8. Juni 2020

Lord Dunsany, "Die Rache der Menschen" (1906)

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Als die Götter die Welt schufen, teilten sie sie auf in Wildnis und Weiden. Fruchtbare Wiesen verstreuten sie über das grüne Antlitz der Erde, schattige Haine pflanzten sie in den Tälern und legten Hügel an, auf denen die Heide blühte. Aber Harza bestimmten sie zu einem verfluchten Ort, dem es auf ewig bestimmt war, eine Ödnis zu bleiben.

Wenn die Welt am Abend zu den Göttern betete und die Götter auf die Bitten antworteten, erhörten sie nicht die Gebete derer vom Stamm der Arim. Und so litten die Menschen von Arim unter beständigen Kriegen und mußten von Land zu Land ziehen, und doch wurde ihr Mut nicht gebrochen. Und die Menschen von Arim erschufen sich selbst neue Götter und erhoben Männer aus ihrer Mitte zu Göttern, bis sich die Götter von Pegana wieder an sie erinnern würden. Und ihre Anführer, Yoth und Haneth, spielten die Rolle von Göttern und führten ihr Volk gegen alle Völker, die ihnen übel wollten. Und schließlich gelangten sie nach Harza, wo keine anderen Stämme lebten, und konnten vom Kampf ausruhen, und Yoth und Haneth sprachen: "Das Werk ist vollbracht. Bestimmt werden sich die Götter Peganas wieder unserer erinnern." Und sie bauten eine Stadt in Harza und bestellten den Boden, und fruchtbares Grün überzog die Wüste wie ein frischer Wind, der über das Meer weht, und in Harza erblickte man die Früchte des Feldes und die Herden und vernahm das Blöken von zahllosen Schafen. Und dort ruhten die Menschen vom Krieg aus und faßten ihr Leid in Fabeln, bis die Menschen in Harza wieder lächelten und ihre Kinder lachten.



Und die Götter sprachen: "Die Erde ist nicht geschaffen, damit die Menschen lachen!" Und sie begaben sich an den Rand von Pegana, wo die Pestilenz in ewigen Schlaf darniederliegt und weckten sie auf und wiesen ihr den Weg nach Harza, und die Pestilenz fuhr heulend in den Himmel empor.

In jener Nacht kam sie zu den Feldern, die Harza umgeben, und setzte sich nieder ins Gras, besah die Lichter vor sich, und sie leckte sich ihre Tatzen und besah die Lichter von Neuem.

Aber in der nächsten Nacht kroch die Pestilenz in die Stadt, und mengte sich unter die lachende Menge, den Blicken der Menschen verborgen, und stahl sich in die Häuser, eines nach dem anderen, und sah den Menschen in die Augen, und ihr Blick drang durch die geschlossenen Lider, uund als der Morgen anbrach, schrien die Menschen, daß sie die Pestilenz vor sich erblickt hatten, die den anderen unsichtbar war, und starben danach, denn die Pestilenz hatte mit ihren grünen Augen in ihre Seele geblickt. Kalt und klamm war sie, doch aus ihren Augen sprühte ein Feuer, das die Seelen der Menschen auslöschte. Dann rief man die Ärzte und die Männer, die sich auf Zauberei verstanden, und sie machten die Zeichen der Ärzte und vollführten die Zeichen, die die zauberkundigen Magier ausführen, und gossen blaues Wasser auf ihre Kräuter und sangen ihre Sprüche, und doch schlich die Pestilenz von Haus zu Haus und schaute in die Seelen der Menschen. Und die Menschen verließen Harza, und wohin sie zogen, davon wird in vielen alten Schriften berichtet. Aber die Pestilenz nährte sich vom ;Licht, das in den Augen der Menschen leuchtet, das niemals ihren wachsenden Hunger stillen konnte; und wurde kälter und klammer, und das Feuer in ihren Augen loderte heller, wenn sie des Nachts durch die Straßen ritt und sich nicht länger verbarg.

Und die Menschen in Harza wandten sich wieder den alten Göttern zu, und beteten:

"Ihr Götter! Habt Mitleid mit Harza!"

Und die Götter lauschten ihren Gebeten, aber während sie lauschten, hoben sie den Finger und winkten der Pestilenz, daß sie fortfahren sollte. Und die Pestilenz tat, wie ihre Gebieter ihr geheißen hatten und sah den Menschen ins Angesicht.

Und niemand konnte sie erblicken - außer denen, die sie heimsuchte. Am Anfang schlief sie den Tag über im Verborgenen, aber als ihr Hunger zunahm, ging sie sogar im Sonnenschein um, klammerte sich an die Brust der Menschen und sah ihnen durch die Augen auf den Grund ihrer Seelen, bis sie erloschen, und nahm zu, bis selbst die, die sie verschonte, sie beinahe zu sehen vermochten.

Adro, der Arzt, saß in seiner Kammer beim Licht einer Lampe und mischte Medizin in einer Schale, die diie Pestilenz vertreiben sollte, als ein Luftzug unter der Tür durchfuhr, der die Flamme flackern ließ.

Und da der Luftzug kalt war, schauderte es den Arzt, und er stand auf und schloß die Tür, aber als er sich wieder umdrehte, sah er, wie die Pestilenz seine Medizin aufleckte, und sie sprang auf und und legte Adro eine Tatze auf die Schulter und faßte mit der anderen seinen Umhang, und packte seinen Leib mit zwei weiteren, und sah ihm in die Augen.

Auf der Straße gingen zwei Männer vorüber, und einer von ihnen sprach zum anderen: "Morgen werde ich mit dir speisen."

Und die Pestilenz lächelte ein Lächeln, das niemand sah, und schlich ihnen nach, um zu sehen, ob diese beiden ihr Versprechen halten würden.

Ein Reisender, der nach Harza kam, sprach zu sich: "Hier ist Harza. Hier kann ich ausruhen."

Aber das Leben führte ihn an jenem Tag weiter als nach Harza.

Jedermann fürchtete die Pestilenz, und die, die sie befiel, sahen sie vor sich. Aber niemand sah die gewaltigen Gestalten der Götter im Licht der Sterne, die die Pestilenz ermunterten.

Und die Menschen flohen allesamt aus Harza, und die Pestilenz haschte nach den Ratten und Hunden und sprang die Fledermäuse an, die über ihr dahinflatterten, und sie starben und lagen auf den Straßen. Und die Pestilenz wandte sich um und verfolgte die Menschen aus Harza auf den Wegen, die sie nahmen, und wartete bei den Flüssen, aus denen sie Wasser schöpften, auf sie. Und die Menschen von Harza kehrten in ihre Stadt zurück, während sie Pestilenz ihnen folgte, und versammelten sich im Tempel Aller Götter Außer Einem, und fragten den obersten Propheten: "Was sollen wir tun?" Und er antworte ihnen:

"Alle Götter haben unsere Gebete verhöhnt. Diese Sünde muß durch die Rache der Menschen gesühnt werden."

Und das Volk stand starr vor Erstaunen.

Und der höchste Prophet begabt sich zum Turm unter dem Himmel, auf dem die Blicke aller Götter im Licht der Sterne ruhten. Und dort, im Angesicht der Götter, richtete er seine Worte an sie und sprach: "Ihr Götter! Verhöhnt habt ihr die Menschen! Wißt also, daß es geschrieben steht und in den alten Prophezeiungen bezeugt ist: daß auch den Göttern ein Ende beschert sein wird, daß sie einst in goldenen Schiffen Pegana verlassen werden, und den silbernen Strom hinabsegeln werden bis in das Meer des Ewigen Schweigens, und daß ihre Schiffe sich in Nebel auflösen werden und sie keine Götter mehr sein werden. Und den Menschen wird ihr Spott über die Götter einst ein Trost sein, wenn die warme Erde sie birgt, aber den Wesen, die einstmals Götter waren, wird kein Trost je zuteil werden. Wenn einst die Zeit und die Welt und der Tod nicht mehr sein werden, bleibt nichts als der Verlust und die Wesen, die einstmals Götter gewesen sein werden."

"Und nichts bleibt, was die Götter je erblicken werden."

"Und es bleibt nichts, das ihr Ohr je erfreut."

Und die Götter schrieen auf und wiesen mit ihren Fingern auf die Kehle des obersten Propheten, und die Pestilenz sprang ihn an.

Seit langer Zeit ist der höchste Prophet tot, und die Menschen haben seine Worte vergessen, aber die Götter wissen bis zum heutigen Tag nicht, ob es wahr ist, daß ihnen ein Ende beschieden ist, und den, der es ihnen hätte sagen können, haben sie erschlagen. Und die Götter Peganas fürchten die Furcht, die die Götter befällt und welche die Rache der Menschen ist, denn sie wissen nicht, wann DAS ENDE für sie kommt, und ob es sie auslöschen wird.

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"The Vengeance of Men" ist ein typisches Beispiel für die "Kunstmythologie" und -Legenden, die Dunsanys erste beide Prosasammlungen ausmachen: The Gods of Pegana (im Oktober 1905 im Londoner Verlag Elkin Mathews erschienen (die 31 Texte des schmalen, nur knapp 90 Textseiten umfassenden Bändchens lassen sich am besten als Prosagedichte charakterisieren) und Time and the Gods, im September 1906 bei William Heinemann verlegt, dem unser Text entnommen ist. (Die 20 Texte dieses zweiten Bandes nähern sich, in ihrer Legendhaftigkeit, schon eher dem Format der klassischen Erzählung, wie sie Dunsany im Nachfolgenden eher gepflegt hat, insbesondere der letzte, in der dortigen Druckfassung gute 50 Seiten umfassende Text "The Journey of the King." Time and the Gods war wie sein Vorgänger bereits von Sidney H. Sime illustriert; leider widmet sich keine der 10 Zeichungen unserer kleinen Legende. Während die meisten Erzählungen Dunsanys ab dem nächsten Band, The Sword of Welleran (1908) zumeist in Zeitungen und Magazinen als Vorabdruck erschienen, wurde aus dem ersten Band kein Text vorabgedruckt, und aus Time and the Gods erschien nur die Titelerzählung in der irischen Literaturzeitschrift Shanachie.

Als kleine illustrative Versündigung habe ich mir erlaubt, als Bildbeigabe die Illustration zu verwenden, die in Bram Stokers erster Erzählungssammlung (ja, der Verfasser von Dracula, auch er wie Lord Dunsany ein Ire, und ein Vertreter der Phantastik), Under the Sunset aus dem Jahr 1882 die Erzählung "The Invisible Giant" bebildert: auch hier handelt es sich um die Pestilenz, die, von den Menschen nicht wahrnehmbar, ihre Stadt heimsucht. Der Zeichner, der die lasierten Kohlezeichnungen für Stokers kleinen Band angefertigt hat, W. Fitzgerald (die Umrißzeichnungen im Text stammen von W. V. Cockburn), scheint leider ansonsten weder in der Kunstgeschichte noch in der Buchhistorie weitere Spuren hinterlassen zu haben.

 U.E.


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