29. Juni 2020

周作人 《鬼的生长》 / Zhou Zuoren, "Vom Altern der Gespenster" (1934)

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(周作人 / Zhou Zuoren)


发挥一点考据癣,从古今人的纪录里去找寻材料,或者能够间接的窥见百一亦未可知。 但是千百年来已非一日,载籍浩如烟海,门外摸索,不得象尾,而且鬼界的问题似乎也多得很,尽够研究院里先生们一生的检讨,我这里只提出一个题目,即上面所说的鬼之生长,姑且大题小做,略陈管见,仁候明教。关于鬼的事情我平常很想知道。 知道了有什么好处呢? 那也未必有, 大约实在也只是好奇罢了。 古人云,唯圣人能知鬼神之情状,那么这件事可见不是容易办到的,自悔少不弄道学,此路已是不通,只好人死后为鬼,鬼在阴间或其他地方究竟是否一年年的照常生长,这是一个问题。 其解决法有二。 一是根据我们这种老顽固的无鬼论,那末免文不对题,而且也太杀风景,

其次是普通的有鬼论,有鬼才有生长与否这问题发生,所以归根结底解决还只有这唯一一法。 然而有鬼虽为一般信士的定论,而其生长与否却占人人殊,莫衷一是。 清纪昀《如是我闻》卷四云:
“任于田言,其乡有人夜行,月下见墓道松柏问有两人并坐,一男子年约十六七,
韶秀可爱,一妇人白发垂项,佝偻携杖,似七八十以上人,倚肩笑语,意若甚相悦,窍讶何物淫妪,乃与少年儿狎昵,行稍近,冉冉而灭。 次日询是谁家冢,始知某早年夭折,
其妇孀守五十馀年,殁而合窆于是也。 ”照这样说,鬼是不会生长的,他的容貌年纪便以死的时候为准。不过仔细想起来,其间有许多不方便的事情,如少夫老妻即是其一,
此外则子老父幼,依照礼法温清定省所不可废,为儿子者实有竭暇难当之势,甚可悯也。


又如世间法不禁再婚,贫儒为宗嗣而续弦,死后便有好几房扶养的责任,则此老翁亦大可念,再醮妇照俗信应锯而分之,前夫得此一片老躯,更将何所用之耶。 宋邵伯温《闻见录》十八云:
“李夫人生康节公,同堕一死胎,女也。后十馀年,夫人病卧,见月色中一女子拜庭下,泣曰,母不察,庸医以药毒儿,可恨。夫人曰,命也。女曰,若为命,何兄独生?

夫人日,汝死兄独生,乃命也。 女子涕泣而去。 又十馀年,夫人再见女子来泣曰,一为庸医所误,二十年方得受生,与母缘重故相别。 又涕泣而去。 ”曲园先生《茶香室三钞》
卷八引此文,案语云:

“此事甚异,此女子既在母腹中死,一无知识之血肉耳,乃死后十馀年便能拜能言,
岂死后亦如在人间与年俱长乎? ”据我看来,准邵氏《闻见录》所说,鬼的与年俱长确无疑义,假如照这个说法,纪文达所记的那年约十六七的男子应该改为七十几岁的老翁,
这样一来那篇故事便不成立,因为七八十以上的翁媪在月下谈心,虽然也未免是“马齿长而童心尚在“,却并不怎么的可讶了。 还有一层,鬼可见人而人不见鬼,最后松柏间相见,翁鬼固然认得媪,但是媪鬼那时如无人再为介绍,恐怕不容易认识她的五十馀年前的良人了罢。 邵纪二说各有短长,我们凡人殊难别择,大约只好两存之罢,而鬼在阴间是否也是分道扬镰,各自去生长或不生长呢,那就不得而知了。 鬼不生长说似普通,

生长说稍奇,但我却也找到别的材料,可以参证。 《望杏楼志痛编补》一卷,光绪己亥年刊,无锡钱鹤岑著,盖为其子杏宝纪念者,正编惜不可得。 补编中有《虬谈日记》,

纪与其子女笔谈,其三子鼎宝生于已卯四旬而殇,四子杏宝生于辛已十二岁而殇,三女粤贞生于丁亥五日而殇,皆来下坛。 记云:
“丙申十二月二十一日晚,杏宝始来。问汝去时十二岁,今身躯加长乎?曰,长。”

又云:
“丁酉正月十六日,早起扶乱,则先兄韵竺与闰妹杏宝皆在。问先兄逝世时年方二十六,今五十馀矣,容颜亦老乎?曰,老。已留须乎?曰,留。”由此可知鬼之与年俱长,与人无异。 又有数节云:
“正月二十九日,问几岁有知识乎?曰,三岁。问食乳几年?曰,三年。”(此系问鼎宝。)

“三月二十一日,闰妹到。问有事乎?曰,有喜事。何喜?曰,四月初四日杏宝娶妇。间妇年几何?曰,十三。间请吾辈吃喜酒乎?曰,不。汝去乎?曰,去。要送贺仪乎?曰,要。间鼎宝娶妇乎?曰,娶。产子女否?曰,二子一女。”

“五月二十丸日,问杏儿汝妇山南好否?曰,有喜。盖已怀孕也。喜见于何月?曰,
五月。 何月当产? 曰,六月。 因问先兄,人十月而生,鬼皆三月而产乎? 曰,是。 鬼与人之不同如是,宜女年十一而可嫁也。 ”

“六月十二日,问次女应科,子女同来几人?杏儿代答曰,十人。余大惊以为误,
反覆诘之,答如故。 呼闰妹问之,言与杏儿同。 问嫁才五年,何得产许多,岂一年产几次乎? 曰,是。 余始知鬼与人迥别,几与猫大无异,前闻杏儿娶妇十一岁,以为无此事,
今合而观之,鬼固不可以人理测也。 ”

“十九日,问杏儿,寿春叔祖现在否?曰,死。死几年矣?曰,三年。死后亦用棺木葬乎?曰,用。至此始知鬼亦死,古人谓鬼死日复,信有之,盖阴间所产者即□所投也。”以上各节对于鬼之婚丧生死诸事悉有所发明,可为鬼的生活志之材料,很可珍重。

民国二十二年春游厂甸,于地摊得此册,白纸木活字,墨笔校正,清雅可喜,《乱谈日记》及《补笔》最有意思,纪述地下情形颇为详细,因虑纸短不及多抄,正编未得到虽亦可惜,但当无乱坛纪事,则价值亦少减耳。 吾读此编,觉得邵氏之说已有副署,然则鬼之生长正亦未可否认欤。

我不信鬼,而喜欢知道鬼的事情,此是一大矛盾也。 虽然,我不信人死为鬼,却相信鬼后有人,我不懂什么是二气之良能,但鬼为生人喜惧愿望之投影则当不谬也。 陶公千古旷达人,其《归园田居》云:“人生似幻化,终当归空无”,《神释》云:“应尽便须尽,无复更多虑”,在《拟挽歌词》中则云:

“欲语口无音,欲视眼无光,昔在高堂寝,今宿荒草乡”,陶公于生死岂尚有迷恋,其如此说于文词上固亦大有情致,但以生前的感觉推想死后况味,正亦人情之常,出于自然者也。 常人更执着于生存,对于自己及所亲之翳然而灭,不能信亦不愿信其灭也,故种种设想,以为必继续存在,其存在之状况则因人民地方以至各自的好恶而稍稍殊异,无所作为而自然流露,我们听人说鬼实即等于听其谈心矣。 盖有鬼论者忧患的人生之雅片烟,人对于最大的悲哀与恐怖之无可奈何的慰藉,“风流士女可以续未了之缘,壮烈英雄则曰二十年后又是一条好汉”。

相信唯物论的便有祸了,如精神倔强的人麻醉药不灵,只好醒着割肉。 关公刮骨固属英武,然实亦冤苦,非凡人所能堪受,侧其乞救于吗啡者多,无足怪也。 《乱谈日记》云:

“八月初一日,野鬼上乩,报萼贞投生。问何日,书七月三十日。问何地,曰,城中。问其姓氏,书不知。亲戚渭,肉历久不投生者尽于数月间陆续而去,岂产者独盛于今年,故尽去充数耶?不可解也。杏儿之后能上乱者仅留萼贞一人,若斯言果确,则扶驾之举自此止矣。”读此节不禁黯然。 《望杏楼志痛编补》一卷为我所读过的最悲哀的书之一,每翻阅辄如此想。 如有大创痛人,饮吗啡剂以为良效,而此剂者乃系家中煮糖而成,路人旁观亦哭笑不得。 自己不信有鬼,却喜谈鬼,刘于旧生活里的迷信且大有同情焉,此可见不佞之老矣,盖老朽者有些渐益苛刻,有的亦渐益宽容也。

廿三年四月(1934年4月作,选自《读夜抄》)

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Zhuo Zuoren, "Vom Altern der Gespenster" (Guǐ de shēngzhǎng)

Ich bin für gewöhnlich sehr an allem interessiert, was Gespenster und Geister betrifft, aber natürlich ist die Frage erlaubt, was solche Erkenntnisse nützen, wenn sie sich überhaupt gewinnen lassen. Wahrscheinlich nichts: im Kern handelt es sich hier wohl nur um schlichte, nutzlose Neugierde. In den alten Zeiten hieß es, daß es nur Weisen vorbehalten war, Näheres über Geister und Gespenster in Erfahrung bringen zu können; allein daran kann man ersehen, daß wir es hier nicht mit einer leichten Aufgabe zu tun haben. Ich bedauere, daß ich mich in jungen Jahren nicht näher mit Philosophie und Metaphysik beschäftigt habe; jetzt ist es zu spät dafür, und auf diesem Weg kann ich nichts mehr erreichen. Mir bleibt nur, als mich auf meine Leidenschaft für alte Schriften aller Art zu besinnen und zu versuchen, in den Berichten aus alter und neuer Zeit ein paar brauchbare Hinweise zu finden. Vielleicht läßt sich so ja die eine oder andere Einsicht gewinnen. Aber unsere Aufzeichnungen reichen Jahrhunderte zurück, ja sogar Jahrtausende; die Zahl der Bücher und Berichte ist unübersehbar, und wer nicht mit den Geheimnissen der Bibliotheken und Archive vertraut ist, dürfte rettungslos verloren sein. Dazu kommt, daß alle Fragen, die dieses Gebiet berühren, so voller Widersprüche und Unklarheiten sind, daß selbst ganze Akademien von Gelehrten ein ganzes Menschenalter damit beschäftigt sein dürften. Hier soll es mir nur um eine einzige Frage gehen, die ich oben in der Überschrift genannt habe, nämlich ob Gespenster selber dem Alter unterliegen. Ich werde mich diesem durchaus gewichtigen Thema auf leichte Weise nähern, falls meine Leser keine Einwände dagegen haben, und nur kurz meine laienhaften Ansichten dazu umreißen. Ich lasse mich gern von Berufeneren "eines Besseren belehren."

Es geht mir um folgende Frage: wenn ein Mensch stirbt und zu einem Geist, einem Phantom, einem Bewohner des Jenseits oder was auch immer wird - altert er weiterhin mit jedem Jahr, das verstreicht, so wie es hier auf Erden der Fall war? Mir scheinen sich hier zwei mögliche Antworten anzubieten: die eine ist wäre die schlichte, materialistische Haltung, daß Geister nicht existieren. Damit wäre die Frage erledigt, aber auf diese Weise wird sie nicht aus ihren eigenen Bedingungen und den Konsequenzen, die sich daraus ergeben, beantwortet, und zudem scheint mir diese Einstellung zu plump, zu unphilosophisch. Wenn wir uns mit dieser Frage befassen, sollten wir einfach die Annahme voraussetzen, daß Gespenster tatsächlich existieren. Damit ist die Frage ihrer Alterslosigkeit natürlich noch nicht geklärt; für jeden, der an Geister glaubt, ist der Glaube an sie zwar ein unumstößlicher Glaubensartikel, aber über alle Aspekte ihrer Existenz weichen die Ansichten auseinander ab, es gibt in dieser Hinsicht keine allgemeinverbindliche Lehrmeinung.

Ji Yun (清纪), (1) der zur Zeit der Qing-Dynastie schrieb, berichtet im vierten Kapitel seines Buchs 如是我闻 (Rúshì wǒ wén / Was ich gehört habe) Folgendes:

"Ren Zitian berichtet, daß jemand, der nachts in seinem Dorf unterwegs war, im Mondlicht auf einem Friedhof zwei Gestalten am Wegrand unter den Zypressen zusammen sitzen sah. Bei der einen Gestalt handelte es sich um einen jungen Mann von hübschem und einnehmenden Äußeren von vielleicht sechzehn oder siebzehn Jahren; bei der anderen um eine alte Frau, deren weißes Haar ihr bis auf die Schultern fiel, die einen krummen Rücken hatte und einen Gehstock bei sich hatte; sie schien siebzig oder gar achtzig Jahre alt zu sein. Sie tuschelten und umarmten sich und waren offenkundig sehr voneinander eingenommen. Weil er sich fragte, was diese alte Vogelscheuche dazu trieb, sich auf so eine schamlose Weise mit einem jungen Mann abzugeben, kam er näher, und die beiden Gestalten verschwanden. Am nächsten Tag erkundigte er sich, auf wessen Grab sie gesessen hätten, und erfuhr, daß der Mann in jungen Jahren gestorben war, und daß seine Frau fünfzig weitere Jahre als ehrbare Witwe gelebt hatte. Als sie starb, wurde sie neben ihm im gleichen Grab beigesetzt."

Wenn man diesem Bericht glaubt, so folgt daraus, daß Gespenster niemals altern; ihr Aussehen und ihr scheinbares Alter entsprechen dem, das sie zum Zeitpunkt ihres Todes hatten. Aber sobald man einmal anfängt, über die Konsequenzen nachzudenken, die sich aus dieser Annahme ergeben, stößt man auf zahlreiche Widersprüche. Der junge Gatte und seine uralte Frau ist nur einer davon. Es könnte dann dazu kommen, daß ein Sohn als ein Greis umgeht, während sein Vater jung geblieben ist; die Pflichten der Kindestreue verlangen von den Kindern, dafür zu sorgen, daß ihre Eltern es im Winter warm und im Sommer erträglich kühl haben; sie müssen zu Bett gebracht werden und am Morgen erkundigt man sich man ihrem Wohlbefinden; diese Kindespflichten dürfen nicht vernachlässigt werden; aber für den Sohn würden sie eine unerträgliche Bürde darstellen, und er hätte Anspruch auf unser ganzes Mitgefühl. Dann sollten wir bedenken, daß die Gesetze unserer Republik Wiederverheiratungen erlauben. Was ist nun, wenn ein armer Gelehrter zum Witwer wird und sich erneut verheiratet, damit sein Stammbaum nicht ausstirbt? Nach seinem Tod müßte er dann für mehrere Haushalte sorgen, und auch ihm müßte unser Mitgefühl gelten. Der Volksglauben besagt, daß Frauen, die sich als Witwen erneut verheiraten, nach dem Tod in der Hölle entzweigesägt werden: wenn ihre früheren Ehemänner sie dann aufsuchen, um im Tod mit ihr vereint zu sein, was sollen sie dann tun?

邵伯温 (Shao Bowen) (2) schrieb zur Zeit der Song-Dynastie im 18. Kapitel seines Buchs 《见闻录》 (Wén jiàn lù / Was ich erfahren habe):

"Als Frau Li den späteren Meister Kangjie gebar, hatte er eine Zwilllingsschwester, die bei der Geburt starb. Als die Mutter über zehn Jahre später schlaflos krank zu Bett lag, sah sie im Mondlicht an der Türschwelle ein Mädchen stehen, das sich vor ihr verneigte und weinte.  Das Mädchen sagte: "Mutter, du weißt es nicht, aber der Arzt, der dich damals behandelt hat, verstand nichts von seinem Geschäft, und die Arzneien, die er dir verabreicht hat, haben mich vergiftet. Wehe mir!" Frau Li antwortete: "Es war vom Schicksal so vorherbestimmt." Das Mädchen fragte: "Wenn es vom Schicksal so bestimmt war, warum durfte mein Bruder dann leben und ich mußte sterben?" Frau Li antwortete ihm: "Das eben ist es, was das Schicksal bestimmt hat: daß du sterben sollest und dein Bruder am Leben bleibt." Das Mädchen entfernte sich, immer noch in Tränen aufgelöst. Und noch einmal zehn Jahre darauf sah Frau Li das Mädchen wieder weinend an ihr Bett treten. Es sagte: "Ich habe mein Leben durch diesen unwissenden Arzt verloren, und ich mußte zwanzig Jahre warten, bis ich erneut geboren werden konnte. Ich erfülle meine Kindestreue, indem ich dir jetzt Lebewohl sage." Und es verließ sie, immer noch weinend."

Herr Qu Yuan (3) zitiert diesen Abschnitt im achten Kapital des dritten Bands seines Werks 《茶香室》 (chá xiāng shì / "Aufzeichnungen aus dem Duftenden Teehaus") und kommentiert:

"Diese ganze Angelegenheit ist höchst merkwürdig. Als das Mädchen im Leib seiner Mutter starb, war sie nur ein formloser Klumpen Fleisch, ohne Wissen und ausgebildete Sinne. Aber nach zehn Jahren konnte es sich verbeugen und ausdrücken. Wie kann es sein, daß sie daß nach ihrem Tod gewachsen und gereift ist, als ob es sich um das normale Leben handeln würde?"

Wenn das, was Shao in Was ich erfahren habe schreibt, zutrifft, dann reifen und verändern sich Gespenster durchaus im Verlauf der Jahre. Wenn man diese Erkenntnis auf Yuns Bericht anwendet, dann hätte aus dem Jüngling von sechzehn oder siebzehn ein alter Mann von siebzig oder mehr werden müssen, und unsere Geschichte wäre nichts Besonderes mehr, da ein altes Liebespaar, das sich im Mondschein herzt und küßt und "im Herzen jung geblieben ist", vielleicht nicht jedermann zusagt, aber nichts Erschreckendes hat. Bei dieser Geschichte gibt es auch noch Folgendes zu bedenken: Für gewöhnlich können Gespenster die Lebenden sehen, aber den Lebenden bleiben die Geister zumeist verborgen. Als sie sich endlich nach beider Tod zum ersten Mal unter den Zypressen begegneten, darf man annehmen, daß der Geist des Ehemanns seine Gattin sofort wiedererkannt hat, aber ich fürchte, der Geist der Frau hätte kaum ihren Gatten von vor einem halben Jahrhundert wiedererkannt, wenn er ihr nicht vergestellt worden wäre.

Sowohl die Einstellungen von Shao als auch von Ji haben ihr Für und Wider. Uns normalen Sterblichen dürfte es schwer fallen, uns für eine davon zu entscheiden. Vielleicht bleibt uns nur, sie beide gelten zu lassen. Ob es in der Unterwelt zwei zerstrittene Lager gibt, von denen das eine sich entschlossen hat, zu altern und das andere sich der Zeit verweigert, können wir nicht sagen. Die Vorstellung, daß sich Geister nach ihrem Tod nicht mehr ändern und nicht älter werden, scheint die verbreitere zu sein; die Ansicht, daß sie es tun, scheint uns ausgefallener. An dieser Stelle möchte ich ein Buch verweisen, das mir in die Hände gefallen ist und das man als einen Beweis für die zweite Auffassung werten könnte. Der Band 望杏楼志痛编补 (Wàngxìnglóu zhìtòng biānbǔ / "Nachschrift zum Prozeß von Wanxinglou") aus dem Jahr 1899 wurde von Qian Hecen aus  Wuxi zum Gedenken an seinen Sohn Xingbao verfaßt. Das Hauptwerk, zu dem dieser Band eine Nachschrift darstellt, ist mir leider nicht zugänglich. Das Buch enthält ein "Tagebuch  der Unterhaltungen mittels der Planchette," (4) die Qian mit den Geistern seiner verstorbenen Kinder geführt hat. Sein dritter Sohn Dingbao wurde 1879 geboren und starb im Alter von vierzig Tagen; sein vierter Sohn Xingbao wurde 1881 geboren und starb mit zwölf Jahren; seine dritte Tochter Ezhen wurde 1887 geboren und starb ebenfalls nach fünf Tagen. Sie alle meldeten sich bei den Séancen. Das Tagebuch meldet:

Einundzwanzigster Tag des zwölften Monats, 1896, abends. Xingbao kam als letzter. Ich fragte ihn: "Als du uns verlassen hast, warst du zwölf. Bist du seitdem gewachsen?" Er antwortete: "Das bin ich."

Siebzehnter Tag des ersten Monats, 1897. Ich stand früh auf und setzte mich an die Planchette. Mein verstorbener Bruder Yunsheng, meine Schwester Run und Xingbao waren anwesend. Ichc fragte meinen Bruder: "Als du uns verlassen hast, warst du erst neunundzwanzig. Jetzt bist du über fünfzig. Siehst du jetzt älter aus?" Er antwortete: "Das tue ich." Ich fragte: "Hast du dir einen Bart stehen lassen?" Er antwortete: "Ja, das habe ich."

Aus diesen Einträgen läßt sich ersehen, daß es sich in der Geisterwelt nicht anders verhält als in der Welt der Lebenden, was das Älterwerden und damit verbundenen Veränderungen betrifft. Es finden sich ein paar andere Einträge:

Neunundzwanzigster Tag des ersten Monats. Frage (an Dingbao): "Wie weit reichen deine ersten Erinnerungen zurück?" Anwort: "Bis zum dritten Lebensjahr." Frage: "Wie lange hast du an der Brust deiner Mutter getrunken?" Antwort: "Drei Jahre lang."

Einundzwanzigster Tag des dritten Monats. Meine Schwester Run kam. Frage: "Was gibt es Neues?" Antwort: "Gute Nachrichten!" Frage: "Was für gute Nachrichten?" Antwort: "Am vierten Tag des vierten Monats wird Xingbao heiraten." Frage: "Wie alt ist seine Braut?" Antwort: "Dreizehn Jahre alt." Frage: "Dürfen wir ihnen Glück wünschen?" Antwort: "Nein." Frage: "Wirst du dabeisein?" Antwort: "Ja." Frage: "Werden Hochzeitsgeschenke benötigt?" Antwort: "Ja." Frage: "Ist Dingbao verheiratet?" Antwort: "Ja." Frage: Hat er Kinder?" Antwort: "Zwei Söhne und eine Tochter."

Neunundzwanzigster Tag des fünften Monats (5): Ich fragte Xingbao: "Geht es deiner Frau Sha-nan gut?" Antwort: "Ein freudiges Ereignis steht bevor." Das bedeutete, daß sie schwanger war. "Seit wann ist sie schwanger?" Antwort: "Seit dem fünften Monat." Frage: "Wann wird die Geburt stattfinden?" Antwort: "Im siebten Monat." Anschließend fragte ich meinen verstorbenen Bruder: "Hier bei uns werden die Menschen im zehnten Monat der Schwangerschaft geboren. Gebären die Geister alle nach dem dritten Monat?" Er antwortete: "Ja. Darin bestehen die Unterschiede zwischen den Menschen und den Geistern. Bei uns heiraten die Mädchen mit elf Jahren."

Zwölfter Tag des sechsten Monats. Ich fragte meine zweite Tochter Yingke: "Wie viele Kinder hast du bei dir?" Xingbao antwortete an ihrer Stelle: "Zehn." Ich war sehr überrascht, und glaubte, daß ein Irrtum vorliege. Ich stellte die Frage noch mehrmals, aber die Antwort war stets dieselbe. Ich rief meine Schwester Run herbei und stellte ihr die gleiche Frage, aber sie gab die gleiche Antwort wie Xingbao. Ich fragte sie, wie es möglich sei, daß sie so viele Kinder geboren hätte, obwohl sie erst seit fünf Jahren verheiratet war? Gebar sie öfter als ein Mal im Jahr? Die Antwort lautete: "Ja." Erst in diesem Augenblick verstand ich, wie groß der Unterschied zwischen uns und der Geisterwelt ist - er scheint so groß wie zwischen Hunden und Katzen zu sein. Als ich erfahren hatte, daß Xingbaos Braut elf Jahre alt war, hatte ich das für ein Mißverständnis gehalten, aber wenn ich alles dies bedenke, verstehe ich, daß man die Welt der Geister nicht nach den Maßstäben der Menschen beurteilen darf.

Neunzehnter Tag des sechsten Monats. Ich fragte Xingbao: "Ist dein Großonkel Shouchun noch bei euch?" Er antwortete: "Er ist tot." "Wann ist er gestorben?" Antwort: "Vor drei Jahren." "Wenn bei euch jemand stirbt, werden sie in Särgen begraben?" Antwort: "Ja." Bis dahin hatte ich nicht gewußt, daß auch Geister sterben können. In alten Zeiten gab es ein besonderes Wort für den Tod von Geistern, und dies wird der Grund dafür gewesen sein. Ohne Zweifel erhalten die Kinder, die in der Unterwelt geboren werden, ihre Seelen von den Geistern der dort Verstorbenen.

Die zitierten Auszüge schildern die Familienbeziehungen zwischen den Geistern, ihre Zusammenkünfte, ihr Sterben und ihre Geburt in zahlreichen Einzelheiten und als Grundlage für eine Abhandlung über die Geisterwelt ist das Buch unschätzbar. Ich habe es im Frühjahr des 22. Jahrs der Republik (d.h. 1933) auf dem Tisch eines Buchhändlers in Changdian gefunden (6). Es handelt sich um einen Privatdruck, der mit beweglichen Typen auf weißes Papier gedruckt worden ist, ein sehr elegant entworfener Band, der handschriftliche Tintenkorrekturen enthält. Das "Tagebuch der Unterhaltungen mittels der Planchette" schildert die Verhältnisse im Jenseits in zahlreichen Einzelheiten; leider reicht an der Platz an dieser Stelle nicht aus, um ausgiebiger daraus zu zitieren. Ich bedaure es, daß es mir nicht möglich war, den Hauptband, zu dem dies einen Anhang darstellt, auftreiben zu können, aber nach diesem Anhang zu urteilen, enthält er keine weiteren spiritistischen Protokolle, so daß der Verlust sich in Grenzen halten dürfte. Mein Eindruck bei der Lektüre war, daß Herr Shaos Auffassung hier bestätigt worden war, und daß Gespenster tatsächlich altern und sich ändern.

Ich glaube nicht an Gespenster, aber ich erfahre liebend gern etwas über ihren Lebenswandel. Ich bin mir des Widerspruchs bewußt, der in diesen beiden Aussagen liegt. Trotzdem glaube ich nicht, daß Menschen nach ihrem Tod zu Phantomen werden; es dürfte vielmehr so sein, daß hinter jedem "Gespenst" ein lebender Mensch steckt. Von den "natürlichen Auswirkungen von Yin und Yang" (7) verstehe ich nichts, aber der Idee, daß sich bei Gespenstern um die Verkörperungen der Ängste und Hoffnungen der Lebenden handelt, scheint mir wahrscheinlich.

陶公, Tao Yuanming (8) zählt sicher zu den großen unabhängigen Geistern früherer Zeiten. Im Gedicht "Rückzug in meinen Garten" lesen wir: "Das menschliche Leben ist wie ein Fest, das vorbeigeht / am Ende kehren wir ins Nichts zurück" und in "Die Seele wird frei" heißt es: "Wenn man alles getan hat, was man sich auf Erden vorgenommen hatte, muß man ein Ende machen. / Es ziemt sich nicht, zu dagegen zu wehren." Aber in seinem "Trauerlied über mich selbst" schreibt er "Ich möchte sprechen, aber aus meinem Mund dringt kein Laut. /  Ich möchte sehen, aber meine Augen sind blind. / Einst lag ich nachts in weichen Betten / Jetzt verbringe ich die Nächte im öden Grasland." Es sieht Meister Tao nicht ähnlich, sich an Illusionen bezüglich Leben und Tod zu klammern, aber er schreibt hier mit großer Eindringlichkeit. Alle Menschen neigen dazu, sich das Leben nach dem Tod anhand der Erfahrungen vorzustellen, die sie im Diesseits gemacht haben; es handelt sich dabei um einen ganz natürlichen Vorgang. Für den Durchschnittsmenschen ist das Leben, das Fortbestehen, der wichtigste Teil der eigenen Existenz, und er kann und will nicht daran glauben, daß er oder die, die er liebt,  einfach spurlos vergehen, und so klammert er sich an alle möglichen Hoffnungen, in der Annahme, daß das Leben nach dem Tod weitergehen muß. Wie die Art dieses Weiterbestehens ausgemalt wird, hängt von  dem Volk, dem Land, und selbst nach dem persönlichen Glauben und den eigenen Vorlieben ab. Diese zeigen sich nicht bewußt, sondern unbewußt. Wenn man Menschen zuhört, die sich über Gespenster und Geister unterhalten, wird man zum Zeugen ihrer tiefsten Ängste und Hoffnungen. Es ist beinahe, als wäre der Glaube an Geister wie eine Art Opium für ein Leben voller Ängste und Sorgen, ein Trost für alle, die sonst der tiefsten Trauer und Furcht hilflos ausgeliefert wären: "unsterblich Verliebte können im Jenseits ihre Erfüllung finden; von mutigen Helden heißt es: in zwanzig Jahren werden sie wieder als  erneut als Unbeugsame unter uns weilen." Eine Herausforderung stellt das im Gegenteil für die Materialisten dar, die nicht daran glauben können. Wie jene allzu willensstarken Individuen, bei denen Betäubungsmittel ihren Dienst versagen, müssen sie bei vollem Bewußtsein zuschauen, wie das Messer des Arztes in ihr Fleisch schneidet. Guan Yus "Säuberung des Knochens" darf ohne Zweifel als heldenhaft gewertet werden (9), aber schließlich bestand es doch nur in unnötigem Schmerz; es ist nichts, was der normale Sterbliche ertragen könnte, und es überrascht nicht, daß sich die meisten für solche Betäubungsmittel entscheiden.

Im "Tagebuch der Unterhaltungen mit der Planchette" heißt es:

"Erster Tag des achten Monats. Ein unbekannter Geist meldete sich mit der Planchette. Er teilte mir mit, daß Ezhen in der Menschenwelt wiedergeboren worden war. Ich fragte, wo, und die Anwort lautete: "In der Stadt." Ich fragte, welchen Namen sie jetzt tragen würde, und der Griffel schrieb: "Unbekannt." Alle meine Verwandten, die seit so langer Zeit auf ihre Wiedergeburt gewartet haben, haben einer nach dem anderen die Geisterwelt im Zeitraum von wenigen Monaten verlassen. Soll ich annehmen, daß es in diesem Jahr so viele Geburten gegeben hat, daß ihre Seelen benötigt wurden, um ihre Zahl zu vervollständigen? Ich verstehe es nicht. Aber wenn es so sein sollte, dann werde ich die Planchette in Zukunft nicht mehr befragen und meine Beschäftigung mit der Geisterwelt hat ein Ende."

Als ich diesen Absatz las, konnte ich nicht verhindern, daß mein Mut sank. Das "Wàngxìnglóu zhìtòng biānbǔ" ist eines der traurigsten Bücher, das ich je gelesen habe, und diese Stelle gibt mir jedes Mal einen Stich, wenn ich es durchblättere. Es ist, als würde man an einer schmerzenden Wunde leiden und ein Betäubungsmittel würde einem Linderung verschaffen, und dann würde sich herausstellen, daß das Mittel nur wirkungsloses Zuckerwasser wäre. Man weiß nicht, ob man darüber lachen oder weinen soll.

Ich glaube nicht an Gespenster, aber ich erfahre gern etwas über sie, und ich schätze die alten abergläubischen Vorstellungen, die sich mit dem Glauben an sie verbinden, sehr. Das zeigt, daß ich selbst nicht mehr der Jüngste bin, denn für gewöhnlich werden Leute, die auf das Alter zugehen, unduldsamer in ihrem Urteil oder nachsichtiger.

(23. April 1934)

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Das Phänomen der "schreibenden Brüder" ist für die Frühzeit der literarischen Moderne zumindest im Westen kein unbekanntes Phänomen, wenn es auch nicht so verbreitet ist, wie man vermuten könnte, wenn man die Prägung durch zumeist "bildungsbürgerliche" Familien, aus denen sich im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert Dichter und Philosophen zumeist rekrutieren, berücksichtigt. Mitunter befassen sie sich mit unterschiedlichen Wissensgebieten und es erwächst deshalb keine "Konkurrenz" unter ihnen, wie im Fall von William und Henry James, von denen der erste, der ältere, die Grundlagen der Psychologie als ernstzunehmender Wissenschaftsdisziplin zu legen, während der zweite als einer der größten Psychologen in der Zeichnung seiner Romanfiguren Literaturgeschichte schrieb. Ähnlich liegt der Fall bei Wilhelm und Alexander von Humboldt. Man kennt sie als Dioskuren, deren Werke auf gemeinsamer Basis entstehen, wie bei den Brüdern Grimm oder auch Edmond und Jules de Goncourt. Und schließlich kennt man sie als unversöhnliche Antagonisten, als Gegenspieler, deren gegenseitige Abneigung eine mitunter als eine ganz Triebfeder in ihrem Werk auszumachen ist. Beim letzten schreibenden Brüderpaar, das noch in dieser (zugegeben vagen) Tradition steht, bei dem amerikanischen Romancier Paul Theroux, der für seine Reisebücher wie The Old Patagonian Express besser bekannt ist als für seine Romane, und seinem vier Jahre älteren Bruder Alexander haben wir ein Beispiel für diesen herzlichen und unkurierbaren Antagonismus. (Pedanten können einwenden, daß in meiner kleinen Liste, die keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt, die Namen Peter und Anthony Shaffer fehlen. Aber hier handelt(e) es sich um Zwillinge, und damit um einen Sonderfall des Themas "Familienbande.")

Aber daß es einem Brüderpaar vorbehalten war, eine ganze Nationalliteratur beim Eintritt in die literarische Moderne, zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts, nachhaltig zu prägen, während sie "Rücken an Rücken standen", und es einem von ihnen gelang, nicht nur im Bereich der eigenen Sprache (die ja bei vielen großen Literatursprachen über den nationalen Rahmen hinausreicht), sondern international,tatsächlich weltweit, zum einzigen wirklich geläufigen Repräsentanten der Literatur seiner Zeit zu werden, während "der Bruder" nur wenigen Muttersprachlern mehr als ein bloßer Name ist, dieses Phänomen blieb zwei Literaturen vorbehalten: der deutschen und der chinesischen. Auch wenn man es als deutscher Leser nicht gern hören mag: aber der Name von Heinrich Mann ist außerhalb des deutschen Sprachbereichs unbekannt, und außerhalb von Germanistenkreisen dürfte außer dem Untertan auch kaum eines seiner Werke geläufig sein. Das habent sua fata libelli gilt auch für ihre Verfasser. Für viele nichtdeutdsche Leser ist hingegen der Name Thomas Mann wahrscheinlich der einzige, den sie mit dem Begriff "deutsche Literatur vor 100 Jahren" in Verbindung bringen - Franz Kafka ausgenommen; aber Kafkas Œuvre steht für eine besondere Welthaltung, eine existentialistische Einstellung und bildet eben nicht ihre Entstehungszeit und -ort ab. (Kafkas Werk tangiert die Theologie, jene, die ohne Gott und Transzendenz auskommt, und bildet das Scharnier zwischen den Schiften von Kierkegard und Jorge Luis Borges; Thomas Mann ist der Vollender nicht nur des bürgerlichen Bildungsromans, sondern vor allem des Fin de Siècle.)

In der chinesischen Literatur nehmen diese Stellung 鲁迅 / Lu Xun (1881 - 1936) und sein vier Jahre jüngerer Bruder 周作人 / Zhuo Zuoren (1885 - 1967) ein. Ob der Altersunterschied von auch hier vier Jahren ausschlaggebend ist, sich dem Zufall verdankt oder auf eine heimliche Wirkung der astrologischen Vorbestimmung hinweist, sei an dieser Stelle außen vor gelassen; es wird noch spiritisch genug. Daß die beiden Familiennamen divergieren, liegt daran, daß es sich bei "Lu Xun" um einen Nom de plume, ein Pseudonym handelt, das er wählte, als er 1918 seine erste bedeutende Erzählung, "Tagebuch eines Wahnsinnigen" im Putonghua, in der chinesischen Umgangssprache, verfaßte (bis dahin war als Literatursprache das Wenyan, das "klassische Chinesisch" üblich. (Bevor Sinologen schimpfen: ich weiß, daß die Sache komplizierter ist; die Dialogpassagen im Hong lu mong, dem Traum der Roten Kammer, etwa verwenden durchaus das im 18. Jahrhundert gebräuchliche Vernakular und es dient nicht zuletzt als ein Mittel der Figuren-Charakterisierung; aber dies soll keine Einführungsvorlesung werden.) (Daß es sich bei vielen chinesischen Namen um "sprechende" handelt, zeigt sich auch an dem Pseudonym, das Zhou Shuren für sich wählte: 鲁 - lǔ - bedeutet wörtlich "grob, roh, ungeschlacht" und 迅 - xùn - "hastig, ohne Sorgfalt"; im Gegenzug zum alten Literatenideal, der gemäß dem Motto Nietzsch e, "an einer Seite Prosa wie an einer Bildsäule zu arbeiten." Der Name ist somit Programm.

Lu Xuns insgesamt 34 Erzählungen und seine fünf Bände Essays und Feuilletons, mit denen er ab Mitte der zwanziger Jahre zu Zeitfragen Stellung nahm, bilden heute das Fundament, den eisernen Bestandteil der modernen chinesischen Literatur. Sie sind so unabdingbarer Bestandteil der Schullektüre, wie es bei uns einmal die Theaterstücke Schillers, diverse (nicht alllzu viele) Gedichte Goethes, die Ballade vom Herrn Ribbeck auf Ribbeck oder jene, die besagt, daß "es schaurig" sei, "übers Moor zu gehn." Der Versuch, für die Schuldabschlußprüfungen "Die wahre Geschichte des Ah Q" (阿Q正傳) aus dem Kurrikulum zu streichen und durch eine Passage aus Jin Yongs wuxia-Epos 射鵰英雄傳 (Die Geschichte der Adlerhelden) zu ersetzen, um "näher an dem zu sein, was die heutige Jugend liest," geriet dem Unterrichtsministerium 2008 zum Desaster. (Jin Yong, der bei uns völlig unbekannt ist, ist weltweit der meistverkaufte chinesische Autor. Seine vierzehn Schwertkämpfer-Epen sind unzählige Male verfilmt und vor allem als Fernsehserien inszeniert worden. (Bislang ist kein einziger davon in deutscher Übersetzung erschienen; allerdings hat der Heyne Verlag für diesen Herbst den ersten Band unter dem Titel Die Legende der Adlerkrieger in der Übersetzung von Karin Betz, die auch Liu Cixins San ti-Trilogie übersetzt hat, angekündigt. (Fürwitzige Leser seien vorgewarnt: Alexandre Dumas pêre, mit dessen Drei Musketieren Jin Yongs Bücher oft verglichen worden sind - nicht zuletzt von ihm selbst - ist gar kein Vergleich. Bei den "Adlerkriegern" handelt es sich um eine Trilogie, und allein der erste Band umfaßt in der chinesischen Fassung mehr als 1300 Seiten mit winzigem Druckbild.)

Zudem ist Lu Xun einer der ganz wenigen chinesischen Autoren, die - analog zu Thomas Mann - einem westlichen Publikum "ein Name", also geläufig sind - auch hier nicht über die tatsächliche Rezeption oder Lektüre der Werke, sondern als Gestalt des Zeitgeschehens, weil seiner Wohnstätten zu Museen geworden sind und sein Bild aus Baedeckern bekannt ist, und weil der eine oder andere Text in zahlreichen Übersetzungen in Anthologien moderner chinesischer Prosa abgedruckt wird.

Im Gegensatz zu ihm ist sein jüngerer Bruder außerhalb China bis heute praktisch unbekannt geblieben; daß er - zumindest was die Volksrepublik betrifft - dort bis Mitte der achtziger Jahre in Ungnade fiel, liegt auch an seiner politischen Positionierung, die sich (ironischerweise oder tragischerweise, wie man es sehen möchte) seinem lebenslangen Bemühen verdankt, sich stets aus jeder Festlegung auf ein Lager herauszuhalten und au-dessus de la melée zu verbleiben. Zhou Zuoren ging im Jahr 1906 zum Studium nach Tokio (wie es eine ganze Generation junger Studenten nach dem verlorenen chinesisch-japanischen Krieg von 1894 - der bekanntlich Korea zur japanischen  Kolonie reduzierte - tat, um dort die Modernisierung, den technischen Fortschritt und vor allem neuzeitliche Organisationen von Gesundheitswesen bis zum Militär aus erster Hand zu studieren); sein Bruder stiduerte bereits seit 1902 in Tokio. 1909 heiratete Zhou in Tokio eine Japanerin, Hata Nabuko (1887-1962). Die lebenslange enge Verbundenheit mit der japanischen Tradition sollte ihm später zum Nachteil ausschlagen. Beide Brüder kehrten nach 1911, nach der Gründung der Republik, in ihre Heimat zurück, Lu Xun arbeitete in der heimischen Stadtverwaltung, Zhou als Sprachlehrer, und ab Anfang der zwanziger Jahre im Hauptberuf als Übersetzer sowie als (wir nähern uns langsam unserem Thema) Feuilletonist, als Verfasser kleiner plaudernder Kolumnen, die Zeitthemen, Causerien, Gedankenspiele in zwangsloser, assoziativer Weise aufnehmen. Zhou sprach fließend Japanisch, Englisch und Altgriechisch; zu seinem Übersetzungen ins Chinesische zählen nicht nur das Kojiki und das Kopfkissenbuch der Dame Sei Shonagon, sondrn auch die Gedichte Sapphos und die Tragödien des Euripides.

Für die erste humoristische Zeitschrift Chinas, die 1932 von Lin Yutang (1895-1976) gegründet worden war, die vierzehntätig erscheinende 《论语》, die bis zum Ende der Republik 1949 erschien (die Spitzklammern zeigen nach chinesischer typographischer Konvention eine Titelangabe an), also "lunyu", "Gespräche", genauer "herausgegebene Gespräche" (unter eben diesem Titel sind in China die Lehren von Kong-zi, Meister Kong, uns eher als Konfuzius geläufig, bekannt, die bei uns, falls sie nicht als "Gespräche" firmieren, als Analekten geführt werden) - für diese Zeitschrift also verfaßte Zhou ab der ersten Nummer eine regelmäßige Kolumne unter dem Titel "Nachtlektüre", 读夜抄 (Dú yè chào), in der auch seine Überlegung zum alterslosen Altern der Phantome am 23. April 1934 erschien.

Zum endgültigen Zerwürfnis zwischen den Brüdern kam es 1923. Lu Xun hatte 1919, als er seinen provinziellen Verwaltungsjob aufgab und sich für ein Leben als Schriftsteller entschied, als Rückversicherung und vorläufiges Domizil ein größeres Anwesen im Süden Beijings gekauft, in dem er mit seiner betagten Mutter und seinem Bruder und dessen Frau wohnte. In jenem Jahr warf Hata Lu vor, er habe sich ihr gegenüber "ungebührliche Freiheiten" herausgenommen. Von den Beteiligten hat sich niemand je zu der Episode geäußert, und das Thema ist bis heute Gegenstand angeregter Spekulation (chinesische Literaturhistoriker schätzen dergleichen nicht weniger als ihre westlichen Kollegen). Zhou hat in seinen Aufsätzen des öfteren die Gelegenheit genutzt, Seitenhiebe gegen den Lebenswandel seiner Bruders unterzubringen, ohne ihn explizit beim Namen zu nennen - so etwa, als Lu 1926 seine Familie verließ und mit einer früheren Studentin nach Shanghai zog. (Die Parallelen zum Thema "Familie Mann", in diesem Fall mit vertauschten Rollen der Brüder, dürften ins Auge fallen.)

Zhou wurden die Zeitläufe der spätern dreißiger Jahre zum Verhängnis. Er hatte seit Ende der zwanziger Jahre eine Dozentenstelle an der Pekinger Universität für englische und griechishce Literaturgeschichte inne. Als Beiping, wie die Stadt seit der Einnahme durch die Truppen der nationalchinesischen Armee offiziell hieß, 1937, gleich nach dem Ausbruch des Kriegs zwischen Japan und China, von der japanischen Armee besetzt wurde, wurde die Universität in Hauptstadt Nanjing verlegt; Zhou entschied sich dafür, vor Ort zu bleiben. Auch hier spekuliert die Literaturwissenschaft, welches seine Motive waren. Zum einen dürfte seine Sympathie für die japanische Kultur einer Rolle gespielt haben (das barbaische Verhalten japanischen Soldaten und der Geheimpolizei, der Kempetai, straften die Sympathie alsbald Lügen - hier zeigt sich eine frappante Parallele zu den "Kollaborateuren" in der französischen Hauptstadt drei Jahre später); er hatte für seine eigene Familie und nach dem Tod seines Bruders, der 1936 mit 53 Jahren an Tuberkulose gestorben war, auch für dessen ebenfalls japanische Witwe zu sorgen. Zudem hatte Zhou aus seiner Abscheu und Verachtung vor den furchtbaren politischen Verhältnissen der Zeit der Warlords nie einen Hehl gemacht und hatte sich allen Arten von politischer Macht gegenüber zutiefst skeptisch gezeigt. Nicht zuletzt mag seine angeschlagene Gesundheit, die er in seinen Schriften immer wieder unterstrich (siehe den letzten Absatz unseres kleinen Textes) und seine Ablehnung jeglicher Veränderung in seinen Lebensverhältnissen ausschlaggebend gewirkt haben.

Im June 1938 nahm Zhou den Posten des Leiters des Erziehungsministeriums für bei Bereich Beiping unter der nominellen "Regierung" von Wang Jingwei ein, die eine Marionettenregierung unter Tokioter Leitung war und die Verwaltung der japanisch besetzten nordchinesischen Gebiete unter sich hatte (Manschukuo, das ein nominell unabhängiger Staat war, hatte eine eigene "Regierung".) Sowohl die Kommunistische Partei Maos als auf die Guomindang Tschiang Kai-Checks betrachtete nach dem Ende des Kriegs - und auch schon vorher, sämtliche Zuarbeiter des Wang-Regimes als Hochverräter. Wang selbst starb 1944 im japanischen Nagoya an dem Spätfolgen eines Attentats, das 1939 in Nanjing auf ihn verübt worden war; sein Name hat seit 75 Jahren in der Sinosphäre exakt die Bedeutung, die in Europa der Name "Quisling" besitzt. Auf Zhou selbst wurde am Neujahrstag 1939 von drei ehemaligen Studenten ein Anschlag verübt, den er nur knapp überlebte. Die Nationalregierung verurteilte ihn nach dem Ende des Krieges zu 14 Jahren Haft; er kam 1949 frei, nachdem die Kommunisten nach ihrer Machtübernahme eine allgemeine Amnestie erlassen hatten. Ab 1950 setzte er seine Übersetzungstätigkeit in Beijing fort; diese Arbeiten erschienen aber (wie bei gar nicht so wenigen anderen Literaturuen aus der Zeit der Republik) unter Pseudonym, unter anderen eine Übersetzung der Dialoge Lukians. Zhou wurde während der Kulturrevolution aufgrund seines "Verräterstatus" zum gezielten Haßobjekt der Roten Garden; er starb im Mai 1967 iim Alter von 83 Jahren, nachdem er mehrfach öffentlich von Rotgardisten schwer mißhandelt worden war.


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Anmerkungen:

(1) 清纪, Ji Yun, 1724-1805, war einer der beiden Hauptherausgeber (neben Lu Xixiong) des 四库全书 (Siku quianshu, der "Vollständigen Bücher aller vier Wissensbereiche"), das ab 1772 auf Anordnung des Qianlong-Kaisers zusammengestellt wurde und die größte Editionsleistung in der chinesischen Geschichte vor der Einführung des Internets darstellte. Unter Beteiligung von 361 Gelehrten und 3826 Kopisten sollte das gesamte angesammelte Wissen der letzten zweitausend Jahre gebündelt werden (die Kopisten erhielten übrigens keinen Arbeitslohn, sondern wurden nach Ablieferung eines bestimmten Pesums mit Beamtenstellen belohnt). Das Unternehmen kam erst in Gang, nach drei Monate nach Ankündigung den Besitzern der privaten Bibliotheken, die ihre Schriften zur Verfügung stellen sollten, zugesichert worden war, daß sie ihre Bücher nach der Abschrift wieder zurückbekämen und daß ihnen aufgrund des Inhalts - vor allem Schriften, die gegen die Mandschu-Herrschaft gerichtet waren - keine Nachteile erwachsen würden (das Versprechen, die Bücher zurückzugeben, wurde übrigens nicht eingelöst). Ji Yun selbst war hauptverantwortlich für die Zusammenstellung der annotierten Titelliste der 3593 Bücher, die in die Sammlung aufgenommen wurden, sowie der 6793 Titel, die aufgrund von "Aberglauben, Irrlehren" beseite gelassen wurden (wer hier gar nicht einmal so klandestine Zensur vermutet, irrt nicht) und der 1783 gedruckt wurde. Das 四库全书 umfaßte insgesamt 36.381 Einzelbände mit insgesamt 79.000 Kapiteln und mehr als 800 Millionen Schriftzeichen. Insgesamt wurden sieben Exemplare gedruckt. Das Exemplar im kaiserlichen Sommerpalast wurde vollständig vernichtet, als die europäischen Truppen 1860 während der zweiten Opiumkriegs das 300 Hektor umfassende Gelände vollständig niederbrannten. Die Ausgaben in Zhengyang und Yangzhou wurden während des Taping-Aufstands vollständig vernichtet; von der Ausgabe in Hangzhou blieb nur ein gutes Fünftel erhalten. Ein Trost blietet die moderne Technik: Heute sind sämtliche Seiten dieser wohl umfangreichsten Kompilation der Literaturgeschichte nur einen Mausklick entfernt - und zwar im

Chinese Text Project,


sowie in der

World Digital Library

Jis Kompilation von Erzählungen, Begebenheiten, Erinnerungen und Denkwürigkeiten mit dem Titel 如是我闻 (Rúshì wǒ wén / Was ich gehört habe) bilden die Bände 7 bis 10 seiner postum erschienen Gesammelten Werke. Der Titel ließe sich auch mit "Folgendes habe ich gehört" wiedergeben; im Chinesischen hat er Anspielungscharakter, denn es ist die Standardformel, mit der Buddhas Schüler Ananda anhebt, wenn er die Lehren seines Meisters referiert.

(2) 邵伯温, Shao Bowen, 1057-1134. Der Titel 《闻见录》 / Wén jiàn lù, den ich mit "Was ich erfahren habe" übersetzt habe, könnte auch mit "tägliche Wissensaufzeichnung" wiedergegeben werden; 录 bezeichnet eine Chronik oder ein Tagebuch. Bei "Meister Kangjie" handelt es sich um Shaos Vater 邵雍 / Shao Yong, 1011-1077, Dichter Philosoph und Historiker der Song-Zeit, der als einer der Hauptanreger des Neukonfuzianismus gilt; die Anordnung der 64 Trigramme des Buchs der Wandlungen, in denen Leibniz einen Vorläufer des binären Zahlensystems sah, geht auf ihn zurück. 康節, Kangjie, ist sein postumer Titel, mit dem ein Gelehrter nach dem Abschluß der irdischen Wechselfälle und dem Zeitumständen nur anhand seiner Verdienste erwähnt werden soll. (Die klassische chinesische Nomenklatur ist beinahe so barock wie die Titel der römischen Kaiser oder der ägyptischen Pharaonen.)

(3) 曲园先生, Qū Yuán xiānshēng, "Herr Qu Yuan": Qu Yuan ist das Schriftstellerpseudonym von 俞樾, Yu Yue, 1821-1906 (nicht zu verwechseln mit dem gleichnamigen Dichter des Lisao, dem ersten der 17 Abteilungen des Chuci ("Elegien von Chu"), der zwischen 343 und 290 v. Chr. gelebt hat und von dem er sein Pseudonym entlehnt hat), der unter seinem "bürgerlichen" Namen zahllose text- und quellenkritische Ausgaben konfuzianistischer Klassiker verfaßt hat und als einer der größten Philologen der späten Qing-Zeit gelten darf; Seit 1886 leitete er die Akademie von Guijing, 詁經精舍. Die fünf Bände von kleinen Aufsätzen, die als Nebenwerk unter seinem Pseudonym erschienen, 《茶香室》 (chá xiāng shì), dessen Titel ich mit "Aufzeichungen aus dem Duftenden Teehaus" übersetzt habe, sind im Original syntaktisch eindeutiger; es ist klar daß nicht das Haus duftet, sondern es sich um ein "Haus des duftenden Tees" handelt. Qu Yuan zählte zu den Lieblingsautoren von Zhou Zuoren.


(4) 《虬谈日记》 - "Tagebuch (oder "Protokoll") der Unterhaltungen mittels Planchette": an dieser Stelle liegt vielleicht die größte Freiheit vor, die ich mir in diesem Text als Übersetzer erlaubt habe. Bei der "Planchette", die in Europa und der Neuen Welt in der zweiten Hälfte der 19. Jahrhunderts zur "Kommunikation" mit "Geistern" sehr beliebt war, handelt es sich um ein kleines Holzbrett, das auf Rollen frei beweglich war und in dem senkrecht ein Bleistift befestigt war. Die Mitglieder der Séancen legten jeweils eine Fingerspitze auf das Brett; durch den unterschiedlichen Druck geriet das Brett in Bewegung und der Stift zeichnete eine Spur auf ein darunterliegendes Papier. Die Schnörkel formten sich in aller Regel zu erkennbaren Lettern. (Psychologisch dürften hier zwei Wirkmechanismen gegriffen haben - wenn wir einmal von der Möglichkeit "höhere Wesen befehlen" absehen: zum einen ein mehr oder minder unbewußtes Ausagieren der gutgläubigen Teilnehmer, eine sich vage abzeichnende "Botschaft" in ihrem Sinn zu vervollständigen; zum anderen subtile, aber bewußt eingesetzte leicht stärkere Fingerbewegungen des leitenden "Mediums".) Das Ouija-Brett, bei dem ein Zeiger oder eine Plakette auf einem mit Buchstaben und Ziffern beschrifteten Brett bewegt wurde, ist eine Variante desselben Prinzips.

Bei der traditionellen chinesischen Divinationsmethode, 扶箕 Fújī, genannt (wörtlich: "das Sieb hochhalten"), die während der Song-Zeit, also im 11. und 12. Jahrhundert, aufkam, wurde zunächst ein Trichter verwendet, der eine Spur aus feinem Sand hinterließ; während der Qing-Zeit wurde statt dessen ein Griffel oder eine in Y-Form zugeschnittene Holzgabel - also durchaus unserer Wünschelrute entsprechend - über eine mit Sand bestreute Fläche geführt. Diesem Stylus verdankt das "Protokoll" seinen Titel 《虬谈日记》 qiú tán rìjì (日记, das Protokoll oder das Tagebuch; 谈, die Unterhaltung(en) - das Chinesische kennt bekanntlich keinen Numerus. 虬, qiú, bezeichnet in der chinesischen traditionellen Mythologie bzw. Ikonik einen jungen Drachen, der daran zu erkennen ist, daß er zwei lange Hörner hat - der hier verwendete Name für den Schreibgriffel leitet sich davon ab.)


Das einzige Exemplar dieses Buches, für das ich einen Bibliotheksnachweis gefunden habe, befindet sich übrigens in der chinesischen Nationalbilbiothek in Beijing. Der Katalogeintrag dafür ist hier nachzulesen.





(5) "Neunundzwanzigster Tag des fünften Monats": die chinesische Datumszählung erinnert für unsere Begriffe an die Lakonik der alten Römer, die ihre Töchter gerne Tertia, Quarta, Quinta benannten: selbst heute, nach hundert Jahren des westlichen Kalenders, sind für die Wochentage nur die Bezeichungen
周一 zhōu yī
周二 zhōu'èr
周三 zhōu sān
周四 zhōu sì
also "erster Tag," "zweiter Tag," "dritter Tag," "vierter..." gebräuclich statt Montag bis Donnerstag (lediglich der Sonntag bildet als 周日, zhōu rì, "Wochentag der Sonne," eine Ausnahme. Für die Monate gilt just dieselbe Zählweise. Hier kommt hinzu, daß wir es noch mit der alten kalendarischen Zählung des Kaiserreichs zu tun haben (Lu Xun spielt am Auftakt seiner Erzählung "Das Neujahrsopfer" mit dem Spannung zwischen dem alten Kalender und der neuen republikanischen Orientierung an der westlichen Jahresaufteilung), die vom Beginn des Neujahrsfests an zählt. Der "29. Tag des 5. Monats" entspricht mithin zu diesem Zeitpunkt noch nicht unserem 29. Mai, wie er es heute tut. Hinzu kommt, daß im Chinesischen Zeit- und Altersangaben nicht nach abgelaufener Anzahl von Einheiten, sondern anhand der "gerade aufgefüllten Einheit": Jemand, der nach unserer Rechnung 39 Jahre alt ist, hat schon vor Monaten seinen 40. Geburtstag gefeiert; ein Neugeborenes zählt schon am Tag seiner Geburt "ein Jahr". Von daher die leicht irritierende Angabe der zehn Schwangerschaftsmonate.

(6) Changdian: in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts befand sich dort im Süden Beijing einer der größten Trödelmärkte der Stadt, der in den Sommermonaten abgehalten wurde.

(7) "Natürliche Auswirkungen von Yan und Ying": es handelt sich um die Theorie, mit der der neokonfuziansiche Moralphilosoph  张载, Zhang Zhai (1020-1077) Spukerscheinungen erklärt hat.

(8) 陶公, TaoYuanming (365, oder, anderen Quellen zufolge 372 - 427) war einer der berühmtesten Dichter während der Zeit der östlichen Jin-Dynastie; seine Gedichte galten spätenstens seit der Tang-Zeit, als sie Kodifizierung des "alten Dichter" begann, als archetypisch für den Rückzug aufs Land, ins Privatleben und die Abkehr vom öffentlichen Leben und der Politik (ungeachtet, oder vielleicht gerade geachtet der Tatsache, daß Tao fünfzehn jahre eine Stelle als Magistrat bekleidet hatte). 《归园田居》 (Guī yuántián jū; "Rückkehr/Rückzug" "auf mein Landgut"/"in meinen Garten") steht in der alten chinesischen Dichtung als exemplarisch für diesen quietistischen Impuls: "il faut cultiver notre jardon");  《神释》, (Shén shì, "Der Geist" - oder die Seele - "wird frei"); 《拟挽歌词》 "Trauerlied über mich selbst" (Nǐ wǎn gēcí); der Titel ließe sich auch, weniger elegant, mit "Vorweggenommene Totenklage" wiedergeben; ein kleines Genre in dem sich auch Jonathan Swift mit "Verses on the Death of Dr. Swift" und Robert Gernhardt geübt haben.)

(9) Guan Yus "Säuberung des Knochens" (刮骨療毒): In dem klassischen chinesischen Roman 三国演义, Sān guó yǎnyì (Die Geschichte der drei Reiche), das zumeist 罗贯中, Luo Gunangzhong (ca. 1330-ca.1400) zugeschrieben wird, und dessen heutige 120 Kapitel umfassende Fassung sich einer Redkation des ursprünglich 240 Kapitel langes Textes aus dem Jahr 1679 verdankt, spielt General Guan Yu eine Partie Go (weiqi), während sein Arzt eine Wunde am Arm behandelt, die ihm in der Schlacht von Fenchang ein vergifteter Pfeil beigebracht hat, indem er das Fleisch bis auf dem Knochen aufschneidet und alle Spuren des Gifts vom freigelegten Knochen abschabt. Guan Yu hat jede Betäubung abgelehnt, weil er keinem Arzt traut (das Buch ist eine klassische Ansammlung aller Hinterlisten und Betrügereien, mit denen Verbündete um ihren Lohn gebracht werden können.) Die grausige Episode ist bei den zahlreichen Verfilmungen natürlich stets eine pièce de résistance. Eine bittere Ironie liegt darin, daß die Heldentat vergebens ist; General Guans Heer ist bei der Schlacht so zusammengeschmolzen, daß seine Feinde ihn wenige Wochen später besiegen und töten können. In den volkstümlichen Spielarten des Taoismus hat die Figur Guan Yus über die Jahrhunderte göttlichen Status erlangt; auch der Roman zeigt ihn als das Musterbeispiel der höchsten Tugend und Tapferkeit. Zahllose kaiserliche Edikte beriefen sich auf seinen Namen; viele militärische Erfolge wurden der direkten Inspiration durch seinen Geist zugeschrieben. In unsrem Zusammenhang bleibt noch zu erwähnen, daß "spiritistische Botschaften" vermittels des Fújī seit dem 17. Jahrhundert oft durch ihn erfolgten.  Im Laufe des 19. Jahrhunderts, unter dem Einfluß des westlichen Spiritismus - aber auch der apokalyptischen Zeitströmungen, wie sie sich auch in den Endzeiterwartungen der Taiping-Rebellen ausdrückten, nahmen seine "Verkündungen" zunehmend apokalyptischen Charakter an, des öfteren verkündete er den Termin des bevorstehenden Weltuntergangs. Die im fünften Jahr der Tongzhi-Ära (1866) in der Provinz Da in Sichuan gegründete Gesellschaft 十全會 Shíquán huì, die "Gesellschaft der zehn Gebote" diente dem Zweck, seinen Botschaften in gedruckter Form, 神諭, Shén yù genannt, ("Orakel" oder "Geisterbefehl") genannt,  möglichst weite Verbeitung zukommen zu lassen. Ein "fun fact" (wie man wohl neudeutsch sagt): in Hongkong findet sich auf jeder Polizeiwache ein kleiner Gedenkaltar für Guan Yu; ihm Ehre zu bezeugen ist zwar nicht vergeschrieben, gehört aber zum Komment.


(刮骨療毒 - "Huo Tuo behandelt Guan Yus verletzten Arm." Eine der zehntausend Darstellungen im Langen Korridor des Neuen Sommerpalasts.)

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对于桂明一如既往。



U.E.

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