere Spezifikum von Christos Werken: sie sind, aus Prinzip, ephemer, vergänglich. Und zugleich sollen sie, weil sie existierten und dokumentiert sind, bleiben. Sie beruhen auf diesem janusköpfigen Paradoxon - so wie auf ihrer schieren Größe und ihrer unmittelbar wirkenden, positiven ästhetischen Wirkung: der silbern glänzende Metallüberzug des Stoffbahnen, die bei der Verhüllungs des Reichtsgagsgebäudes verwendet wurden; das Flamingo-Rosa, das 1983 die "Surrounded Islands" umgab, als habe sich eine kartographische Konvention aus einem Atlas in die Wirklichkeit verirrt; das intensive Blau, mit dem 1991 1340 große Sonnenschirme im japanischen Ibaraki ihre leuchtend gelben 1760 Pendants in Kalifornien "grüßten": diese unmittelbar ansprechende Materialität gehört zum Kernbestand von Christos ästhetischem Programm. (Man sehe es mir nach - es handelt sich nicht um krähwinkelhaften Lokalpatriotismus - wenn ich an dieser Stelle erwähne, daß der dafür verwendete metallbeschichtete Spezialstoff - so wie auch der Stoff für die späteren Projekte "Verhüllte Bäume" bei Basel (1998), "The Gates" (Central Park, New York, 2005) und die "Floating Piers" (Norditalien, 2016 - das erste Projekt, daß Christo nach dem Tod seiner Frau 2009 allein konzipierte und umsetzte; und dessen Kosten von 20 Millionen Euro er vollständig aus seiner eigenen Kasse bestritt; Christo und Jean-Claude haben bei keinem ihrer Projekte Sponsorengelder angenommen und die Gemeinden haben niemals Kosten tragen müssen) - von der Firma Schilgen in Emsdetten gefertigt wurde, 15 km von dem Schreibtisch, an dem ich dies hier tippe, entfernt angesiedelt ud bis zu ihrer Fusion mit der Grevener Firma Selex eines der vier letzten Unternehmen von 50 aus der Hochzeit der Textilindustrie, die das ökonomische Rückgrad der industriellen Revolution hier im Münsterland ausmachte (und das letzte Unternehmen in Europa, das noch im 21. Jahrhundert Jute verarbeitete).
* * *
2.
Es fällt auf, daß es um das, was man die "künstlerische Bildkraft" bei der Erinnerung an historische Kipppunkte, an Zäsuren, an Zeitenwenden in den letzten Jahrzehnten, nicht gut bestellt ist, um es höflich auszudrücken. Wenn man es mit den Denkmälern des Historizismus, des nationalen Gedenkens, der Symbolisierung des eigenen Wesens und Herkommens, das das 19 Jahrhundert prägte, vergleicht, wird der Niveauunterschied besonders augenfällig: den Houeses of Parliament in London, dem Pantheon in Paris, den Wahrzeichen der Metropolen vom Eiffelturm bis zur Brooklyn Bridge und der Freiheitsstatue hat das zu Symbolen geronnene historische Gedächtnis der letzten 30, 40 Jahre schlicht nichts entgegenzusetzen. (Es mag sein, daß dieses Problem, zumindest ansatzweise, nicht wirklich neu ist: das Völkerschlachtdenkmal bei Leipzig darf durchaus, ungeachtet seiner Intention, als "ästhetisches Grauen" bezeichnet werden, und die Frage, inwieweit es für solche Ereignisse, zumal wenn siie die tragischen Dimensionen erreichen, wie sie das 20. Jahrhundert geprägt haben, überhaupt eine angemessene ästhetische Umsetzung geben kann, sei hier außen vor gelassen. Ebenso die Frage, ob es solcher sinnbildlichen Gedächtnisorte überhaupt bedarf. DASS sich aber ein eklatantes Unvermögen, auch ein Unwillen zu solcher Bildfindung zeigt, ist unbestreitbar.
In seinem "Tagebuch, bei Nacht geschrieben", das der polnische Schriftsteller Gustaw Herling (1919-2000) seit Ende der vierziger Jahre aus dem italienischen - genauer: neapolitanischen - Exil veröffentlichte, berichtet er im März 1987 über eine Pariser Ausstellung von Werken aus Anlaß des Themas "Erdbebenhilfe":
Ein vergleichbares Unvermögen zur minimalen ästhetischen Gestaltung zeigt sich etwa auch in der Gestaltung der "Einheitswippe", jenes geplanten Gedenk-Mals zur Deutschen Einheit, dessen erster Spatenstich inder letzten Woche in Berlin erfolgt ist. Was sich in dem sinnfreien Geschaukel (wenn es deen a. überhaupt fertiggestellt wird und b. nicht stante pede aus Sicherheitsgründen arretiert wird) "ausdrücken" soll, wird sich niemandem erschließen. Hann Haackes Installation "Der Bevölkerung" im Lichthof des Reichtstagsgebäudes erfüllt den Zweck seiner Konterkarierung der Inschrift "Dem deutschen Volke" höchstens in negativer Weise, da es jedem Gestaltungswillen und Kultivierung Hohn spricht und der Brache und dem Unkraut Priorität eingeräumt hat (besser kann man den Prinzipien, die dem Gelingen einer "geordneten" Gemeinwesens zugrunde liegen, nicht in künstlerischer Bildgebung Hohn entgegensetzen; in dieser Hinsicht darf dieses Kunstwerk, bei allem bescheidenen Aufwand der Umsetzung - wieviel Mühe braucht es, ein Mistbeet anzulegen? auch wenn man eine Neon-Leuchtschrift auf desen Boden plaziert? - als durchaus gelungen gelten. Die Dresdner Frauenkirche ist durch ihren Wiederaufbau zu DEM Denkmal für den Untergang - und eben auch die Auferstehung - Dresdens im Feuersturm geworden.
Man mag Eisenmans Holocaust-Mahnmal als einen unter diesen Auspizien gelungene Erinnerungsort wertschätzen. Das Säulenfeld war vor und nach seiner Errichtung heftig umstritten, und die Frage, ob es nicht dadurch, weil es eben kein fortwährend auspeitschendes Skandalon darstellt, den von vielen "ewigen Warnern" gewünschten Zweck nicht eher konterkariert, sei hier außen vor gelassen.
Bei Christos Reichstagsverhüllung ging es, wenn man sich zurückerinnert, um eine solche ästhetische Funktionalisierung. Das Vorhaben war heftig umstritten; und es war überhaupt erst nach der Wiederverereiniung in den Breich des Denkbaren gerückt, obwohl Christo und Jeanne-Claude das Projekt seit 1972 geplant hatten. Aber was 1994 mit der anstehenden Neunutzung anstand, war nicht einfach das Vorhaben, ein großes, augenfällig im Stadtbild plaziertes Bauvolumen für zwei Wochen in einer Art Geschenkverpackung zu hüllen, einen abstrakten Kubus mit vielen Falten und Ecken, wie etwa bei der Verhüllung des Pont Neuf, und es bei diesem Verfremdungseffekt zu belassen. Vielmehr ging es um einen historischen Exorzismus, darum, aus einem durch durch die absolute Barbarei des Nationalsoziaslismus verfluchten Ort der zentralen Staatsgewalt durch die leuchtend weiß-silberne Einkleidung einen Neustart zu ermöglichen und die Schatten des früheren zwar noch in Erinnerung zu halten, sie aber von einer virulenten Gefahr in den Bereich der schützenden Erinnerung zu überführen. (Aktuell könnte man sagen: den tödlichen Erreger des mörderischen Totalitarismus in eine abgeschwächte Form zu überführen, die dann in Form der Mahnung einen wirksamen Impfstoff darstellen würde.) Die Notwendigkeit eines solchen Verfahrens sei hier außen vor (der Rest der Welt bedarf keiner solchen Scharaden, um sich zu impfen); daß sich die überbordende Erinnerung im Deutschen zu einem kontraproduktiven Memorialkitsch verdichtet hat, ebenso. Ebenso, daß eine solche Besessenheit wahrscheinlich die Natur des menschlichen Wesens wie der historischen Selbstverständnisses des Einzelnen wie des Kollektivs fatal verkennt. Unverkennbar ist jedenfalls, daß hier symbolische Handlungen vorliegen, Riten, Quasireligiöses.
Es bleibt auch, daß als Bildgebung historischer Zäsur, als Sinnbild für einen Neuanfang, hier Vorgänge, ästhetische Erscheinungen sich als einzige ins kollektive Gedächtnis geprägt haben, die das genaue Gegenteil des "Historischen" darstellen - ohne erkennbaren bildlichen, figürlichen Bezug auf geschichtliche Vorgänge. Die Land Art, die den Reichstag verhüllte, ist eine prinzipielle Absage an die Geschichte, an das Werden und seine Verwerfungen. Zwar ist sie Ausfluß und Resultat menschlichen Handelns und menschlicher Planung, aber sie positnioniert sich - wie übrigens die Erkenntnisse der Wissenschaft - außerhalb dieses Kontinuums. Und es scheint mir genau kein Zufall, daß ein solches ästhetisches Verfahren hier Erfolg gehabt hat. Denn der Sinn der deutschen "Geschichtspolitik" seit 50 Jahren ist nicht die historische Aufklärung, das Wissen um das Geschehen in immer größeren Detailkenntnissen, um seine Bedingugnen und Widersprüche, nicht um ein nchterns, aber pietätvolles Verhalten in Angesicht des Geschehenen. Schon gar nicht um "Bewältigung" - was im Hinblick auf historische Traumata Blendwerk und (die Vokabel fiel oben) Scharlatanerie darstellt. Es geht um die Tabula rasa, um den Geschichtsverlust, weil das Geschehene der Platz der nicht wiedergutzumachenden Erbsünde eingenommen hat. Dies ist nicht als Vorwurf gemeint: die kollektiven psychischen Mechanismen, die hier notwendigerweise den Ausschlag geben, lassen nichts anderes zu - so es sich eben auch, als das Christentum seine Kategorien noch ungebrochen zur Welt- und Lebensdeutung absolut setzen konnte, genau das Konzept der Erbsünde war. Es geht nicht um Vorwürfe; es geht mir um den Versuch, zu erklären, warum in Deutschland das historische, symbolische Gedächtnis diesen Sonderweg eingeschlagen hat, den wir spätestens seit der Rede Richard von Weizsäckers beobachten können.
Vor ein paar Tagen, am 31. Mai 2020, ist in New York der Künstler Christo Vladimirov Jevascheff (ich erlaube mir aufgrund seiner amerikanischen Staatsbürgerschaft die englische Schreibweise seines Namens), weltweit bekannt nur unter seinem Vornamen Christo (und seit Mitte der neunziger Jahre aufgrund seiner lebenslangen künstlerischen Partnerschaft mit seiner Ehefrau Jeanne-Denat de Guillebon, mit der er das Geburtdatem am 13. Juni 1935 teilte, als Christo und Jeanne-Claude) geläufig im Alter von 84 Jahren gestorben. In das deutsche kulturelle Gedächtnis ist er durch seiner Verhüllung des Berliner Reichstagsgebäudes eingeprägt worden, dessen Beginn sich am 17. Juni (dieses Datum ist kein Zufall) zum 25 Mal jähren wird und bis zum 7. Juli 1995 dauerte. Die Tatsachen gingen durch alle Feuilletons; die Eckdaten seines Schaffens, die ikonischen Werke, mit mit seinem Namen verbunden sind, sind (zumindest anläßlich der Rückblicked aus diesem Anlaß) allegemein geläufig. Gibt es noch etwas hinzuzufügen? Vielleicht - wenn man die beiden Gedankengänge, die mir bei dieser Gelegenheit durch den Kopf gingen, nebeneinanderlegt. Wohlgemerkt: ich beanspruche keinerlei Originalität für diese kleinen Überlegungen (womöglich sind sie in den Nachrufen in den Feulletons hunderte von Malen formuliert worden) noch irgendeine "Profundität" - und schon gar keine "Richtigkeit". Die postmoderne Kunst - die mit der praktischen Anwendung des "erweiterten Kunstbegriffs" ihren Anlauf nahm - und zu der eben auch das Schaffen von Christo gehört, seit seinen ersten Auftritten Anfang der 1960er Jahre im Umfeld des Fluxus, der Objektkunst, des "nouveau réalisme", zu denen auch Yves Klein zählte mit seinen Aktionen, bei denen er etwa nackte Assistentinnen durch blaue Farbe zog; auch die Pop Art jener Jahre darf dazu gezähöt werden (Christos kleine eingepackte Alltagsgegenstände aus seiner allerersten Schaffenphase entsprechend hier den Verpackungen, die Andy Warhol durch die Applikation seiner Unterschrift zum work of art veredelte - gehört ihrem Wesen nach zum exemplarischen Anwendungsfall von Umberto Ecos Theorie des "offenen Kunstwerks", naach dem ein Kunstwerk dazu dient, Interpretationen, Ausdeutungen zu generieren (je mehr, desto besser), von denen keine in Anspruch nehmen kann, "richtiger", "zutreffender" zu sein als die anderen.
* * *
1.
Christos Kunst - jedenfalls jenseits dieser bescheidenen ersten Schritte - war immer die Land Art, jene Richtung des künstlerischen Betätigung ab Ende der sechziger Jahre, zu deren ikonischen Werken Walter de Marias Lightning Field und Robert Smithsons Spiral Jetty zählen. Zwar haben sich Landschaftsarchitekten seit jeher mit der Bewegung großer Erd- und Gesteinsmassen beschäftigt; Gärten und Parks spiegeln die Paradieskonzeptionen der Menschen vom alten Orient über Fernost bis zu den Wiederspiegelungen formaler idealer Gesellschaftszustände in den strengen Formenkanons der Renaissance und des Barock, der durch Kunst gezähmten Naturschwärmerei des englischen Landschaftsgarten. Skulpturen und Bauten dienten neben den ihnen selbst innewohnenden Symbolwerten auch immer als Landschaftsakzent, und den Leuchttürme und Brücken, die die Welt im Zuge der industriellen Revolution dem Verkehr und Warenaustausch erschlossen, eignete immer ein hoher ästhetischer Wert, der über ihre utilitaristische Funktionm weit hinausging. Aber die Werke der Land Art, bei denen die Konturen der Landschaft selbst, ihre Steine, ihr Daliegen unter dem offenen Himmel gewissermaßen als Leinwand dienten, stellen nichts mehr da: sie sind bloßer ästhetischer Ausdruck, sie genügen sich selbst. Wenn sie aus etwas verweisen, so höchsten auf den Akt ihrer Erschaffung durch den Menschen. Sie dienen keinem Zweck mehr: nicht der Kultivierung der Natur in den Bereich des Ästhetischen als Blumenhort und des Nahrhaften als Lieferant von Obst und Gemüse; sie sind sind keine Orte des Heiligen oder früherer Verehrung (obschon diese Assoziation bei manchen durchaus mitschwingt: die Spiral Jetty erweckt, durchaus mit Vorbedacht, Anklänge an prähistorische Steinsetzungen wie etwas Stonehenge oder die Menhirreihen Alteuropas; man kann sich ohne jede Mühe vorstellen, daß sie nicht im April 1970, vor genau einem halben Jahrhundert von einem lokalen Bauunternehmen mit zwei Kipplastern und einer Planierraupe im Lauf einer Woche am Uferbereich des Great Salt Lake aufgeschichtet wurde, sondern vor Jahrtausenden von einem längst vergessenen Volk zu Ehren unbekannter Gottheiten. Das ist das andere Kennmerk dieser Werke: sie sind zeitlos: während einem "normalen" Kunstwerk die Zeit seiner Entstehung (zumindest von Kennern) mühelos anzusehen ist, wirken sie diesen wechselnden "künstlerischen Verfahren" (um das negativ belastete "Moden" zu vermeiden) enthoben: wie die Formen, die aus den Kräften des Geologie, aus Wind und Erosion, aus den Wachstumsfolgen von Ökosystemen, den Bauten stammesbildender Insekten entstehen. Christos "Running Fence" von 1976, der seinen Namen in den USA zu einem "household name" der Kunstszene machte, zeichnete "im Grunde" nur die Konturen des Erdbodens des kalifornischen Sonoma County nach, hob sie zwei Wochen lang ikonisch hervor - bevor die Installation abgebaut wurde und nur noch Photos und ein paar Fremdenverkehrs-Erinnerungstafeln davon Zeugnis ablegten.
Das ist das andere Spezifikum von Christos Werken: sie sind, aus Prinzip, ephemer, vergänglich. Und zugleich sollen sie, weil sie existierten und dokumentiert sind, bleiben. Sie beruhen auf diesem janusköpfigen Paradoxon - so wie auf ihrer schieren Größe und ihrer unmittelbar wirkenden, positiven ästhetischen Wirkung: der silbern glänzende Metallüberzug des Stoffbahnen, die bei der Verhüllungs des Reichtsgagsgebäudes verwendet wurden; das Flamingo-Rosa, das 1983 die "Surrounded Islands" umgab, als habe sich eine kartographische Konvention aus einem Atlas in die Wirklichkeit verirrt; das intensive Blau, mit dem 1991 1340 große Sonnenschirme im japanischen Ibaraki ihre leuchtend gelben 1760 Pendants in Kalifornien "grüßten": diese unmittelbar ansprechende Materialität gehört zum Kernbestand von Christos ästhetischem Programm. (Man sehe es mir nach - es handelt sich nicht um krähwinkelhaften Lokalpatriotismus - wenn ich an dieser Stelle erwähne, daß der dafür verwendete metallbeschichtete Spezialstoff - so wie auch der Stoff für die späteren Projekte "Verhüllte Bäume" bei Basel (1998), "The Gates" (Central Park, New York, 2005) und die "Floating Piers" (Norditalien, 2016 - das erste Projekt, daß Christo nach dem Tod seiner Frau 2009 allein konzipierte und umsetzte; und dessen Kosten von 20 Millionen Euro er vollständig aus seiner eigenen Kasse bestritt; Christo und Jean-Claude haben bei keinem ihrer Projekte Sponsorengelder angenommen und die Gemeinden haben niemals Kosten tragen müssen) - von der Firma Schilgen in Emsdetten gefertigt wurde, 15 km von dem Schreibtisch, an dem ich dies hier tippe, entfernt angesiedelt ud bis zu ihrer Fusion mit der Grevener Firma Selex eines der vier letzten Unternehmen von 50 aus der Hochzeit der Textilindustrie, die das ökonomische Rückgrad der industriellen Revolution hier im Münsterland ausmachte (und das letzte Unternehmen in Europa, das noch im 21. Jahrhundert Jute verarbeitete).
* * *
2.
Es fällt auf, daß es um das, was man die "künstlerische Bildkraft" bei der Erinnerung an historische Kipppunkte, an Zäsuren, an Zeitenwenden in den letzten Jahrzehnten, nicht gut bestellt ist, um es höflich auszudrücken. Wenn man es mit den Denkmälern des Historizismus, des nationalen Gedenkens, der Symbolisierung des eigenen Wesens und Herkommens, das das 19 Jahrhundert prägte, vergleicht, wird der Niveauunterschied besonders augenfällig: den Houeses of Parliament in London, dem Pantheon in Paris, den Wahrzeichen der Metropolen vom Eiffelturm bis zur Brooklyn Bridge und der Freiheitsstatue hat das zu Symbolen geronnene historische Gedächtnis der letzten 30, 40 Jahre schlicht nichts entgegenzusetzen. (Es mag sein, daß dieses Problem, zumindest ansatzweise, nicht wirklich neu ist: das Völkerschlachtdenkmal bei Leipzig darf durchaus, ungeachtet seiner Intention, als "ästhetisches Grauen" bezeichnet werden, und die Frage, inwieweit es für solche Ereignisse, zumal wenn siie die tragischen Dimensionen erreichen, wie sie das 20. Jahrhundert geprägt haben, überhaupt eine angemessene ästhetische Umsetzung geben kann, sei hier außen vor gelassen. Ebenso die Frage, ob es solcher sinnbildlichen Gedächtnisorte überhaupt bedarf. DASS sich aber ein eklatantes Unvermögen, auch ein Unwillen zu solcher Bildfindung zeigt, ist unbestreitbar.
In seinem "Tagebuch, bei Nacht geschrieben", das der polnische Schriftsteller Gustaw Herling (1919-2000) seit Ende der vierziger Jahre aus dem italienischen - genauer: neapolitanischen - Exil veröffentlichte, berichtet er im März 1987 über eine Pariser Ausstellung von Werken aus Anlaß des Themas "Erdbebenhilfe":
...zum Thema Terrae Motus, also Naples, tremblement de terre et art contemporain. Gezeigt werden hundertvierzig Arbeiten von siebzig Künstlern parmi les plus prestigieux de la scène contemporaine. Was hat dieser Jahrmarkt der Eitelkeiten (und der Leere) gekostet und wer hat das bezahlt, denn die "berühmtesten" Künstler der "Postmoderne" spielen bei solchen Kunstturnieren doch nicht umsonst mit? Wie viele Häuser hätte man mit diesem aus dem Fenster geworfenen Geld für die Erdbebenopfer bauen können? ... Wir schauten uns an und quittierten die Exponate mit einem leicht belustigten, leicht gereizten Kichern. Lohnt es sich, diese Ausstellung im Tagebuch zu erwähnen, und sei es aus Mitleid, ohne die Namne ihrer zum Teil recht angesehenen Teilnehmer zu nennen? Es lohnt. Aber nur, um noch einmal auf die Armseligkeit der "modernen Kunst" hinzuweisen. Ein abstraktes Nichts multizipliziert mit der Abstraktion des Nichts. Kaum zu glauben - diese absolute, wohl schon unheilbare Atrophie von Phantasie, Sensibilität, und Intelligenz. Das ist Narretei, bestenfalls geschickte technische Gaukelei,als wäre das Thema hier völlig ohne Belang. Deshalb sollte man von den den siebzig "berühmten" Künstlern drei hervorheben, die wenigstens beschlossen haben, ihre Ratloigkeit angesichts des Themas offen zuzugeben und im Namen einer armseligen "gegenständlichkeit" und "Authentizität" ihrer eigenen Sicht zu entsagen. Der erste schichtete einen kleinen Hügel aus vulkanischem Gestein auf. Der zweite nagelte ein paar rußgeschwärzte Bretter zusammen. Der dritte präsentierte ein echtes, zerwühltes Bett, was natürlich eine Szene nächtlichen Erwachens nach dem ersten Erdstoß suggerieren soll. Dieses bescheidene "figurative" Motiv würde es nahelegen, in einer Gemäldeausstellung zum Thema Terrae Motus einen Schritt weiterzugehen und lebende Bilder mit geretteten terremotati zu zeigen. (Tagebuch bei Nacht geschrieben. München: Carl Hanser Verlag, 2000, S. 11-12.)
Ein vergleichbares Unvermögen zur minimalen ästhetischen Gestaltung zeigt sich etwa auch in der Gestaltung der "Einheitswippe", jenes geplanten Gedenk-Mals zur Deutschen Einheit, dessen erster Spatenstich inder letzten Woche in Berlin erfolgt ist. Was sich in dem sinnfreien Geschaukel (wenn es deen a. überhaupt fertiggestellt wird und b. nicht stante pede aus Sicherheitsgründen arretiert wird) "ausdrücken" soll, wird sich niemandem erschließen. Hann Haackes Installation "Der Bevölkerung" im Lichthof des Reichtstagsgebäudes erfüllt den Zweck seiner Konterkarierung der Inschrift "Dem deutschen Volke" höchstens in negativer Weise, da es jedem Gestaltungswillen und Kultivierung Hohn spricht und der Brache und dem Unkraut Priorität eingeräumt hat (besser kann man den Prinzipien, die dem Gelingen einer "geordneten" Gemeinwesens zugrunde liegen, nicht in künstlerischer Bildgebung Hohn entgegensetzen; in dieser Hinsicht darf dieses Kunstwerk, bei allem bescheidenen Aufwand der Umsetzung - wieviel Mühe braucht es, ein Mistbeet anzulegen? auch wenn man eine Neon-Leuchtschrift auf desen Boden plaziert? - als durchaus gelungen gelten. Die Dresdner Frauenkirche ist durch ihren Wiederaufbau zu DEM Denkmal für den Untergang - und eben auch die Auferstehung - Dresdens im Feuersturm geworden.
Man mag Eisenmans Holocaust-Mahnmal als einen unter diesen Auspizien gelungene Erinnerungsort wertschätzen. Das Säulenfeld war vor und nach seiner Errichtung heftig umstritten, und die Frage, ob es nicht dadurch, weil es eben kein fortwährend auspeitschendes Skandalon darstellt, den von vielen "ewigen Warnern" gewünschten Zweck nicht eher konterkariert, sei hier außen vor gelassen.
Bei Christos Reichstagsverhüllung ging es, wenn man sich zurückerinnert, um eine solche ästhetische Funktionalisierung. Das Vorhaben war heftig umstritten; und es war überhaupt erst nach der Wiederverereiniung in den Breich des Denkbaren gerückt, obwohl Christo und Jeanne-Claude das Projekt seit 1972 geplant hatten. Aber was 1994 mit der anstehenden Neunutzung anstand, war nicht einfach das Vorhaben, ein großes, augenfällig im Stadtbild plaziertes Bauvolumen für zwei Wochen in einer Art Geschenkverpackung zu hüllen, einen abstrakten Kubus mit vielen Falten und Ecken, wie etwa bei der Verhüllung des Pont Neuf, und es bei diesem Verfremdungseffekt zu belassen. Vielmehr ging es um einen historischen Exorzismus, darum, aus einem durch durch die absolute Barbarei des Nationalsoziaslismus verfluchten Ort der zentralen Staatsgewalt durch die leuchtend weiß-silberne Einkleidung einen Neustart zu ermöglichen und die Schatten des früheren zwar noch in Erinnerung zu halten, sie aber von einer virulenten Gefahr in den Bereich der schützenden Erinnerung zu überführen. (Aktuell könnte man sagen: den tödlichen Erreger des mörderischen Totalitarismus in eine abgeschwächte Form zu überführen, die dann in Form der Mahnung einen wirksamen Impfstoff darstellen würde.) Die Notwendigkeit eines solchen Verfahrens sei hier außen vor (der Rest der Welt bedarf keiner solchen Scharaden, um sich zu impfen); daß sich die überbordende Erinnerung im Deutschen zu einem kontraproduktiven Memorialkitsch verdichtet hat, ebenso. Ebenso, daß eine solche Besessenheit wahrscheinlich die Natur des menschlichen Wesens wie der historischen Selbstverständnisses des Einzelnen wie des Kollektivs fatal verkennt. Unverkennbar ist jedenfalls, daß hier symbolische Handlungen vorliegen, Riten, Quasireligiöses.
Es bleibt auch, daß als Bildgebung historischer Zäsur, als Sinnbild für einen Neuanfang, hier Vorgänge, ästhetische Erscheinungen sich als einzige ins kollektive Gedächtnis geprägt haben, die das genaue Gegenteil des "Historischen" darstellen - ohne erkennbaren bildlichen, figürlichen Bezug auf geschichtliche Vorgänge. Die Land Art, die den Reichstag verhüllte, ist eine prinzipielle Absage an die Geschichte, an das Werden und seine Verwerfungen. Zwar ist sie Ausfluß und Resultat menschlichen Handelns und menschlicher Planung, aber sie positnioniert sich - wie übrigens die Erkenntnisse der Wissenschaft - außerhalb dieses Kontinuums. Und es scheint mir genau kein Zufall, daß ein solches ästhetisches Verfahren hier Erfolg gehabt hat. Denn der Sinn der deutschen "Geschichtspolitik" seit 50 Jahren ist nicht die historische Aufklärung, das Wissen um das Geschehen in immer größeren Detailkenntnissen, um seine Bedingugnen und Widersprüche, nicht um ein nchterns, aber pietätvolles Verhalten in Angesicht des Geschehenen. Schon gar nicht um "Bewältigung" - was im Hinblick auf historische Traumata Blendwerk und (die Vokabel fiel oben) Scharlatanerie darstellt. Es geht um die Tabula rasa, um den Geschichtsverlust, weil das Geschehene der Platz der nicht wiedergutzumachenden Erbsünde eingenommen hat. Dies ist nicht als Vorwurf gemeint: die kollektiven psychischen Mechanismen, die hier notwendigerweise den Ausschlag geben, lassen nichts anderes zu - so es sich eben auch, als das Christentum seine Kategorien noch ungebrochen zur Welt- und Lebensdeutung absolut setzen konnte, genau das Konzept der Erbsünde war. Es geht nicht um Vorwürfe; es geht mir um den Versuch, zu erklären, warum in Deutschland das historische, symbolische Gedächtnis diesen Sonderweg eingeschlagen hat, den wir spätestens seit der Rede Richard von Weizsäckers beobachten können.
U.E.
© Ulrich Elkmann. Für Kommentare bitte hier klicken.