10. Juni 2020

Lord Dunsany, "Im Wechsel der Gezeiten" (1908)

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(Ill. Sidney H. Sime, "The terrible mud")


Ich träumte, ich hätte ein abscheuliches Verbrechen begangen, und daß mir kein ehrenvolles Begräbnis zuteil werden sollte, weder zu Land noch zur See, und daß sich jede Hölle weigern sollte, mich aufzunehmen.

In dieser Gewißheit wartete ich einige Stunden lang. Dann kamen meine Freunde, und sie töteten mich, wie es ihnen der alte Brauch zur Pflicht auferlegte, entzündeten große Fackeln, und trugen mich davon.

All das geschah in London, und sie trugen mich auf ihren Schultern durch die grauen Straßen, und an den verfallenen Fassaden vorbei, bis sie zum Fulß gelangten. Und der Fluß und die Flut, die vom Meer hereinströmte, stritten miteinander zwischen den lehmigen Ufern, und beide waren schwarz und Lichter glänzten auf ihnen. Und als meine Freunden mit ihren lodernden Fackeln näher kamen, sah es aus, als ob dort unzählige Augen aufleuchteten und sich vor Staunen weit öffneten. Und ich konnte all das noch mitansehen, obwohl ich schon kalt jund steif war, denn meine Seele war noch in meinem Körper gefangen, weil ihr alle Höllen verschlossen waren und mir ein christliches Begräbnis verwehrt war.



Sie trugen mich Stufen hinunter, die grün vor Schleim waren und gelangten so ans verschlammte Ufer. Und dort, wo sich die vergessenen und verlorenen Dinge ansammeln, hoben sie ein flaches Grab aus. Als sie damit fertig waren, legten sie mich hinein und warfen ihre Fackeln in den Fluß. Und als die Flammen zischend im Wasser erloschen waren, trieben die Fackeln naß und winzig auf der Flut, und die Szene büßte jede Romantik mit einem Schlag ein. Ich sah, wie sich der Himmel schon aufhellte, und meine Freunde verbargen ihre Gesichter und die ernste Prozession verwandelte sich lauter Heimlichtuer, die sich davonstahlen.

Dann quoll der Schlamm langsam wieder an seinen alten Platz zurück, bis nur noch mein Gesicht unbedeckt war. Und dort lag ich nun unter dem Treibgut, das die Flut nicht länger mit sich schleppt, unter den vergessenen und nutzlosen Dingen, und den ekligen Ziegeln, die weder Stein sind noch Erde.  Ich empfang nicht mehr, denn ich war ja tot; aber ich verfügte noch über Empfindungen und Denkvermögen. Die Morgendämmerung wurde heller, und ich konnte die elenden Häuser ausmachen, die sich am Flußufer drängten, und ihre toen Fenster, die in meine tote Seele blickten, Fenster, hinter denen sich Stoffballen stapelten und keine Menschenseele lebte. Ich es war mir unerträglich, all die verlorenen Dingde sehen zu müssen, daß ich hätte aufschreien mögen - aber ich konnte es nicht, denn ich war ja tot. Und da ging mir auf einmal auf, daß auch diese verlassenen Häuser hätten schreien wollen, aber stumm bleiben mußten, weil auch sie tot waren. Und mir wurde klar, daß all dieses vergessene Treibgut einen Trost gehabt hätte, wenn es Tränen gehabt hätte. Aber es war blind und ohne Leben. Und ich selbst versuchte, Tränen zu vergießen, aber auch für meine toten Augen gab es keine Tränen. Und ich dachte daran, daß uns der Fluß hätte wiegen können mit seinem Wasser, uns mit seinen Wellen ein Lied hätte singen können, aber er strömte stumm dahin und dachte an nichts als die großen Schiffe, die er trug.

Schließlich tat die Flut, was der Fluß verweigerte: sie kam und bedeckte mich, und meine Seele fand im grünen Wasser Ruhe, freute sich, und es schien ihr, als habe sei ihr doch eine Seebestattung zuteil geworden. Aber mit dem Wechsel der Gezeiten fiel der Wasserstand wieder, und ich war wieder allein mit dem  toten Schlick und den nutzlosen Dingen, die dort gestranded sind und mit dem Anblick der verfallenen Häuser und dem Wissen, daß wir allesamt tot und vergessen waren.

In der schwarzen Mauer hinter mir, die das Wasser nicht mehr erreichte, taten sich dunkle Kanäle auf, vor denen grün die Algen herabhingen und die von Gittern versperrt waren. Nach einiger Zeit krochen die Ratten vorsichtig hinaus, um mir zu nagen, und meine Seele freute sich darüber, weil sie hoffte, daß jetzt um die Gebeine, die sie gefangen hielten und denen jedes Begräbnis verwehrt blieb, geschehen sei. Aber die Ratten wurden scheu, zogen sich zurück und hielten fiepend Kriegsrat. Sie kamen nicht zurück. Als mir klar wurde, daß der Fluch, der auf mir lastete, sogar die Ratten abschreckte, hätte ich gerne von neuem Tränen vergossen.

Dann kehrte die Flut zurück und bedeckte den Schlick, verbarg die trostlosen Häuser, sprach den verlorenen Dinge Trost zu, und für kurze Zeit fand meine Seele in ihrem nassen Grab Ruhe. Und dann gab mich die Ebbe wieder frei.

Und so ging es viele Jahre hindurch. Schließlich aber wurde der Stadtrat auf mich aufmerksam und sorgte für ein schickliches Begräbnis. Es war das erste Grab, in dem ich den ewigen Schlaf tun konnte. Aber in jener Nacht kamen meine Freunde zurück. Sie gruben mich wieder aus und legten mich wieder in die seichte Grube im Schlick.

Wieder und wieder wurden meine Knochen im Lauf der Jahre beigesetzt, und jedes Mal kamen diese furchtbaren Männer, sobald die Nacht hereinbrach, gruben mich aus und verscharrten mich im Loch im Schlick.

Zuguterletzt starb der letzte von ihnen. Ich hörte, wie seine Seele über den Fluß davonflog, als die Sonne unterging.

Und erneut schöpfte ich Hoffnung.

Einige Wochen danach wurde ich wieder einmal gefunden, diesem Ort ohne Rast und Ruhe entrissen und tief in geweihter Erde zur Ruhe gebettet, und ich hegte die Hoffnung, daß meine Seele Frieden finden möchte.

Die Männer mit ihren wehenden Umhängen und Fackeln kamen alsbald, denn dies hier war für sie längst zur Tradition und zu einem Ritus geworden. Und die verlorenen Dinge verhöhnten mich in ihrem toten Herzen, als sie mich erneut sahen, denn sie hatten mir den Abschied vom Schlick geneidet. Und man sollte nicht vergessen, daß ich nicht weinen konnte. Und die Jahre verrannen ins Meer wie die schwarzen Lastkähne, und die verlorenen Jahrhunderte gingen dort unter, und immer noch lag ich dort, ohne Aussicht auf Hoffnung, und umgeben von dem Neid und Zorn der verlorenen Dinge, die die Flut vergessen hat.

Einmal erhob sich ein großer Sturm im Süden aus dem Meer und blies bis nach London hinein, und der scharfe Ostwind ließ ihn den Fluß hinaufwirbeln. Er war stärker als die trägen Gezeiten und setzte im gewaltigen Sprüngen über den erstarrten Schlick. Und die vergessenen Dinge freuten sich, vermischten sich mit dem neuen Treibgut, das die Flut mit sich trug, und ließ sie um die Schiffsrümpfe spielen, die schwer im Wellengang auf und nieder rollten. Und er spülte meine Knochen aus dem Schlamm frei, und ich hegte die Hoffnung, daß ich nie wieder zum hilfosen Spielball von Ebbe und Flut werden würde. Und als die Tide wechselte, blies er den Fluß abwärts und wandte sich seiner Heimat im Süden zu. Und meine Gebeine verteilte er an den Gestaden vieler Inseln und fremder Länder. Und einen Augenblick lang, während das Meer sie weit verstreut hatte, war meine Seele beinahe frei.

Und dann hob sich die Flut, wie der Mond es wollte, und machte sogleich das Werk der Ebbe zunichte, sammelte meine Gebeine von den Stränden der sonnigen Inseln und den Küsten der fernen Länder, schwemmte sie nach Norden bis zur Mündung der Themse, und den Fluß hinauf, bis zum Loch im Schlick, und spülte meine Gebeine dort hinein und bedeckte sie zur Hälfte mit Schlamm und ließ sie dort weiß zurück, denn der Schlamm kehrt sich nicht um die vergessenen Dinge, die er in sich birgt.

Und die Ebbe kam, und ich sah die toten Augen der Häuser und den Neid unter den anderen vergessenen Dingen, die der Sturm nicht fortgetragen hatte.

Und ein paar Jahrhunderte gingen unter dem Wechsel von Ebbe und Flut dahin. Und all die Jahre lag ich im festen Griff des Schlicks, nie vollständig bedeckt, und nie freigegeben, und sehnte mich nach der schützenden Wärme der  Erde oder dem trostreichen Wiegen des Meeres.

Manchmal fanden die Menschen meine Gebeine und begruben sie, aber die alter Tradition starb nie, und stets brachten die Nachfolger meiner Freunde sie zum Fluß zurück zurück. Schließlich befuhren keine Schiffe mehr den Fluß, und die Lichter wurden weniger, es wurden keine Stämme mehr denen Fluß hinunter geflößt, sondern an ihrer Stelle trieben Bäume vorbei, die der Sturm gefällt hatte.

Und dann bemerkte ich, daß neben mir ein Grashalm aus dem Schlick sproß, und daß Moos die toten Häuser bedeckte. Und es kam ein Tag, an dem Disteln den Fluß hinunter trieben.

Ich beobachtete dies ein paar Jahre hindurch, und mir wurde klar, daß es mit London zu Ende ging. Und da wagte ich wieder, Hoffnung zu fassen, und unter den vergessenen Dingen machte sich Empörung breit, daß jemand hier unten im Schlamm noch wagte, einen Funken Hoffnung zu hegen. Allmählich fielen die schrecklichen Häuser in sich zusammen, und die armen toten Dinge fanden ihr würdiges Grab zwischen dem Moos und dem Gras. Maiglöckchen und Winden überwucherten ihre Ruinen, und schließlich blühten wilde Rosen auf den Halden, die einst Kais und Lagerhäuser gewesen waren. Und da wußte ich, daß die Natur gesiegt hatte und London nicht mehr war.

Der letzte Mensch in London kam zum Fluß, zur Mauer, die auf den Fluß hinaussieht, in einem Umhang, wie ihn einst meine Freunde getragen hatten, und sah nach, ob meine Gebeine noch immer an ihrem Platz waren. Dann ging er fort, und ich sah niemals wieder einen Menschen: sie waren zusammen mit London vergangen.

Ein paar Tage, nachdem der letzte Mensch London verlassen hatte, kehrte die Vögel zurück, und sie brachten ihren Gesang mit. Als sie meiner ansichtig wurden, schauten sie mißtrauisch zu mir herüber, hielten sich abseits und hielten Ratschlag.

"Er hat sich nur gegen die Menschen versündigt," sagten sie. "Das geht uns nichts an."

"Wir sollten nett zu ihm sein," sagten sie.

Sie kamen nähergehüpft, und begannen zu singen. Es war die Zeit der Morgenröte, und auf beiden Ufern des Flusses, am Himmel, und in den Dickichten, die die früheren Straßen bedeckten, begannen hunderte von Vögeln zu singen. Während es heller wurde, wurde ihr Gesang lauter und lauter, immer mehr von ihnen füllten die Luft über mir, bis Tausende von ihnen dort sangen, und dann Millionen, und ich schließlich den Himmel gar nicht mehr über mir ausmachen konnte, weil das Sonnenlicht auf den schlagenden Flügeln blitzte. Und als in ganz London kein Laut mehr zu hören war als die Noten dieses Jubelgesangs, stieg meine Seele empor von den meinen Gebeinen in jener Grube im Uferschlamm, stieg immer weiter in die Höhe, und mir schien es, als ob sich vor mir eine der kleineren Pforten des Paradieses auftäte. Und ich nahm das als ein Zeichen, daß ich nicht mehr im Schlamm und Schlick gefangen sein würde, denn mit einemmal konnte ich wieder Tränen vergießen.

In diesem Moment schlug ich in einem Bett in einem Haus irgendwo in London die Augen auf, und draußen tschilpten ein paar Spatzen in einem Baum im strahlenden Morgenlicht, und mir standen noch Tränen in den Augen, denn leider ist die Hemmschwelle recht niedrig, wenn man schläft. Aber ich stand auf und öffnete das Fenster, und sah auf den kleinen Garten hinaus und segnete die Vögel, deren Lärm mich aus den endlosen und furchtbaren Jahrhunderten geweckt hatte, in denen ich im Traum gefangen gewesen war.

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"Where the Tides Ebb and Flow" erschien zuerst in der Saturday Review vom 2. Mai 1908 und in Buchform zwei Jahre später in Dunsanys Sammlung A Dreamer's Tales. Simes Illustration entstand für die Buchveröffentlichung. Brecht-Leser mögen im Thema der kleinen Erzählung eine Vorwegnahme jener speziellen Wendung erkennen, die das Ophelia-Thema im Fin de Siècle so oft nimmt: nämlich die Verwandlung des ertrunkenen Mädchen in einem überzeitlichen Gesichtspunkt, an dem die Wasser ihre vergängliche Fracht vorbeitragen. ("Als ihr bleicher Leib im Wasser verfaulet war / Geschah es (sehr langsam), daß Gott sie allmählich vergaß / Erst ihr Gesicht, dann die Hände und ganz zuletzt erst ihr Haar. / Dann ward sie Aas in Flüssen mit vielem Aas." - "Vom ertrunkenen Mädchen" aus der Hauspostille von 1925). Bei Georges Rodenbach und Georg Heym ("Im Haar ein Nest von jungen Wasserratten,/ Und die beringten Hände auf der Flut / Wie Flossen, also treibt sie durch den Schatten / Des großen Urwalds, der im Wasser ruht" - "Ophelia I") gibt es bekanntlich vergleichbare Ausformungen dieses Motivs. (Der Tropos von der "Unbekannten aus der Seine", "l'inconnue de la Seine", stellt eine, man kann sagen 'ästhetisch entgiftete" Variation bzw. Sublimation dieses Motivs dar, ohne die aufdringliche Beschwörung der Morbidezza des Verwesungsprozesses. Für aufdringliche Verknüpfung, die eros kai thanatos um die Jahrhundertwende eingehen, besonders in ihrer eindringlich beschworenen Morbitität, ist genau eines jener Kennzeichen, die die literarische Dekadenz ausmachen (und hier liegt das Paradestück des Genres, Bram Stokers Dracula von 1897, wesentlich weniger vom Werk Thomas Manns ab, als es so manchem Verehrer der literarischen Hochkultur gegenüber den Niederungen des Reißerisch-Blutrünstigen lieb sein könnte. Die andere Motiv-Schiene, die sich dem hier subkutan präsenten Nixen-Motiv (das ja nicht erst seit Goethe und Fouqués Undine einen drohenden, wenn nicht dämonischen Unterton hat) in diesem Bereich amalgamiert, ist das des Lebendig-Begrabenseins, das natürlich bei Poe, dem ersten großen Vertreter den Fin de Siècle, zuerst in grell übersteuerter Form in "The Premature Burial" aufscheint und ein letztes Echo in Wittgensteins "Ich erstarre zu Stein und meine Schmerzen dauern an..." gefunden hat.


U.E.

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