12. Juni 2020

Lord Dunsany, "Der Briefträger von Otford" (1917)

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Die Dienstpflichten des Briefträgers in Otford-unter-dem Walde brachten es mit sich, daß Amuel Sleggins sich einmal im Jahr auf den Weg machte, der ihn weit aus dem Dorf hinausführte, weit jenseits des letzten Hauses an der Dorfstraße, an den Rand des großen, undurchdringlichen Walds zu jenem Haus, das niemand je aufsuchte, außer den drei finsteren Männern, die es bewohnten, und der verschlossenen Frau einer dieser Männer, und einmal im Jahr, wenn der merkwürdige Brief mit dem grünen Umschlag eintraf, Amuel Sleggins, der Postbote.

Der grüne Brief traf stets ein, wenn die Blätter sich zu verfärben begannen und war an den ältesten der drei finsteren Männern addressiert. Er trug eine prachtvolle Briefmarke aus China, und sobald er eintraf, den Posteingangsstempel von Otford, und Amuel Sleggins beförderte ihn an sein Ziel.

Er hatte keine Angst vor seinem Botengang; er hatte ihn jedes Jahr erledigt, seit nunmehr sieben Jahren, und doch beschlich ihn ein leises Unbehagen, sobald sich der Sommer seinem Ende zuneigte, und wenn die Luft herbstlich kühl zu werden begann, schauderte es ihn merklich, und die Dorfbewohner wunderten sich darüber.

Und dann kam der Tag, an dem der Wind aus Osten blies, und die Wildgänse am Himmel erschienen, die von Meer her kamen und hoch in den Lüften ihre merkwürdigen Rufe ausstießen, und davonzogen, bis sie nur noch wie ein dünner schwarzer Strich in der Höhe auszumachen waren, als ob ein Magier einen Zauberstab in die Luft geworfen hätte, der sich dort oben drehte und aufblitzte. Die Blätter wurden bunt, und am Morgen stand der Nebel weiß über den Marschen und die Sonne ging wie eine gewaltige rote Kugel unter und der Herbst zog in dieser Nacht aus dem Wald ins Tal hinunter, und am Tag darauf kam der seltsame Brief aus China mit dem grünen Umschlag.



Die Furcht, die er vor den drei finstren Männern und der verschlossenen Frau und ihrem eisnamen, ablegenen Haus empfand, brachte er mit sich, daß Amuel seinen Mut zusammennahm, wenn es soweit war (vielleicht war es aber auch nur der schneidenden Kälte des scheidenden Jahres geschuldet) und er machte sich energischer als in den Wochen zuvor auf seine Runde. An diesem Tag wartete er geradezu darauf, daß er einen Brief beim lezten Haus an der Dorfstraße abzuliefern hätte, danit er dort noch ein Pläuschchen hallten konnte und sich an den Gesichtern braver Kirchgänger sattsehen konnte, bevor er sich auf den letzten Gang über die Heide machte, der ihn zur Tür grauen, verrufenen Hauses führte, das die Heidehütte genannt wurde.

Sobald er an der Tür der Heidehütte, klopfte er mit seinem üblichen Briefträger-Schlag an, als handelte es sich um einen ganz normalen Brief, den er bei einer ganz normalen Addresse ablieferte, obwohl kein Weg zur Tür hinführte und die Fenster im Obergeschoß dicht mit den ausgebalgten Fellen von Wieseln verhängt waren.

Und kaum war sein Briefträger-Schlag verklungen, öffnete der älteste der drei finsteren Gesellen auch schon die Tür. Oh, was für ein Gesicht! Es wohnte mehr Verschlagenheit darin, als sein Bart verbergen konnte. Er streckte stets eine schwielige Hand aus, und Amuel Sleggins gab ihm stets den Brief aus China und war erleichtert, daß er seine Aufgabe hinter sich hatte, und drehte sich um und ging wieder. Die Felder hießen ihn willkommen, aber hinter ihm aus der Heidehütte konnte er ein bedrohliches,eifriges und verhaltenes Geflüster dringen hören.

Sieben Jahre hatte er so seine Pflicht erfüllt; siebenmal hatte er sich auf den Weg zur Heidehütte gemacht, siebenmal war ihm nichts zugestoßen. Und dann kam die Zeit, als er heiratete. Vielleicht lag es daran, daß sie jung war; oder weil sie hübsch war; oder weil ihn ihre schlanken Beine alles vergessen ließen, als sie im Frühling barfuß des Wegs daherkam. Das Schicksal hat schon mit weniger so manchen Mann in seine Fesseln geschlagen. Und mit der  Ehe hielt die Neugier in sein Heim Einzug, und eines Tages fragte sie ihn, als sie am Abend durch die Felder spazierten, nach der Heidehütte und ihren Bewohnern, die niemand außer ihm je zu Gesicht bekommen hatte. Er erzählte ihr, was er wußte, und sie fragte nach dem grünen Brief aus China, der in jedem Herbst eintraf, und was er enthielt. Er zitierte ihr die Postvorschriften, er sagte ihr, daß er es nicht wußte, er erklärte ihr, daß ihm der Inhalt nichts anginge, er machte ihr wegen ihrer sündhaften Neugierde Vorhaltungen, er wiederholte ihr, was der Pastor gesagt hatte. Und am Ende sagte sie, daß sie es wissen wollte. Sie stritten so mannchen Tag darüber, während der Sommer zur Neige ging und die Abende kürzer wurden, und während sie stritten, kam der Herbst näher und näher und mit ihm der grüne Brief aus China.

Schließlich versprach er ihr, daß er sich dieses Jahr, wenn der grüne Brief ankam und er ihn beim einsamen Haus ablieferte, in der Nähe verstecken und sich unters Fenster schleichen wollte, sobald es dunkel geworden war, um zu hören, was die finsteren Gestalten miteinander zu besprechen hatten. Vielleicht lasen sie ja einander den Brief aus China laut vor. Und noch bevor er Zeit hatte, sein Versprechen zu bereuen, kam die Kälte des Nachts mit dem Wind und die Kiebitze zogen am Abend in hellen Scharen über die Felder und die Wälder färbten sich golden, das Jahr wendete sich, und der Brief aus China kam an. Noch nie zuvor hatten Amuel solche finsteren Ahnungen beschlichen, als er sich auf seine Runde machte, noch nie hatte ihm der Gedanke an seinen Gang über die Heide und zu dem einsamen Haus solches Unbehagen bereitet, während sich zuhause seine Frau beim gemütlichen Ofen darauf freute, daß ihre Neugierde endlich gestillt würde und daß sie noch vor abend Neuigkeiten zu erzählen wüßte, um die sie das gesamte Dorf beneiden würde. Für Amuel blieb als einziger Trost, daß er auch einen Brief zum letzten Haus an der Dorfstraße zu überbringen hatte. Er hielt sich dort länger als gewöhnlich auf, um den Anblick der fröhlichen Mienen und das fröhliche Lachen zu genießen - in der Heidehütte wurde nie gelacht - und als das letzte Thema in jeder Hinsicht abgehandelt worden war und ihm kein Vorwand mehr blieb, noch länger zu zögern, seufzte er schwer und machte sich langsam auf den Weg und gelangte erst zur Heidehütte, als der Tag schon weit fortgeschritten war.

Er klopfte mit jenem Schlag an die Tür, der die Bewohner wissen ließ, daß die Post da sei, hörte das Klopfen im stillen Haus wiederhallen, erblickte den finsteren alten Mann in der Tür und seine schwielige Hand, übergab ihm den grünen Brief aus China und entfernte sich. Dort auf der Heide steht ein kleines Gehölz, allein auf weiter Flur, dunkel und dicht und verschlossen bei Tag und voller Bedrohung bei Nacht, so weit ab von den anderen Bäumen gelegen wie die Heidehütte von den anderen Häusern, aber nicht sehr weit von dieser Hütte entfernt. Und heute nacht schritt Amuel nicht wacker aus, bis das Dorf vor ihm lag, während ihm der Herbstwind frisch um die Ohren pfiff. Sobald das Haus hinter ihm nicht mehr zu sehen war, wandte er sich um, duckte sich hinter einen Ackerrain und huschte zu dem verlassenen Wädchen. Dort wartete er und hielt Ausschau; er war zu weit entfernt, um Stimmen vernehmen zu können. Die Sonne stand schon tief. Er suchte sich das Fenster aus, an dem er zu lauschen gedachte: ein kleines an der Rückseite, dessen Fensterläden geschlossen waren. Dann fielen die Tauben in das Wäldchen ein, denn es gab in der Nähe keine anderen Bäume, und so sammeln sich dort nachts viele von ihnen, obschon das Wäldchen so klein ist und so finster daliegt (falls dies für Tauben von Belang sein sollte). Die erste von ihnen erschreckte Amuel zutiefst; er hatte den Eindruck, als handele es eine arme Seele, die aus einem düsteren Keller in jenem Haus vor Folter und Qual geflohen sei. Seine Nerven waren angespannt und ihn peinigten alberne Ängste. Er bezwang sie, aber als die Sonne hinter der Heide versank, sah die Welt düster und fremd aus, und sie beschlichen ihn aufs Neue. Hinter ihm senkte sich die Heide in einer flachen Talmulde, und vor sich konnte er das Haus hinter den Bäumen liegen sehen. Er wartete darauf, daß drinnen Lichter angezündet wurden, damit niemand sehen konnte, was draußen vorging, dann wollte er sich vorsichtig anschleichen und unter dem kleinen Fenster warten. Aber obschon jetzt alle Vögel auf den Zweigen hockten, obwohl die Nacht kühl wurde wie ein Grab, obwohl die ersten Sterne am Himmel schienen, fiel kein gelber Lichtschein aus einem der Fenster. Amuel wartete und ihn schauderte. Er wagte es nicht, sich zu bewegen, bevor drüben ein Licht angezündet worden war; vielleicht saß jemand am Fenster und schaute nach draußen. Der feuchte Tau und die Kälte bedrückten ihn an diesem Herbstabend, der letzte Lichtschein des Sonnenuntergangs, die Sterne und die Heide und das dunkle Himmelgewölbe waren wie ein gewaltiger Saal, in dem ein Stück mit dem Titel "Furcht!" aufgeführt werden sollte. Angst vor namenlosen Dingen schlich sich in seine Seele, und immer noch blieb das arge Haus in Dunkel gehüllt. Es wurde so dunkel, daß er sich entschied, loszuschleichen, trotz der Stille und obwohl das Haus weiterhin dunkel blieb. Er stand auf und als er sich aufgerichtet hatte und Arme und Beine ausstreckte und darauf wartete, daß der Schmerz der verkrampften Haltung nachließ, hörte er, wie sich die Tür an der rückwärtigen Seite des Hauses öffnete. Ihm blieb gerade noch Zeit, sich hinter einem Kiefernstamm zu verbergen, bis die drei finstren Männer näherkamen und die Frau hinter ihnen herschlich. Sie hielten genau auf das dunkle Wäldchen zu, als ob die Finsternis sie anziehen würde. Sie kamen keine sechs Fuß von der Stelle entfernt vorbei, an der sich der Briefträger verborgen hielt und hockten sich in einen Steinkreis in der Senke hinter den Bäumen. Dann entfachten sie ein Feuer im Steinkreis, holten ein Zicklein aus einem Mantelsack hervor, legten es in das Feuer, und in seinem Schein konnte Amuel erkennen, wie sie aus einem Beutel aus ungegerbtem Leder den Brief hervorholten, der aus China gekommen war. Der älteste von ihnen riß ihn mit seiner schwieligen Hand auf und sprach Worte, die Amuel nicht kannte, schüttete ein grünes Pulver daraus auf seine Hand und streute es in die Flammen. Sogleich schossen die Flammen lodernd empor, ein fremder, würziger, unbeschreiblicher Duft breitete sich aus, und das blakende Licht hüllte die Stämme der Bäume in grünen Schein, und Amuel sah, wie die Götter herbeikamen und den Geruch begierig einsogen. Während die drei finsteren Männer, und die gräßliche Frau, die die Gattin eines dieser Männer war, sich vor dem Feuer niederwarfen, sah Amuel die Götter über die Heide daherkommen, sah die Götter des alten Englands, wie sie hungrig den Opferduft einsogen: Odin und Balder und Thor, die Götter der längst vergangenen Zeiten, sah sie mit eigenen Augen und deutlich vor sich in der Nacht über der Heide.

Und seit jenem Tag ist die Stelle des Briefträgers in Otford-unter-dem-Walde nicht mehr besetzt.

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Lord Dunsany kleine Erzählung erschien zuerst im Oktober 1917 in der amerikansichen Zeitschrift Vanity Fair unter dem Titel "The Postman of Otford, How His Office Fell Vacant at Otford-under-the-Wold." In der Buchveröffentlichung in Tales of Three Hemispheres (im Bostoner Verlag J. W. Luce im Oktober 1919 und im Londoner Verlag T. Fisher Unwin im Juni 1920 - also vor genau 100 Jahren! - publiziert) lautete der Titel "How the Office of Postman Fell Vacant in Otford-under-the-Wold", und beim Nachdruck im Magazin Famous Fantastic Mysteries, das zwischen 1939 und 1953 zahlreiche Texte nachdruckte, die heute zum klassischen Gestand der "Weird Fiction" der ersten Jahrhunderthälfte zählen, von Arthur Machen über Algernon Blackwood, Lovecraft und eben auch Lord Dunsany, war der Titel dann auf "The Postman of Otford" geschrumpft, an den ich mich hier gehalten habe. Ronald Clynes Illustration ist dieser Veröffentlichung in der Ausgabe vom September 1944 entnommen.



Ronald Clyne (1925-2006) begann seine Laufbahn als 1Illustrator im Jahr 1943 für jene Amateurpublikationen, die schon in den 1930er Jahren bei ihrem Aufkommen "Fanzines" genannt wurden (um sie von den "Prozines", den professionellen Magazinen zu unterscheiden, die für Veröffentlichungen zahlten), und entwarf ab 1945 zahlreiche Umschläge von den von August Derleth gegründeten Kleinverlag Arkham House, der zunächst nur dazu gedient hatte, um die Werke von H. P. Lovecraft, an denen zu Lebzeiten und nach seinem Tod 1937 kein "großer" Verlag Interesse gezeigt hatte, in Buchform zu publizieren und so in etwas dauerhaftere Form zu bringen als in der vergänglichen Groschenheft-Form der Pulp Magazines, in denen sie zuerst erschienen waren. Arkham House war in den 40er Jahren der einzige Verlag, der sich ganz auf die Gattung des literatirschen Schreckens kaprizierte; die Auflagenhöhen der einzelnen Titel zwischen 500 und 2000 Druckexemplafren haben dafür gesorgt, daß die Originalausgaben jener Jahre heute auf dem antiquarischen Markt beeindruckende Preise erzielen. Daneben lieferte Clyne von 1945 bis 1949 eine Reihe von Illustrationen für eben Magazine wie Weird Tales und Famous Fantastic Mysteries; sein Titelbild für die Ausgabe vom Mai 1946 des "unique magazine" blieb leider das einzige. (Seine stilisierten Halbrelief-Darstellungen, die sich an der Darstellungsweise für Epen- und Sagenstoffe anlehnen, wie sie sich im 18. Jahrhundert etwa für Homer eingebürgert hat, brachte ihn auch die Ehre ein, den Umschlag für die erste akademische Studie zu gestalten, die sich dem "halbseidenen" Thema der kosmischen Reise widmete, Marjorie Hope Nicolsons Voyages to the Moon von 1948).  Clynes Künstlerkarriere nahm eine neue Wendung, als er ab Ende der vierziger Jahre damit begann, Plattenhüllen für die Plattenfirma Folkways zu entwerfen, für die er mehr als 500 Entwürfe gestaltete.






(The Fourth Books of Jorkens, Arkham House 1948)


 (Night's Black Agents, Arkham House, 1947)





(Eine kleine Anmerkung: Clyne hat zwar viele der Umschläge für Arkham House zwischen 1945 und 1949 gezeichnet, aber keineswegs alle; die meisten jener Jahre stammen von Frank Utpatel. Deswegen fehlt hier auch der Umschlag der ersten Sammlung von Ray Bradbury, The October Country von 1947; der Umschlag wurde von George Burrows gestaltet.)

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(Nachtrag vom 14. Juni)

"...Odin und Balder und Thor, die Götter der längst vergangenen Zeiten, sah sie mit eigenen Augen und deutlich vor sich in der Nacht über der Heide..."

Ich sehe mit zwei Tagen Verspätung, daß die NASA als ihr "Astronomy Picture of the Day" (APOD) für den Tag dieses Beitrags, den 12.06., diese Aufnahme gewählt hat:



 mit folgender Erläuterung:

NGC 2359: Thor's Helmet

NGC 2359 is a helmet-shaped cosmic cloud with wing-like appendages popularly called Thor's Helmet. Heroically sized even for a Norse god, Thor's Helmet is about 30 light-years across. In fact, the helmet is more like an interstellar bubble, blown as a fast wind from the bright, massive star near the bubble's center inflates a region within the surrounding molecular cloud. Known as a Wolf-Rayet star, the central star is an extremely hot giant thought to be in a brief, pre-supernova stage of evolution. NGC 2359 is located about 15,000 light-years away in the constellation of the Great Overdog. The remarkably sharp image is a mixed cocktail of data from broadband and narrowband filters using three different telescopes. It captures natural looking stars and the details of the nebula's filamentary structures. The predominant bluish hue is strong emission from doubly ionized oxygen atoms in the glowing gas.
Wer sich fragt, warum aus dem Sternbild Großer Hund, Canis major, hier "the great overdog" geworden ist: es handelt sich um eine Anspielung auf das Gedicht "Canis Major" von Robert Frost aus dem Jahr 1925:

The great Overdog
That heavenly beast
With a star in one eye
Gives a leap in the east.
He dances upright
All the way to the west
And never once drops
On his forefeet to rest.
I'm a poor underdog,
But to-night I will bark
With the great Overdog
That romps through the dark.





U.E.

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