23. September 2006

Arabiens Misere (2): Der Arabische Sozialismus

Woher rührt die arabische Misere? Zwei, drei Antworten liegen auf der Hand: Für sehr viele Araber hat sie ihre Ursache in der Existenz Israels. Für vermutlich noch mehr Araber liegt sie außerdem an der Ausbeutung durch die Vereinigten Staaten, am "Raub des arabischen Öls" und so weiter. Viele links­stehende Europäer und Amerikaner werden sich vielleicht nicht der ersten dieser beiden Antworten anschließen, aber umso überzeugter der zweiten. Für sie ist die arabische Misere nur Teil der allgemeinen Misere desjenigen Teils der Welt, den man einmal die "Dritte Welt" nannte. Und dessen Misere wiederum wird als Ausdruck der noch allgemeineren Misere gedeutet, die der Kapitalismus, so denkt man es sich, über die Welt gebracht hat.

Die Antwort, die andererseits vielen nicht linksstehenden Europäern als erste in den Sinn kommen dürfte, lautet: Es liegt am Islam. Solange in einem Land eine Religion herrscht, die über ihre eigentliche Aufgabe hinaus auch Staat, Wirtschaft und Gesellschaft nach mittelalterlichen Normen zu regeln beansprucht, kann es nichts werden mit dem Aufbau einer freien Gesellschaft und des Kapitalismus. Der Islam ist eine Religion des Jenseits, nicht des calvinistischen Schaffens und Schuftens im Diesseits. Eine Religion der Ehre, der Phantasie, der Märchen und Rituale, nicht der pragmatischen Zweckmäßigkeit und des Erfolgs. Also unfähig, die Herausforderungen der Moderne zu bestehen.



Die beiden ersten Antworten sind leicht zu widerlegen:

Israel behindert mit seiner Existenz in keiner Weise eine Entwicklung in den arabischen Staaten, wie sie sich in den übrigen Teilen Asiens vollzieht. Wie sollte es? Ganz im Gegenteil - das Konzept von Perez und Rabin, das dem Prozeß von Oslo zugrundelag, war ja just das einer Wirtschaftsregion "Naher Osten", in der sich israelisches Know How mit dem Rohstoff- und Menschenreichtum der arabischen Staaten verbinden sollte. Das ist gescheitert, vielleicht für lange Zeit. Aber daß Israel allein durch seine Existenz Syrien, Libyen oder Ägypten daran hindert, den Weg Singapurs, Taiwans oder Südkoreas zu gehen, das wird man nicht begründen können.

Ebenso ist es nicht begründbar, daß die Vereinigten Staaten - oder generell "die westlichen Länder" - Arabien an seiner Entwicklung hindern würden. Daß sie Erdöl fördern und verkaufen, auch wenn sie dabei mit Ölkozernen kooperieren, die einen erheblichen Teil des Gewinns kassieren, das ist erkennbar zum Nutzen der Länder, die über dieses Erdöl verfügen - in der Tat sind ja Länder wie Dubai und Katar als einzige Arabiens dabei, zumindest im konsumptiven Sektor den Anschluß an die Moderne zu finden. Daß die Armut Syriens daran liegt, daß es von den USA ausgebeutet wird, - das nachzuweisen dürfte selbst einem gewieften Dialektiker schwerfallen.



Verlassen wir also diese offensichtlich ideologisch begrün­de­ten Erklärungen. Wie steht es mit der Ansicht, der Islam sei an Arabiens Misere schuld? Der Islam sei nun einmal eine Religion, deren weltlicher Herrschaftsanspruch der Entwicklung einer modernen, auf HighTech, Demokratie und Kapitalismus basierenden Gesellschaft entgegenstünde?

Nun, der letzte Satz dürfte stimmen. Nur benennt er keine Ursache, sondern viel eher eine Folge der arabischen Misere.

Denn vor einem halben Jahrhundert "herrschte" in den meisten arabischen Ländern (zu den Ausnahmen gehörten der damalige Nordjemen und Saudi-Arabien) keineswegs der Islam. Ganz im Gegenteil: Es blühte ein panarabischer Nationalismus, der teils als Nasserismus und teils als sozialistischer Baathismus auftrat. Ausgeprägt säkular, eher kemalistisch als islamistisch. (Der Nasserismus ist Vergangenheit, aber von den beiden baathistisch regierten Staaten existiert einer - Syrien - ja immer noch, und der andere existierte bekanntlich bis 2003).

Sebastian Haffner beschrieb vor gut drei Jahrzehnten in einer seiner "Stern"-Kolumnen die damaligen Unruhen im Nahen Osten als die "Geburtswehen der arabischen Nation". Das war damals - in den späten sechziger, frühen siebziger Jahren - eine realistische Sichtweise. Es gab diverse "Vereinigte Arabische Republiken", und die arabische Einigung erwartete man in Form des Zusammenschlusses zu einer säkularen, sozialistischen Republik - nicht unbedingt nach dem Vorbild des Sowjetkommunismus; eher ein spezifisch "arabischer Sozialismus". Und als Folge einer solchen Entwicklung erschien damals der Aufstieg eines großarabischen Reichs in der Art, wie wir es heute bei China und Indien erleben, durchaus realistisch.

Eines arabischen Reichs, nicht eines islamischen oder gar islamistischen. Die Islamisten waren damals das, was sie auch schon im Osmanischen Reich und zur Kolonial- und Mandatszeit gewesen waren: Grüppchen von zottelbärtigen Extremisten, klandestin in ihren Zirkeln konspirierend, ohne politische Bedeutung. Auf der politischen Bühne agierten Sozialisten wie der Gründer der Baath-Partei, Michel Aflaq, der einer griechisch-orthodoxen Familie entstammte. Ebenso war der Gründer palästinensischen PFLP, George Habasch, griechisch-orthodoxer Herkunft. Keiner dieser Männer, die damals an die Macht drängten - ob Arafat in Palästina, ob Kassem und dann Saddam Hussein im Irak, ob Assad in Syrien, ob Abdul Fattah Ismail im Südjemen, ob Boumedienne in Algerien - war in irgendeiner Weise religiös motiviert. Sie waren Sozialisten, dachten sälukar und wollten Arabien so schnell wie möglich verwestlichen.

Der Islamismus bekam erst Gewicht, als der von diesen Revolutionären in ihrer Jugend erhoffte und von ihnen als älter werdende Staatsmänner realisierte arabische Sozialismus den Weg jedes Sozialismus ging. Die Staaten wurden immer repressiver, die Menschen verarmten, die nasseristische und die baathistische Ideologie wurden genauso zu Rechtfertigungsideologien für die Ausbeutung der Menschen durch eine Funktionärskaste wie die marxistische.

Dieser Prozeß vollzog sich überall in Arabien, wo der arabische Sozialismus Fuß gefaßt hatte. Das Ergebnis war eine explosive Mischung aus einer aufgrund der besseren Gesundheitsvorsorge schnell wachsenden Bevölkerung, einer relativ gut ausgebildeten jungen Generation, wirtschaftlicher Stagnation im günstigsten Fall, oft aber wirtschaftlichem Niedergang,totalitärer Unterdrückung und der Zerstörung gewachsener gesellschaftlicher Strukturen.

Kurz, der arabische Sozialismus zerstörte die Gesellschaft, die Wirtschaft, die Kultur, so wie der Sozialismus das von Peking bis Havanna überall getan hat. Und wie überall erzeugte er damit Gegenbewegungen: Den Aufbau des Kapitalismus in China und in den Ländern und ehemaligen Kolonien der untergegangenen UdSSR. Und in Arabien den Islamismus.

Warum tut sich Arabien so schwer mit dem Übergang zur Demokratie und zum Kapitalismus? Woher dieser seltsam rückwärtsgewandte, im Wortsinn reaktionäre Islamismus als die spezifisch arabische Reaktion auf das weltweite Scheitern des Sozialismus? Ein paar Gedanken dazu folgen im dritten Teil.



© Zettel. Links zu allen drei Folgen dieser Serie findet man hier. Titelvignette: Lawrence of Arabia, 1919 gemalt von Augustus John. In der Public Domain, da das Copyright erloschen ist.

22. September 2006

Verschwörungstheorien (6): Spiegel-Leser und Internauten

Verschwörungstheorien hat es immer gegeben. Oft hatten sie pseudoreligiösen Charakter, wie der Hexenglaube. Die modernen, im Internet kursierenden Verschwörungstheorien sind aber nicht Pseudoreligion, sondern viel eher Pseudowissenschaft.

Pseudowissenschaft? Ist das nicht zu hart? In der Tat - auf den ersten Blick könnte man fast eine wissenschaftliche Verfahrensweise sehen:
  • Eine gängige Theorie - sagen wir, daß die Landefähre "Eagle" der Mission Apollo 11 auf dem Mond gelandet sei - wird in Zweifel gezogen.
  • Es werden Daten vorgelegt, die, so wird behauptet, damit nicht übereinstimmen,
  • und es wird eine alternative Theorie vorgetragen - hier: die Bilder von der Mondlandung seien in einem Hollywood-Studio entstanden.
  • Das Für und Wider der Theorie wird dann in vielen Tausenden Internet-Beiträgen diskutiert,
  • - so, wie Wissenschaftler auf Kongressen und in Fachzeitschriften ihre Theorien diskutieren. Was ist daran falsch? Das ist das Thema des jetzigen, abschließenden Beitrags dieser Serie.



    Hans Magnus Enzensberger, damals noch ein junger, kaum bekannter Rundfunkredakteur, wurde schlagartig bekannt, als er 1957 seinen Funkdialog "Die Sprache des Spiegel" verfaßt hatte. Er wurde am 8. Februar 1957 gesendet, und schon im Heft 10 vom 6. März druckte der "Spiegel" den Text, leicht gekürzt. Zwar versehen mit ironischen Zeichnungen von Hicks, aber immerhin in großzügiger Liberalität von demjenigen Blatt publiziert, das Enzensberger gnadenlos angegriffen hatte.

    Denn gnadenlos waren sie, die Thesen, die Enzensberger - im Dialog mit einem etwas dümmlichen fiktiven Leser - über den "Spiegel" entwickelte. Die vierte und letzte lautete: "Der Spiegel orientiert nicht, sondern er desorientiert". Das begründet Enzensberger damit, daß dem Leser vorgegaukelt werde, er wisse Bescheid. "Obwohl total unwissend, erhebt der SPIEGEL-Leser den Anspruch, alles verstehen und aburteilen zu können." Das Verfahren des Magazis kläre "ihn über seinen faktischen Zustand, den der Ignoranz, keineswegs auf, sondern verschleiert ihn im Gegenteil mit allen Mitteln. Nicht Orientierung, sondern ihr Verlust ist die Folge."

    Diese Analyse scheint mir trefflich auf die Lage des heutigen Internet-Starkkonsumenten - nennen wir ihn den Internauten - zu passen. Das legendäre Archiv des Spiegel ist gewissermaßen für uns alle geöffnet worden - nein, wir haben Zugang zu einer Informationsfülle, die noch nicht einmal dieses Archiv vor dem Internet-Zeitalter auch nur entfernt erreichen konnte.

    Wir können alles in Erfahrung bringen, fast alles. Und wir verfügen andererseits in der Regel überhaupt nicht über die Voraussetzungen dazu, es angemessen zu beurteilen. "Angemessen" - das heißt so, wie es der Fachmann tut. Wie es nur der Fachmann kann, der die einzelne Information nicht at face value nimmt, sondern sie hinsichtlich ihrer Plausibilität zu bewerten weiß. Der Fachmann, der im Lauf seiner Erfahrung unscharfe, aber erfolgreiche ("fuzzy") Kriterien dafür entwickelt hat, ob etwas glaubhaft ist oder nicht. Der Fachmann, für den die einzelne Information nicht eine einzelne Information ist, sondern ein Puzzle-Stein innerhalb eines Gesamtbilds; zu bewerten sub specie dieses Gesamtbilds. Der Fachmann mit einem intuitiven Verständnis für das Bayes'sche Theorem, das es verlangt, an Daten umso höhere Ansprüche zu stellen, je mehr sie dem bisherigen Wissen zu widersprechen scheinen.



    Was Enzensberger dem Spiegel-Leser des Jahres 1957 zugeschrieben hat - daß er trotz faktischer Ignoranz den Anspruch erhebt, alles verstehen und aburteilen zu können -, das ist dank des Internet ubiquitär geworden. Und andererseits haben wir die in den vorausgehenden Teilen der Serie beschriebene Situation: Generalisierte Mißtrauen ist gewissermaßen auf der Suche danach, in gläubiges Vertrauen umzuschlagen.

    Das sind, zusammengenommen, zusammenwirkend, die Ingredienzien für die modernen Verschwörungstheorien. Es ist ein Grundmißtrauen da - gegen die Wissenschaft, gegen die Institutionen, gegen Regierungen zumal -, das auf ein schier unerschöpfliches Angebot an Informationen im Web trifft.

    Das ist eine Situation, in der das Mißtrauen nicht mehr nur eine Voraussetzung für neuen Glauben ist, sondern zugleich dessen Inhalt: Aus den im Web verfügbaren Informationen wird eine Theorie gebastelt, die das Mißtrauen einerseits erfüllt (weil Wissenschaftlern, der Regierung usw. Lug und Trug zugeschrieben wird), es andererseits aber transzendiert: Denn das in der Verschwörungstheorie konkretisierte Mißtrauen ist selbst nun der neue Glaubensinhalt.



    Was die Polizei und Scharen investigativer Journalisten nicht geschafft haben - hinter dem Mord an Kennedy mehr zu entdecken als die Tat eines Psychopathen -, das trauen sich die Internauten zu.

    Ein am Computer sitzender Buchproduzent wie Andreas von Bülow traut sich zu, entlarven zu können, wer in Wahrheit hinter dem Anschlag vom 11. September 2001 steckt. Immerhin war er mal Staatssekretär im Verteidigungsministerium; und lesen, was im Internet steht, kann er ja auch. Was er vermutet, widerspricht allen offiziellen Informationen? Ja eben, denn diese sind ja Teil der Verschwörung, sagt sich der Internaut.

    Die Mondlandung wurde in einem Hollywood-Studio gefälscht, glaubt der Internaut. Er hat sich Bilder und Videos von der ersten Mondlandung angeguckt, hat etwas über den Van-Allen-Gürtel gelesen, hat sich Gedanken über das Aussehen des Himmels gemacht, wie man ihn vom Mond aus sehen sollte, und über den Krater, den eine Mondlandefähre erzeugt. Die Schatten auf den Mondbildern - so stellt er fest, der Internaut - fallen nicht parallel, der Himmel auf den Fotos zeigt keine Sterne, die Landefähre hat keinen Krater erzeugt, die Astronauten hätten gar nicht ohne Schäden durch den Van-Allen-Gürtel fliegen können. Und so weiter. Also war die Mondlandung ein Fake.

    Alles naive Vorstellungen, wie man sie eben hat, wenn man kein Fachmann ist. Alle zurechtzurücken, wenn sich ein Fachmann wie Phil Plait die Mühe macht, das zu tun. So, wie die Spekulationen zu 9/11 von Journalisten, die wirklich recherchieren, leicht als auf grober Unkenntnis beruhend entlarvt werden können - die "noch lebenden" Terroristen entpuppen sich beispielsweise als Menschen, die zufällig denselben Namen haben. Der Spiegel hat das vor drei Jahren, zum damals zweiten Jahrestag des Anschlag, minutiös nachgewiesen.



    Werden solche Widerlegungen den modernen Verschwörungstheorien den Garaus machen? Ich halte das für unwahrscheinlich. Es geht ja bei diesen Theorien nicht nur darum, in der Art von Wissenschaftlern etwas zu beurteilen, sondern es geht immer auch um ein Verurteilen.

    Verurteilen - denn Verschwörungstheorien sind ja nicht wertfrei. Insofern gleichen auch die modernen Internet-Versionen den alten Theorien, die den Hexen, den Juden, den Freimaurern alles Übel dieser Welt zuschrieben. In den modernen Versionen sind es fast immer Institutionen der Vereinigten Staaten, denen diese Schurkenrolle zugedacht wird. Die NASA, die die Mondlandung vorgetäuscht habe. Die CIA, die hinter dem Mord am eigenen Präsidenten Kennedy stecken soll. Die US-Regierung und/oder die CIA, die gar den Mord an dreitausend eigenen Bürgern inszeniert oder geduldet haben sollen, dazu gleich auch noch einen Raketenangriff auf das eigene Verteidigungsministerium.



    Was sich darin ausdrückt, das ist nicht nur die maßlose Selbstüberschätzung von Internauten, die ihre dem Web entnommenen Wissensbruchstücke gegen das Urteil von Fachleuten setzen. Sondern es ist auch ein Haß auf diejenigen, die man als die Verschwörer sieht - eben wie in den älteren Versionen die Zigeuner, die Juden, die Freimaurer.

    Dagegen hilft, fürchte ich, keine Widerlegung.



    © Zettel. Titelvignette: Die Verschwörung des Peter Amstalden in Luzern im Jahre 1478. Abbildung aus dem "Luzerner Schilling" (1513). In der Public Domain, da das Copyright erloschen ist.

    21. September 2006

    Zettels Meckerecke: Schon wieder ein Papst-Editorial

    Das Editorial der "New York Times" zur Regensburger Vorlesung des Papstes, das ich vor einigen Tagen kommentiert habe, erschien mir damals als so etwas wie ein Ausrutscher; als eine Fehlleistung, wie sie auch einer exzellenten Redaktion unterlaufen kann. Zumal die parallelen Berichte von Ian Fisher im Nachrichtenteil absolut auf dem üblichen Niveau der NYT gewesen waren.

    Heute nun hat die NYT schon wieder ein Editorial zu diesem Thema. Titel "The Pope's Act of Contrition", des Papstes Akt der Reue. Und danach sieht es nicht mehr nach einem Ausrutscher aus. Das veranlaßt mich, schon wieder einen Papst-Kommentar der NYT zu kommentieren. Die Übersetzungen sind von mir.



    Das Editorial beginnt mit diesem Satz:
    Now that Pope Benedict XVI has expressed regret for offending Muslims in remarks he made last week, we hope Catholics and Muslims alike will put aside the pontiff's ill-considered comments and move forward in a conciliatory spirit.

    Nachdem jetzt Papst Benedikt XVI sein Bedauern darüber zum Ausdruck gebracht hat, daß er mit seinen Bemerkungen von letzter Woche Moslems beleidigt hat, hoffen wir, daß Katholiken ebenso wie Moslems die unbedachten Äußerungen des Papsts ad acta legen und sich in einem Geist der Versöhnung nach vorn bewegen.
    Hat der Papst "Reue" geäußert? (contrition ist im Englischen noch stärker als remorse, das ebenfalls Reue bedeutet; contrition ist eine tiefe, sozusagen spirituelle Reue; Zerknirschung).

    Hat der Papst sein Bedauern darüber zum Ausdruck gebracht, daß er mit seinen Bemerkungen Moslems beleidigt hat (to offend heißt auch kränken, verletzen, jemandem Leid zufügen)?

    Stimmt das also, was die Überschrift und der erste Satz dieses Editorial behaupten?



    Der Osservatore Romano bringt die offizielle englische Übersetzung der Stellungnahme des Papstes in Castel Gandolfo am 17. September. Darin heißt es (Hervorhebungen von mir):
    At this time, I wish also to add that I am deeply sorry for the reactions in some countries to a few passages of my Address at the University of Regensburg, which were considered offensive to the sensibility of Muslims. These in fact were a quotation from a Medieval text, which do not in any way express my personal thought.

    Yesterday, the Cardinal Secretary of State published a statement in this regard in which he explained the true meaning of my words. I hope that this serves to appease hearts and to clarify the true meaning of my Address, which in its totality was and is an invitation to frank and sincere dialogue, with great mutual respect. This is the meaning of the discourse.


    Jetzt möchte ich noch hinzufügen, daß ich die Reaktionen in einigen Ländern auf einige wenige Passagen meiner Vorlesung an der Universität Regensburg, die als die Empfindungen der Moslems beleidigend betrachtet wurden, sehr bedaure. Diese waren in Wirklichkeit ein Zitat aus einem mittelalterlichen Text, der in keiner Weise mein eigenes Denken ausdrückt.

    Gestern hat der Kardinalstaatssekretär hierzu eine Stellungnahme herausgegeben, in der er den wahren Sinn meiner Worte erläuterte. Ich hoffe, daß das dazu dient, die Herzen zu besänftigen und den wahren Sinn meiner Vorlesung zu klären, die in ihrer Gesamtheit eine Einladung zu einem offenen und ernsthaften Dialog mit großem gegenseitigem Respekt ist. Das ist der Sinn dieser Ausführungen.
    Am 20.9. hat der Papst noch einmal in seiner Generalaudienz zu der Regensburger Vorlesung Stellung genommen. Dort hat er gesagt (offizelle deutsche Übersetzung des Vatikans):
    Mit meinem Besuch wollte ich die Bande zwischen der Kirche in Deutschland und dem Stuhl Petri festigen; ich wollte die Menschen im Glauben an Jesus Christus stärken, den wir in der Gemeinschaft der Kirche bekennen. Ein besonderes Anliegen war es mir, das Verhältnis von Glaube und Vernunft und die Notwendigkeit des interreligiösen Dialogs sowie des Dialogs zwischen Wissenschaft und Religion aufzuzeigen. Hier bedarf es der Selbstkritik und, wie ich in München hervorgehoben habe, der Toleranz, die "die Ehrfurcht vor dem, was dem anderen heilig ist", einschließt. Mit diesen Worten möchte ich nochmals klar meinen tiefen Respekt vor den Weltreligionen und vor den Muslimen bekunden, mit denen wir gemeinsam eintreten "für Schutz und Förderung der sozialen Gerechtigkeit, der sittlichen Güter und nicht zuletzt des Friedens und der Freiheit für alle Menschen" (Nostra Ætate, 3).


    Der Papst sagt, er bedaure es, daß seine Worte mißverstanden worden seien. Und er erklärt in beiden Stellungnahmen noch einmal den Sinn seiner Vorlesung: Ein Plädoyer für Vernunft und Toleranz. That's all. Kein Wort von Reue oder Zerknirschung ("contrition"), keine Rede von Bedauern, die Moslems beleidigt zu haben ("regret for offending Muslims").

    Wer immer das Editorial der New York Times geschrieben hat - wie kann man so klare Worte nur so vollständig mißverstehen?

    20. September 2006

    Verschwörungstheorien (5): Die große Regression

    Bisher habe ich mich mit dem Hintergrund von Verschwörungstheorien befaßt: Da unser Weltwissen überwiegend nicht aus eigener Erfahrung stammt, müssen wir Quellen vertrauen; das sind in traditionellen Kulturen die Religion, die Institutionen. Das Vertrauen in diese Autoritäten als Quellen des Weltwissens ist aber in der Neuzeit durch den cartesianischen Zweifel zerstört worden. Doch haben wir diesen an wesensmäßig zweifelnde Institutionen wie Wissenschaft und freie Presse gewissermaßen delegiert. Seit dem neunzehnten Jahrhundert sind jedoch auch diese zweifelhaft geworden, und zwar aufgrund des vor allem durch den Marxismus verbreiteten generalisierten Mißtrauens, das hinter scheinbarer Erkenntnis - auch der Wissenschaften, auch der Medien - nur Interesse wittert.

    Im letzten Teil der Serie habe ich einen Vorgang beschriebenen, der einem Dialektiker Freude bereiten dürfte: Das generalisierte Mißtrauen schlägt um in ein nachgerade naives Vertrauen. Eine Haltung, die überall nur Lug und Trug wittert, ist schwer durchzuhalten; sie ist unnatürlich und im Grunde pathologisch. Folglich wurden und werden aus radikal Mißtrauischen - manchmal über Nacht, gewissermaßen an einer Kreuzung auf dem Weg nach Damaskus - Sektenanhänger, Kommunisten, Esoteriker, zu Diesem und Jenem Bekehrte. Die freigewordenen Bindungen werden wieder besetzt, Vertrauen kehrt umso intensiver zurück, je radikaler es dem generalisierten Mißtrauen geopfert worden war.

    Oft beinhaltet diese wiedergewonnene Sicherheit der Weltkenntnis Verschwörungstheorien. Warum aber gerade Verschwörungstheorien?



    Generalisiertes Mißtrauen, das nach Glauben sucht - das ist ungefähr die Situation eine Ausgehungerten, der mit einem Fünfhundert-Euro-Schein in die Lebensmittelabteilung des KaDeWe gelassen wird. Man möchte etwas haben, und man sieht sich einem riesigen, ganz unüberschaubaren Angebot gegenüber. Alles schmeckt vermutlich.

    Wissenschaftstheoretisch gesprochen: Everything goes. Das ist die Formel Paul Feyerabends, die oft so verstanden wird, daß sie dieses Lebensgefühl zugleich bedient und gerechtfertigt habe. Wenn uns das generalisierte Mißtrauen jede Sicherheit der Erkenntnis verwehrt, und wenn die menschliche Natur uns gleichwohl dazu drängt, etwas zu glauben - ja, dann ist die Auswahl groß, in der Tat. Ei, was nehmen wir denn? Darf's dieses sein, darf's jenes sein? "Ebbes Gudes werd's scho sei", wie der Frankfurter Volksdichter Friedrich Stoltze es in einem seiner unsterblichen Gedichte sagt.



    Nun ist die Geschichte der Zivilisation so verlaufen, daß wir umso weniger begreifen, je mehr wir begreifen. "Wir" - die Menschheit als Ganzes, ihre Wissenschaft als gemeinsames Unternehmen, begreifen immer mehr. "Wir", die Normalbürger, können davon immer weniger fassen.

    Wir können immer weniger davon "fassen" in dem sehr konkreten Sinn, daß wir es nicht mehr in Vorstellungen fassen können. Oder daß die Vorstellungen, in die wir es allenfalls fassen könnten, immer bizarrer werden.

    Eine Erde, die nicht flach ist, so wie wir es mit unseren eigenen Augen sehen, sondern eine Kugel - an der hängen dann also die Antipoden mit dem Kopf nach unten, offenbar festgesogen wie die Fliegen? Die Erde, die mit unfaßbarer Geschwindigkeit durchs All fliegt, darin frei schwebend wie eine Seifenblase - ja Herrgott, wer soll sich das denn vorstellen? Unsere Seele - nicht unsterblich, sondern die Funktion eines Agglomerats von hundert Milliarden Zellen? Mit dem Tod endend, so wie es mit dem Wind vorbei ist, wenn er nicht mehr weht?

    Das Licht - nichts Helles, sondern elektromagnetische Wellen in einem kleinen Bereich des elektromagnetischen Spektrums? Wellen noch dazu, die sich im leeren Raum, ohne einen Äther oder sonst ein sie tragendes Substrat, fortpflanzen? Und dann auch wieder gar keine Wellen sind, sondern Partikel? Oder vielmehr beides zugleich? Energie soll gar keine Substanz sein, sondern nur, rein funktionell, die Fähigkeit, Arbeit zu verrichten? Die wieder nichts ist als Kraft mal Weg? Das Leben - eigentlich nur Biochemie? Wo bleibt da die Lebenskraft, das Eigentliche des Lebendigen?



    Und so fort. Die Menschen haben sich allen diesen kognitiven Zumutungen nur solange gefügt, wie sie den Wissenschaften vertrauten, wie sie den Wissenschaftlern vertrauten. Wenn diese aber - generalisiertes Mißtrauen! - nur die Büttel des Kapitals sind oder derjeniger, die sich kulturelle Konstrukte ausdenken - ja, dann ist es doch viel plausibler, das wirklich Plausible zu glauben! Krankheit ist eine Störung in der Körperenergie, also kann sie der Geistheiler beseitigen. Edelsteine sind edel, Blüten sind schön - also ist es doch schön, wenn man mit Blüten und Edelsteinen heilen kann. Oder mit Verschüttlungen, in denen am besten gar nichts drin ist - also auch nichts aus der Chemie, der mißtrauten. Und die Möbel stellt man so auf, wie es die chinesische Weisheit rät.

    Das alles ist viel plausibler als die grauen Theorien der blassen Wissenschaften. Folglich glaubt man es, wenn man erst einmal das generalisierte Mißtrauen so weit getrieben hat, den Wissenschaften nicht zu trauen. Man kehrt zurück zu vorwissenschaftlichen Erklärungen. Eine große Regression.



    Und so ist es nun auch mit der Geschichte, mit der Politik. Auch da gibt es Fachwissenschaftler, die uns mit Komplexität kommen. Sie sagen uns, daß historische Prozesse hochgradig miteinander verschachtelt sind, die Resultante aus vielen Faktoren, von denen jener in die eine, dieser in die andere Richtung wirkt. Unvorhersehbar zumal, wie jedes chaotische System. Zu viele freie Parameter gibt es in einem solchen hochkomplexen System, als daß man eine Vorhersage wagen könnte. Zu groß die Wahrscheinlichkeit, daß kleine Ursachen - ein Attentat, der Ausgang einer Schlacht, die Krankheit eines Staatsmanns - riesige Wirkungen haben könnten.

    Nein, das mag und das muß der vom generalisierten Mißtrauen Genesene nicht glauben! Die Geschichte liegt, falls er Marxist ist, vor ihm wie ein aufgeschlagenes Buch: Entwicklung der Produktivkräfte, die daraus resultierenden Klassengegensätze, der daraus resultierende Lauf der Geschichte. In Abendkursen auch dem aufgeschlossenen Arbeiter vermittelbar.

    Und wer solche Kurse nicht genossen hat oder sich gegen die marxistische Wahrheit sträubt, der hat, vom generalisierten Mißtrauen befreit, gleichwohl eine reiche Auswahl: Die Geschichte, die Politik als eine Kette von Intrigen, so wie in seinem Verein oder im Mehrfamilien-Plattenbau zum Beispiel.

    Daß bei den Oberen konspiriert und intrigiert wird, was das Zeug hält, das erzählen uns die alten Mythen - wie es zuging auf dem Olymp, in Milgard; auch in der Welt des Alten Testaments. Es sind Bilder, manchmal geradezu archetypische Vorstellungen, die wir im Kopf haben - die irgendwo zusammenhockenden Verschwörer, die die Weltherrschaft planen; die Regierenden, die ihr Volk belügen und betrügen wie Hagen den edlen Siefried, die Strippenzieher auf allen Ebenenen, vom kleinen Troll bis zum großen Odin.



    Also: Die jüdische Weltverschwörung. Die Weltverschwörung der Templer, der Illuminaten, der Bilderberger, der Trilateral Commission, dergleichen. Das sind die großen, die sozusagen wie die Sagen der Edda immer weitergesponnenen Mären.

    Und dann gibt es das, was ich im letzten Teil die selbstgestrickten Verschwörungstheorien genannt habe - Verschwörungstheorien beispielsweise zum Moon Hoax, zu 9/11.

    Diese Theorien sind aufs engste ans Internet gebunden, sie sind dessen Produkt. Sie stecken voller Wissen, wie es nur das Web so zugänglich bietet. Sie basieren auf methodischem Zweifel. Sie tragen also auf den ersten Blick die Merkmale von Wissenschaftlichkeit, und sie sind doch Pseudowissenschaft.

    Was macht sie dazu? Was unterscheidet die Zweifel der Verschwörungstheoretiker, ihre Theorien von dem, was Wissenschaftler tun und produzieren? Damit wird sich der folgende und letzte Teil befassen.
    (Fortsetzung folgt



    © Zettel. Titelvignette: Die Verschwörung des Peter Amstalden in Luzern im Jahre 1478. Abbildung aus dem "Luzerner Schilling" (1513). In der Public Domain, da das Copyright erloschen ist.

    16. September 2006

    Zettels Meckerecke: Beleidigung und Toleranz

    Den gestrigen Beitrag über die Vorlesung des Papsts und die Reaktion darauf hatte ich mit einem pessimistischen Ausblick beendet:
    Und wie wird man im christlichen Abendland reagieren? Wird man diejenigen, die sich zu Unrecht erregen, in ihre Schranken weisen? Ich fürchte, viele werden das nicht tun, sondern, wieder einmal gebeugt durch the white man's burden, die Frage aufwerfen, ob es denn wirklich richtig gewesen sei, daß der Papst "die Gefühle von Moslems verletzt" habe.
    Ausgerechnet die New York Times erfüllt heute diese düstere Erwartung, ja übererfüllt sie. Nicht einfach in einem Kommentar, sondern in einem Editorial. Ein Editorial ist in amerikanischen Zeitungen ein nicht namentlich gezeichneter Kommentar, der gewissermaßen die offizielle Meinung der Redaktion wiedergibt.

    In diesem heutigen Editorial der NYT "The Pope's Words" also lesen wir als das Fazit: He needs to offer a deep and persuasive apology. Er muß eine tiefe und überzeugende Entschuldigung vorbringen.



    Sehen wir uns dieses Editorial etwas genauer an:
    There is more than enough religious anger in the world. So it is particularly disturbing that Pope Benedict XVI has insulted Muslims, quoting a 14th-century description of Islam as "evil and inhuman."
    Das Editorial findet es also "beunruhigend", daß der Papst "Moslems beleidigt" habe, indem er eine "Beschreibung des Islam" aus dem 14. Jahrhundert als "böse und inhuman" zitiert habe.

    Daran ist eigentlich nur richtig, daß der von Ratzinger zitierte Kaiser Manuel II. Palaeologos im 14. Jahrhundert lebte.

    Ansonsten
  • hat der Papst keine Moslems beleidigt - er hat über sie als Angehörige einer Religionsgemeinschaft ja gar nichts geäußert.

  • Er hat auch nicht eine "Beschreibung des Islam" zitiert, sondern eine Äußerung von Manuel II. Palaeologos über Mohammed.

  • Und dieser Autor hat ausdrücklich auch nicht Mohammed generell gekennzeichnet, sondern er hat sich zu dem geäußert, was Mohammed "Neues gebracht hat".

  • Dort finde man, sagt Manuel II. Palaeologos, "nur Schlechtes und Inhumanes". "Schlecht" mit "evil" zu übersetzen ist zumindest fragwürdig. Ich hätte es mit "bad" übersetzt. "Evil" ist "böse".

  • Und vor allem - hat sich denn Ratzinger das Zitat zu eigen gemacht? In keiner Weise. In "erstaunlich schroffer Form" spreche der Kaiser, sagt Ratzinger. Er tut als ein Professor, der eine Vorlesung hält, etwas, was man in einer Vorlesung ständig tut - er zitiert einen historischen Autor, um von ihm ausgehend seine eigene Argumentation zu entwickeln.

  • Und diese hat überhaupt nicht den Islam zum Gegenstand. Das Thema der Vorlesung ist vielmehr die Vernunft und ihre Beziehung zur Religion.


  • In dem Editorial folgen Anmerkungen zu Papst Benedikt, deren Zusammenhang mit der ihm jetzt vorgeworfenen "Beleidigung" sich jedenfalls mir nicht erschließt.

    Das Editorial erwähnt, daß Ratzinger als Kardinal gegen den Beitritt der Türkei zur EU eingetreten sei - was in aller Welt hat das mit der jetzigen angeblichen Beleidigung zu tun? Neigt jemand zum Beleidigen, wenn er eine solche Erweiterung der EU ablehnt?

    Ein doctrinal conservative (ein doktrinärer Konservativer) sei der Papst, heißt es weiter - angenommen, er ist das (was man mit Gründen bezweifeln kann): Was hat es dann mit der angeblichen Beleidigung zu tun? Neigen Konservative besonders dazu, andere zu beleidigen?



    Aber zitieren wir den ganzen Satz: A doctrinal conservative, his greatest fear appears to be the loss of a uniform Catholic identity, not exactly the best jumping-off point for tolerance or interfaith dialogue. Übersetzt: Ein dokrinärer Konservativer, scheint es seine größte Angst zu sein, daß die einheitliche katholische Identität verlorengeht, nicht gerade der beste Ausgangspunkt für Toleranz oder einen Dialog zwischen den Religionen.

    Und da nun scheint mir der Geist dieses Editorial sichtbar zu werden: Der Autor oder die Autorin sieht das Bewahren der eigenen Identität als ein Hindernis für Toleranz und Dialog an. Welche Überlegung dahintersteckt, weiß ich nicht. Aus meiner Sicht jedenfalls bedeutet Toleranz nicht, daß man sich dem anderen anpaßt, sondern daß man dessen Überzeugung - in ihrer Verschiedenheit zur eigenen Meinung - respektiert.

    Respektieren kann man aber nur, was man ernst nimmt. Und Ernstnehmen bedeutet auch Kritisieren. Die Bereitschaft zu einem Dialog, in dem man das, was man beim Anderen falsch findet, auch offen kritisiert, durchzieht die Vorlesung Ratzingers.

    Der Autor oder die Autorin des Editorial hat augenscheinlich ein anderes Toleranzverständnis. Eines, das es offenbar den Moslems nicht zumuten will, zu ertragen, daß ein Autor des vierzehnten Jahrhunderts zitiert wird.

    Eines, das es offenbar andererseits aber nicht als intolerant klassifiziert - jedenfalls findet das keine Erwähnung in dem Editorial -, daß als Reaktion auf einen Satz in einer akademischen Vorlesung der Papst in effigie verbrannt und daß gewalttätig demonstriert wird.

    Kurz - das scheint mir ein Verständnis von Toleranz zu sein, das man vielleicht in den USA "liberal" nennt, das aber mit europäischem Verständnis von Liberalität wenig zu tun hat. Einem Verständnis von Liberalität, wie es seinen Ausdruck in der berühmten Marginalie gefunden, die Friedrich II. am 22. Juni 1740 an den Rand einer ihm vorgelegten Akte schrieb. In heutiger Orthographie: "Die Religionen müssen alle toleriert werden, und muß der Fiscal nur das Auge darauf haben, daß keine der anderen Abbruch tue, denn hier muß ein jeder nach seiner Fasson selig werden".




    Ergänzende Anmerkung: Der Kommentar in der NYT, der Gegenstand dieser Beitrags ist, steht in bemerkenswertem Gegensatz zu der (wie fast immer bei der NYT) ausgewogenen und detaillierten Berichterstattung im Nachrichtenteil. Bereits am 13. September war z.B. dieser ausgezeichnete Artikel von Ian Fisher erschienen, der ausführlich über die Vorlesung informiert.
    Randbemerkung: Die Meute als Auditorium

    Beim Nouvel Observateur ist es im Augenblick der Aufmacher. Auch Spiegel-Online hat es als Aufmacher. El País hat es auf der Startseite. Der Messagero hat es an zweiter Stelle auf der Titelseite: Der Papst wird massiv, er wird lautstark von Moslems kritisiert.



    Was ist geschehen? Der Papst hat eine Abschiedsreise nach Bayern unternommen. Er war an den Stätten, die ihm einmal wichtig gewesen sind. An der Universität Regensburg, an der er lange Professor gewesen ist, hat er eine Abschiedsvorlesung gehalten.

    Ich habe sie im TV verfolgt, bevor ich sie hier auf der WebSite der FAZ noch einmal nachgelesen habe. Eine sorgfältige, durchdachte Vorlesung, beim Zuhören noch viele eindrucksvoller, als wenn man sie liest. Eine Vorlesung, die zeigt, wie sehr Ratzinger ein gelehrter Papst ist - so, wie Pacelli und Montini aristokratische Päpste waren, Roncalli ein moralischer Papst und Woytila ein Papst des Charismas.

    Ein gelehrter Papst - nein, ein Gelehrter, der es zum Papst gebracht hat, hielt diese Vorlesung. Wie es ein guter Dozent macht, schlug er nach ein paar einleitenden Sätzen sehr bald das Thema an, wenn auch fast beiläufig. Er sprach vom Verhältnis zu seinen Kollegen aus den anderen Fakultäten, damals in Regensburg, und merkte dazu an:
    Daß wir in allen Spezialisierungen, die uns manchmal sprachlos füreinander machen, doch ein Ganzes bilden und im Ganzen der einen Vernunft mit all ihren Dimensionen arbeiten und so auch in einer gemeinschaftlichen Verantwortung für den rechten Gebrauch der Vernunft stehen, das wurde erlebbar.
    Damit war das Thema der Vorlesung genannt - die Vernunft, die es ermöglicht, sich über alle Grenzen hinweg miteinander zu verständigen. Sogar mit Agnostikern, denn:
    Daß es auch solch radikaler Skepsis gegenüber notwendig und vernünftig bleibt, mit der Vernunft nach Gott zu fragen und es im Zusammenhang der Überlieferung des christlichen Glaubens zu tun, war im Ganzen der Universität unbestritten.
    Es geht also um den Dialog über Grenzen der eigenen Überzeugtheit hinweg, und Ratzinger sagt, daß er auf dem gemeinsamen Boden der Vernunft möglich ist.



    Auf diese Textstelle folgt unmittelbar diejenige, die jetzt die Medien füllt. Ich zitiere sie als Ganzes, auch wenn es ein etwas längeres Zitat wird. Der Satz, der jetzt für weltweite Aufgeregtheit sorgt, ist von mir zusammen mit seinem Kontext hervorgehoben:
    All dies ist mir wieder in den Sinn gekommen, als ich kürzlich den von Professor Theodore Khoury (Münster) herausgegebenen Teil des Dialogs las, den der gelehrte byzantinische Kaiser Manuel II. Palaeologos wohl 1391 im Winterlager zu Ankara mit einem gebildeten Perser über Christentum und Islam und beider Wahrheit führte. Der Kaiser hat wohl während der Belagerung von Konstantinopel zwischen 1394 und 1402 den Dialog aufgezeichnet; so versteht man auch, daß seine eigenen Ausführungen sehr viel ausführlicher wiedergegeben sind als die Antworten des persischen Gelehrten. Der Dialog erstreckt sich über den ganzen Bereich des von Bibel und Koran umschriebenen Glaubensgefüges und kreist besonders um das Gottes- und das Menschenbild, aber auch immer wieder notwendigerweise um das Verhältnis der "drei Gesetze": Altes Testament, Neues Testament, Koran. In dieser Vorlesung möchte ich nur einen, im Aufbau des Dialogs eher marginalen, Punkt behandeln, der mich im Zusammenhang des Themas Glaube und Vernunft fasziniert hat und der mir als Ausgangspunkt für meine Überlegungen zu diesem Thema dient.

    In der von Professor Khoury herausgegebenen siebten Gesprächsrunde kommt der Kaiser auf das Thema des Djihad (heiliger Krieg) zu sprechen. Der Kaiser wußte sicher, daß in Sure 2, 256 steht: Kein Zwang in Glaubenssachen - es ist eine der frühen Suren aus der Zeit, in der Mohammed selbst noch machtlos und bedroht war. Aber der Kaiser kannte natürlich auch die im Koran niedergelegten, später entstandenen, Bestimmungen über den heiligen Krieg. Ohne sich auf Einzelheiten wie die unterschiedliche Behandlung von "Schriftbesitzern" und "Ungläubigen" einzulassen, wendet er sich in erstaunlich schroffer Form ganz einfach mit der zentralen Frage nach dem Verhältnis von Religion und Gewalt überhaupt an seinen Gesprächspartner. Er sagt: "Zeig mir doch, was Mohammed Neues gebracht hat und da wirst du nur Schlechtes und Inhumanes finden wie dies, daß er vorgeschrieben hat, den Glauben, den er predigte, durch das Schwert zu verbreiten". Der Kaiser begründet dann eingehend, warum Glaubensverbreitung durch Gewalt widersinnig ist. Sie steht im Widerspruch zum Wesen Gottes und zum Wesen der Seele. "Gott hat kein Gefallen am Blut, und nicht vernunftgemäß zu handeln, ist dem Wesen Gottes zuwider. Der Glaube ist Frucht der Seele, nicht des Körpers. Wer also jemanden zum Glauben führen will, braucht die Fähigkeit zur guten Rede und ein rechtes Denken, nicht aber Gewalt und Drohung": "Um eine vernünftige Seele zu überzeugen, braucht man nicht seinen Arm, nicht Schlagwerkzeuge noch sonst eines der Mittel, durch die man jemanden mit dem Tod bedrohen kann".
    Es geht also auch in dieser Passage um Vernunft. Es geht um die Vernunft, mit der man "eine vernünftige Seele überzeugen" kann. Während man Menschen nicht mit Gewalt zu einem Glauben bekehren kann, den sie ablehnen.

    Und so resümiert Ratzinger denn auch:
    Der entscheidende Satz in dieser Argumentation gegen Bekehrung durch Gewalt lautet: Nicht vernunftgemäß handeln, ist dem Wesen Gottes zuwider.
    Dies ist für ihn der theologisch-philosophische Ausgangspunkt für eine fundamentale Auseinandersetzung mit dem Islam:
    Für die moslemische Lehre hingegen ist Gott absolut transzendent. Sein Wille ist an keine unserer Kategorien gebunden und sei es die der Vernünftigkeit. Khoury zitiert dazu eine Arbeit des bekannten französischen Islamologen R. Arnaldez, der darauf hinweist, daß Ibn Hazn so weit gehe zu erklären, daß Gott auch nicht durch sein eigenes Wort gehalten sei und daß nichts ihn dazu verpflichte, uns die Wahrheit zu offenbaren. Wenn er es wollte, müsse der Mensch auch Idolatrie treiben.
    Das nun ist in der Tat fundamental - fundamentaler geht es kaum noch. Ratzinger spricht damit eine grundlegende Differenz nicht nur mit dem Islam an, sondern einen Streitpunkt, der die christliche Theologie wie ein Graben durchzieht: Ist auch Gott an die Vernunft gebunden? Ratzinger sagt, in der Tradition von Augustinus und Thomas von Aquin: Ja, er ist. Und das bedeutet: Auch die Theologie hat sich dem Dialog im Licht der Vernunft zu stellen. Ratzinger sagt deutlich, wie fundamental das ist:
    Hier tut sich ein Scheideweg im Verständnis Gottes und so in der konkreten Verwirklichung von Religion auf, der uns heute ganz unmittelbar herausfordert.


    Ratzinger verfolgt dann diesen Gedanken durch die Geschichte der Theologie hindurch. Schon im Alten Testament sieht er die "Bestreitung des Mythos, zu der der sokratische Versuch, den Mythos zu überwinden und zu übersteigen, in einer inneren Analogie steht." "Mit diesem neuen Erkennen Gottes geht eine Art von Aufklärung Hand in Hand" heißt es dann. "So geht der biblische Glaube in der hellenistischen Epoche (...) dem Besten des griechischen Denkens von innen her entgegen zu einer gegenseitigen Berührung ..."

    Im nächsten, sehr detaillierten Teil der Vorlesung geht Professor Ratzinger den kirchlichen Strömungen nach, die dieser theologischen Position entgegenstanden - der Voluntarismus von Duns Scotus, das "Sola Scriptura" (allein die Schrift) Luthers, die liberale Theologie des 19. und 20. Jahrhunderts, mit der - in der Vorlesung vertreten durch Harnack - er sich ausführlich auseinandersetzt, die moderne Theorie der Enkulturation. Gegen die Harnack'sche Verwissenschaftlichung der Religion hat er einen zentralen Einwand. Er sagt im Grunde nicht, daß diese Theologie falsch sei, sondern daß sie gefährlich sei:
    Das Subjekt entscheidet mit seinen Erfahrungen, was ihm religiös tragbar erscheint, und das subjektive "Gewissen" wird zur letztlich einzigen ethischen Instanz. So aber verlieren Ethos und Religion ihre gemeinschaftsbildende Kraft und verfallen der Beliebigkeit. Dieser Zustand ist für die Menschheit gefährlich: Wir sehen es an den uns bedrohenden Pathologien der Religion und der Vernunft, die notwendig ausbrechen müssen, wo die Vernunft so verengt wird, daß ihr die Fragen der Religion und des Ethos nicht mehr zugehören.


    Das Fazit, zu dem diese Überlegungen führen, liegt auf der Hand:
    Die eben in ganz groben Zügen versuchte Selbstkritik der modernen Vernunft schließt ganz und gar nicht die Auffassung ein, man müsse nun wieder hinter die Aufklärung zurückgehen und die Einsichten der Moderne verabschieden. Das Große der modernen Geistesentwicklung wird ungeschmälert anerkannt. (...) Nicht Rücknahme, nicht negative Kritik ist gemeint, sondern um Ausweitung unseres Vernunftbegriffs und -gebrauchs geht es. (...)
    Und dann schlägt Ratzinger den Bogen zurück zum Kaiser Manuel II. Palaeologos und seinem Dialog mit dem persischen Gelehrten:
    Nur so werden wir auch zum wirklichen Dialog der Kulturen und Religionen fähig, dessen wir so dringend bedürfen. (...) Eine Vernunft, die dem Göttlichen gegenüber taub ist und Religion in den Bereich der Subkulturen abdrängt, ist unfähig zum Dialog der Kulturen. (...) Der Westen ist seit langem von dieser Abneigung gegen die grundlegenden Fragen seiner Vernunft bedroht und kann damit nur einen großen Schaden erleiden. Mut zur Weite der Vernunft, nicht Absage an ihre Größe - das ist das Programm, mit dem eine dem biblischen Glauben verpflichtete Theologie in den Disput der Gegenwart eintritt. "Nicht vernunftgemäß (mit dem Logos) handeln ist dem Wesen Gottes zuwider", hat Manuel II. von seinem christlichen Gottesbild her zu seinem persischen Gesprächspartner gesagt. In diesen großen Logos, in diese Weite der Vernunft laden wir beim Dialog der Kulturen unsere Gesprächspartner ein. Sie selber immer wieder zu finden ist die große Aufgabe der Universität.


    Ratzingers Auditorium waren Studenten und Dozenten der Universität Regensburg. Sein weiteres Auditorium waren und sind Menschen, die in der Lage sind, einen philosophisch-theologischen Text zu verstehen.

    Aber nun hat er ein weltweites Auditorium: Ein millionenfaches Auditorium von Moslems, die kein Wort seiner Vorlesung gehört oder gelesen haben, die nichts von ihrer Argumentation oder auch nur ihre Intention wissen und von denen die meisten ihr vermutlich auch gar nicht folgen könnten.

    Ihnen wird von denjenigen, denen sie als ihren Imams vertrauen, ein einziger, bewußt oder aus Dummheit falsch verstandener Satz aus der Vorlesung vorgeworfen wie dem Köter ein Stück Fleisch. Oder vielmehr: Mit dem Stück Fleisch wird vor ihnen gewedelt in der Hoffnung, daß sie wild werden und sich hinein verbeißen.

    Die Meute als Auditorium, im Zeitalter des Internet.



    Und wie wird man im christlichen Abendland reagieren? Wird man diejenigen, die sich zu Unrecht erregen, in ihre Schranken weisen?

    Ich fürchte, viele werden das nicht tun, sondern, wieder einmal gebeugt durch the white man's burden, die Frage aufwerfen, ob es denn wirklich richtig gewesen sei, daß der Papst "die Gefühle von Moslems verletzt" habe.

    15. September 2006

    Arabiens Misere (1): Wirtschaftlicher Rückstand

    Was heute Globalisierung heißt, ist im Kern die Realisierung des Traums der Linken in den sechziger, siebziger, achtziger Jahren: Des Traums von einer Welt, in der nicht mehr Europa und Amerika den "Reichtum gepachtet" haben, dazu ihre Dependancen Australien und Neuseeland sowie Japan, sondern in der dieser Reichtum sich zunehmend gleich verteilt - eingeebnet, "flat", wie es Thomas L. Friedman in seinem Bestseller "The world is flat" genannt hat.

    Dieser Prozeß begann in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg in den schon damals kapitalistischen Ländern Ostasiens - Taiwan, Hongkong, Singapur, Südkorea zum Beispiel, die inzwischen kurz vor dem Ziel stehen, zu uns aufzuschließen. Südkorea lag im Jahr 2005 mit seinem BSP pro Kopf der Bevölkerung (20400 Dollar) ungefähr auf dem Niveau von Griechenland (22200 Dollar) und weit vor beispielsweise Polen (13300 Dollar). Taiwan (27600 Dollar) lag nur noch knapp hinter Italien (29200; Daten aus dem World Factbook).

    Inzwischen haben sich fast alle anderen Ländern Asiens auf den kapitalistischen Weg zum Wohlstand gemacht. Der aktuelle Spiegel hat eine Titelgeschichte zu dieser Entwicklung, die mit dem Einzug des Neoliberalismus nach China und Indien auch diese Länder erreicht hat. Selbst das formal noch kommunistische Vietnam hat mit dem Aufbau jenes Kapitalismus begonnen, gegen den die heute dort Herrschenden vor weniger als einem halben Jahrhundert noch einen blutigen Krieg angezettelt hatten.



    Nur ein Teil Asiens ist von diesem Prozeß ausgenommen, auf eine nachgerade spektakuläre Weise ausgenommen: Der Nahe Osten, vor allem Arabien. Friedman nennt ihn im Interview mit der FAZ den "unflachsten Teil der ganzen Welt". Keine Aufbruchstimmung wie im übrigen Asien, sondern ökonomische Stagnation, politische Unfreiheit in den meisten Ländern, Radikalisierung statt Demokratisierung.

    Hier ist die Liste des BSP pro Kopf der Bevölkerung. In den Staaten ohne massive Öleinkünfte liegt es weit niedriger als in Ostasien; zwischen 893 Dollar im Jemen und beispielsweise 3556 Dollar in Syrien. Nur der Libanon macht eine Ausnahme. Er liegt mit einem Pro-Kopf-BSP von 14799 Dollar weit an der Spitze der arabischen Nicht-Ölstaaten; bis zur Invasion des Irak das einzige freie und kapitalistische arabische Land.

    Diese Daten des European Institute for Research on Mediterranean and Euro-Arab Cooperation sind überwiegend von 2000, dürften sich seither aber kaum geändert haben. Das Factbook gibt zB. für den Jemen für das Jahr 2005 geschätzte 900 Dollar an, für Syrien geschätzte 3900 Dollar.

    Wie kommt das? Woran liegt die arabische Misere?

    Man wird auf eine solche Frage selbstredend keine einfache Antwort geben können; und eine sichere, beweisbare schon gar nicht. Ich möchte aber in dieser kleinen Serie zweierlei versuchen: Erstens diejenigen Antworten nennen, die sich anbieten, von denen ich aber denke, daß sie falsch sind. Zweitens die Richtung skizzieren, in der nach meiner Auffassung die Antwort gesucht werden muß.

    Im nächsten Teil wird es zunächst um diejenige Antwort gehen, die vermutlich fast jedem sofort einfällt: Es liegt am Islam. Diese Antwort halte ich für falsch.



    © Zettel. Links zu allen drei Folgen dieser Serie findet man hier. Titelvignette: Lawrence of Arabia, 1919 gemalt von Augustus John. In der Public Domain, da das Copyright erloschen ist.

    12. September 2006

    Zettels Meckerecke
    Greller Spot

    Zu dem Verderben, das der Marxismus angerichtet hat, gehört die Verbreitung eines generalisierten Mißtrauens, was die Motive von Menschen angeht. Was immer sie an Triebfedern für ihre Entscheidungen, für ihre Handlungsweisen angeben - der Marxist weiß, daß sie in Wahrheit ihren ökonomischen Interessen folgen. Mag sein, daß die Menschen sich selbst darüber täuschen. Mag sein, daß sie der kollektiven Täuschung eines "falschen Bewußtseins", einer Ideologie, zum Opfer fallen - für den Marxisten gilt es, unter die Oberfläche zu blicken, den Schleier weg- und die Maske herunterzuziehen. Und derart die egoistischen Interessen hervorzuziehen, die - so denkt er, der Marxist, - unser Handeln bestimmen wie die Puppenspieler das Hampeln ihrer Marionetten.

    Diese Haltung des mißtrauischen Ökonomisierens ist seit der Zeit der Achtundsechziger zum Gemeingut vielleicht nicht der Deutschen geworden, aber, sagen wir, der Mehrheit der schreibenden Deutschen. Das wollen wir doch mal sehen, ist der Tenor ihrer Schreibe, welche wirtschaftlichen Interessen jemand verfolgt, wenn er sich vordergründig zu einem Sachthema äußert, wenn er gar von Werten, von Anstand, von Persönlichkeitsrechten spricht. So denkt er, der mediokre deutsche Journalist, so schreibt er.



    Vergangene Woche ist eine Auseinandersetzung an die Öffentlichkeit gelangt, die die bevorstehende Uraufführung eines Theaterstücks betrifft: Das Hamburger Thalia-Theater probt ein neues Stück von Elfriede Jelinek, von dem man Auszüge unter dem Titel "Ulrike Maria Meinhof" auf Jelineks Website lesen kann; die Uraufführung soll am 28. Oktober sein. Gegen bestimmte Aspekte dieses Stücks hat sich Bettina Röhl, eine Tochter von Ulrike Marie Meinhof, gewandt und Textänderungen verlangt.

    Das Hamburger Abendblatt zitiert Bettina Röhl über Jelinek:
    "Jelinek zerrt Meinhof als Mutter auf die Bühne und in diesem Zusammenhang auch die real lebenden Menschen in Gestalt von meiner Schwester und mir. Was Jelinek über Mutter Meinhof liefert, ist historisch, faktisch, wenn ich es so positiv als möglich ausdrücken darf, ein einziger Schmarrn. Meinhof wird irgendwie allgemein als so etwas wie Volkseigentum angesehen und diejenigen, die mit Meinhof zu tun hatten oder zu ihrer Familie gehörten, je nach Bedarf gleich mit".
    Und in einem weiteren Artikel im Hamburger Abendblatt steht dieses Zitat von Bettina Röhl:
    "Ich habe Jelinek persönlich geschrieben und ihr ausführlich den Sachverhalt, die historischen Tatsachen, die Rechte und auch die unerträgliche Perpetuierung des RAF-Mythos, den sie angeblich zerstören will, auseinandergesetzt. (...) Meinhof und auch ich sind Menschen aus Fleisch und Blut und keine Jelinekschen Kunstfiguren."
    Verständlich genug, sollte man meinen. Bettina Röhl wehrt sich dagegen, daß ihre Familie zum Gegenstand eines Stücks gemacht wird, mit dessen Tendenz sie nicht einverstanden ist.



    Bisher hat sich hauptsächlich das Hamburger Abendblatt des Themas angenommen; aber es beginnt sozusagen geographische Kreise zu ziehen. Gestern hat es die TAZ aufgegriffen, wenngleich erst in ihrer Nordausgabe. Autor oder Autorin ist ein(e) gewisse(r) PS.

    PS schreibt unter dem Titel "Greller Spot auf Mutter Meinhof":
    "Elfriede Jelinek, des Konservatismus unverdächtig, hat es also gewagt: Im Stück "Ulrike Maria Stuart" konfrontiert sie Ulrike Meinhof und Gudrun Ensslin als konkurrierende Königinnen. Im Mai hat es am Hamburger Thalia Theater eine Probe jenes Stücks gegeben, das der Tochter nun ganz und gar nicht gefällt. Sie verlangt Änderungen. (...) Den Ruf nach einer neuen RAF hört sie in Stemanns Inszenierung. Den Humus für neue Terror-Ideen sieht sie darin keimen. Und überdies ihre Persönlichkeitsrechte verletzt (...)"
    So weit, so gut; sieht man vom "keimenden Humus" ab. Aber nun kommt's. Nun kommt es so, wie MarxistInnen sich das Leben vorstellen:
    "Was motiviert Bettina Röhl, die sich Freitag zum Gespräch mit dem Thalia-Intendanten Ulrich Khuon traf, aber dann, Änderungen an Inszenierung und Text zu verlangen? Vielleicht die Lust auf Aufmerksamkeit, erzeugbar durch die virtuose Nutzung propagandistischen Bestecks. Ein geschicktes Prozedere in Zeiten, in denen wieder einmal - siehe Eva Herman - über Mutterrollen diskutiert wird. Auch der Ruf nach Wahrung der Privatsphäre ist - siehe den Prozess gegen Maxim Biller - modern und medienkompatibel."
    Nicht um ihr Persönlichkeitsrecht geht es Bettina Röhl, hoho, haha. Runter mit der Maske - und was sehen wir dann? Die "Lust auf Aufmerksamkeit", die "virtuose Nutzung propagandistischen Bestecks", ein "geschicktes Prozedere" der Publizistin Röhl, die bekanntlich gerade ein Buch über Ulrike Marie Meinhof publiziert hat.

    Schreibt PS, der (oder die) es ja wissen muß, als jemand, der (oder die) "medienkompatibel" die TAZ mit diesem Beitrag beliefert hat.



    "Nichts ist verächtlicher, als wenn Literaten Literaten Literaten nennen", hat Tucholsky geschrieben.

    11. September 2006

    Verschwörungstheorien (4): Aus der Skepsis in den Glauben

    In den ersten drei Teilen dieser Serie habe ich versucht, den Hintergrund von Verschwörungstheorien zu beleuchten:

    Erstens, unsere Kenntnis der Welt stammt überwiegend nicht aus eigener Erfahrung, sondern aus Quellen, denen wir vertrauen. In traditionellen Kulturen sind das die Institutionen, die überkommenene Sitten und Gesetze, die Religion.

    Zweitens, dieses selbstverständliche Vertrauen in das Überkommene ist in der Moderne zerstört und durch den systematischen cartesianischen Zweifel ersetzt worden, der es es verlangt, nur Nachgeprüftes zu glauben. Dieses Nachprüfen können wir aber längst nicht mehr selbst vornehmen, sondern wir delegieren es gewissermaßen - an Wissenschaftler, an eine unabhängige Justiz, an die freie Presse.

    Drittens, dieses Delegieren setzt voraus, daß wir Vertrauen in diejenigen haben, an die wir unseren Zweifel delegieren. Dieses Vetrauen ist aber seit dem Neunzehnten Jahrhundert schwer erschüttert - wurde erschüttert durch die Meister des Mißtrauens, Nietzsche, Freud und, weitaus am einflußreichsten, Marx.

    Sehen wir uns nun an, wie vor diesem Hintergrund Verschwörungstheorien entstanden und entstehen.



    Wer mit dem radikalen Mißtrauen wirklich ernst macht, der lebt sozial in einer kognitiven Welt des Lugs und Trugs. Die Wissenschaft - sie ist für ihn nichts als "bürgerliche Wissenschaft" im Dienst des Kapitals, bestenfalls eine "soziale Konstruktion"; jedenfalls weit davon entfernt, vertrauenswürdig zu sein. Die Freie Presse - alles andere als frei; die Pressefreiheit nur, gemäß der vielzitierten Formulierung von Paul Sethe, "die Freiheit von 200 reichen Leuten, ihre Meinung zu verbreiten". Auch der Presse, überhaupt den Medien kann man also nicht glauben. Recht und Gesetz - auch sie sind nur Ausdruck der "persönlichen Macht ... (der) ... Herrschende(n)"; nur Ausdruck des durch "ihre gemeinschaftlichen Interessen bedingten Willens", wie Marx in der "Deutschen Ideologie" schreibt.

    Lüge, Verschleierung, Fassade, Ideologie also, was die Instanzen der Gesellschaft angeht. Und nicht besser steht es im persönlichen, interpersonalen Bereich, wenn man neben Marx auch noch Nietzsche und Freud ernst nimmt.



    Dieser Zustand eines generalisierten Mißtrauens ist schwierig dauerhaft durchzuhalten. Er ist deshalb in der Regel so etwas wie ein Durchgangssyndrom. Die Instanzen und Personen, denen man nicht mehr traut, hinterlassen sozusagen freie Bindungen, die nach Absättigung verlangen. Und so verwandeln sich nicht selten die mißtrauischsten Skeptiker in die vertrauensvollsten Gläubigen. Nicht immer plötzlich, wie beim Damaskuserlebnis des Saulus. Aber doch sehr oft schnell und radikal. Aus Aufklärern des achtzehnten Jahrhunderts wurden staatsgläubige Jakobiner, aus russischen Nihilisten überzeugte Marxisten, aus französischen Existentialisten eifrig-ergebene militants der PCF.

    Im letzten Drittel des Zwanzigsten Jahrhunderts haben viele Angehörige der Generation der "Achtundsechziger" einen solchen Wandlungsprozeß durchgemacht. Innerhalb weniger Jahre wurden "kritische Studenten", die als Angehörige der APO (der Außerparlamentarischen Opposition) der späten Sechziger Jahre jede Autorität "hinterfragt", hinter jeder wissenschaftlichen Aussage Ideologie gewittert hatten, zu parteifrommen Mitgliedern der KPD/AO, der KPD/ML, des KBW, des KB usw., die ihre Marx- und Mao-Weisheiten unkritischer paukten als ein Firmling seinen Kleinen Katechismus.

    Andere wurden zu ebenso kritiklosen Anhängern indischer Gurus, suchten ihr Seelenheil in Aussteigersekten wie der Gemeinde des Otto Muehl, wandten sich dem Glauben an die Astrologie, das Hexentum oder die Heilkraft von Edelsteinen zu. Sie trauten der Wissenschaft nicht, aber der Pseudowissenschaft. Sie mißtrauten zutiefst den gewählten Volksvertretern in der Demokratie, liefen aber selbsternannten Führern nach wie Heidschnucken ihrem Leithammel. Sie belächelten die christliche Religion, waren aber bereit, Waldgeistern zu huldigen und bei einem Yogi das Fliegen zu lernen.



    Die Heilslehren, denen ein Teil (der vergleichsweise rationale Teil) dieser Bekehrten anheimfiel - die stalinistische, die maoistische, die trotzkistische Heilslehre - teilen mit den anderen totalitären Strömungen des Zwanzigsten Jahrhunderts einen ausgeprägten Manichäismus: Das gute Proletariat gegen den bösen Kapitalismus, die guten Arier gegen die bösen Juden, die guten Moslems gegen die bösen Ungläubigen. Damit geht einher, daß den jeweiligen Bösen Verschwörungen zugeschrieben werden - die der Weisen von Zion (der Juden, der Freimaurer usw.) gegen den aufrechten arischen Menschen, die Verschwörung der Imperialisten (der Bilderberger, der Trilateralen Kommission usw.) gegen den Sozialismus, die Verschwörung der USA und ihrer Vasallen gegen den Islam.

    Das ist die eine Variante von Verschwörungstheorien - eingebettet in mehr oder weniger ausgearbeitete Weltanschauungen oder religiöse Überzeugungen, politisch oft mächtig und also fähig, ihren Wahn blutig durchzusetzen.

    Die zweite Variante ist demgegenüber harmlos, fast könnte man sagen liebenswürdig. Auch sie geht aus Mißtrauen hervor, das in unkritischen Glauben umschlägt. Aber während die Verschwörungstheorien innerhalb der großen Ideologien sozusagen HigTech sind, haben wir es hier mit Selbstgestricktem zu tun. Mal sind es Buchautoren, die diese Art von Verschwörungstheorien verbreiten, mal entstehen sie im Internet und gedeihen und vermehren sich dort nach den Regeln des WWW.

    Sie sind eine seltsame Erscheinung, diese im Web zu besichtigenden Verschwörungstheorien, weil sie das Paradoxe, das allen Verschwörungstheorien anhaftet, auf die Spitze treiben: Just in einem Medium, das wie nie zuvor in der Menschheitsgeschichte jedem ermöglicht, sich über Sachverhalte zu informieren, blühen Theorien wie die vom Moon Hoax, die eine souveräne Mißachtung nicht nur von Sachverhalten, sondern auch des gesunden Menschenverstands erkennen lassen. Mit solchen Verschwörungstheorien befaßt sich der fünfte Teil.
    (Fortsetzung folgt)



    © Zettel. Titelvignette: Die Verschwörung des Peter Amstalden in Luzern im Jahre 1478. Abbildung aus dem "Luzerner Schilling" (1513). In der Public Domain, da das Copyright erloschen ist.

    8. September 2006

    Randbemerkung: Die geschlossenen Augen der Natascha Kampusch

    Eine junge Frau ist als Kind entführt worden und hat es geschafft, sich zu befreien. Sie war von einem Kriminellen, vermutlich einem Psychopathen, in einem unterirdischen Gefängnis acht Jahre lang gefangengehalten worden .

    Das ist ein ungewöhnlicher Kriminalfall, der alle Merkmale einer Cause Célèbre besitzt - etwas so noch nie Dagewesenes, etwas Monströses. Ein fürchterliches Schicksal. Eine junge, hübsche Frau als Opfer eines Verbrechers, der sich am Schluß selbst richtet.



    Ein solcher Fall rührt uns an, er erweckt unser Interesse. Mythen, Märchen und Sagen sind voll von derart schrecklichen Vorkommnissen; oft haben sie ihren Weg in die Literatur gefunden. Chroniken haben sie festgehalten, von denen manche späteren Sammlungen wie den Chroniques Italiennes von Stendhal und dem Pitaval als Quellen gedient haben.

    Es ist das uralte Interesse am Verbrechen, an extremen Schicksalen, das da sichtbar wird. Uralt auch in dem Sinn, daß in den überlieferten Materialien die ältesten Quellen - Hesiods Theogonie zum Beispiel - das, was Menschen Menschen antun können (und Götter Göttern), am schrecklichsten, am unverblümtesten dargestellt haben. (Jedenfalls galt das für einige Jahrtausende. Was heute an literarischen Grausamkeiten, an Horror auf DVDs angeboten wird, stellt das oft in den Schatten.)



    Unser Interesse am Schicksal der Natascha Kampusch ist vor diesem Hintergrund, wenn auch vielleicht nicht legitim, so doch jedenfalls normal, menschlich-allzumenschlich. In einer Gesellschaft, in der eine Großindustrie jedes Bedürfnis der Neugier, des Wissen- und Sehenwollens befriedigt, läßt es sich erst recht nicht unterdrücken.

    Vermutlich wird, wer diesen Beitrag liest, das Interview mit Natascha Kampusch gesehen haben, das der ORF und - zeitversetzt - RTL am Mittwoch Abend ausgestrahlt haben; mindestens in den Ausschnitten, die in jeder Nachrichtensendung auftauchten. Mein Eindruck - der ganz subjektiv ist, also sicher nicht von allen geteilt werden wird - war der von einer sympathischen, intelligenten jungen Frau, die ein eigenartig inkonsistentes Verhalten zeigte: Manchmal entspannt wirkend, manchmal extrem angespannt. Meist in Distanz zu dem, was sie durchmachen mußte; während kurzer Augenblicke aber hochemotional. Eine gewinnend spontane, fast kindliche Mimik, die doch seltsam fremd wirkte. In der Sprache reflektierend, stellenweise fast altklug. In der Erzählhaltung oft wie neben sich stehend.

    Erfahren haben wir in dem Interview im Grunde wenig. Äußerlichkeiten, ja - wie sie entführt wurde, was sie sehen und hören durfte, die "Häftlingsausführungen" in die Stadt; so muß man das ja wohl nennen. Das Eigentliche blieb ausgespart - was ihr Entführer eigentlich von ihr gewollt, welche perversen Bedürfnisse er dadurch befriedigt hatte, daß er sie als Gefangene hielt. Welche Beziehung zwischen Täter und Opfer bestand. Was ihr angetan worden war.



    Natascha Kampusch hat - das bedarf ja eigentlich keiner Erwähnung - das Recht, das jeder Mensch in einer freien Gesellschaft hat: Von sich nur das der Öffentlichkeit preiszugeben, was er selbst für richtig hält. Das gilt generell, und es gilt ganz und gar, wenn jemand ein so schlimmes Schicksal erlitten hat. Sie hat also gesagt, was sie sagen wollte. Sie hat damit unserer Neugier Genüge getan. Und sie hat verschwiegen, was sie verschweigen wollte. Das nicht zur respektieren wäre impertinent.

    Das hätte es denn also sein sollen. Das hätte es sein müssen. Aber noch mit der Sendung von RTL begann ein erbärmliches, würdeloses Nachspiel: "Experten" traten auf den Plan. In diesem und jenem Studio saß einer dieser Experten, bis hinein in die Nachrichtenstudios der Dritten Programme. Ein Diplompsychologe, ein "Polizeipsychologe", gar ein "Experte für Körpersprache". Leute, die Natascha Kampusch so wenig kennen wie wir alle, die von dem Fall nicht mehr wissen. Die sich aber - offensichtlich - Ferndiagnosen zutrauten; allein aufgrund des Interviews, das sie so gesehen hatten wie wir alle. So, als würde ein Arzt einen Menschen eine Stunde im TV sehen und danach seine internistische Diagnose stellen.



    Und was hat sich da alles ihrem diagnostischen Blick enthüllt, dem Blick der von den Sendern angeheuerten Experten!

    Frau Kampusch hat beispielsweise, wie wir alle bemerkt haben, auffällig oft die Augen geschlossen. Der eine Experte erklärte uns, das läge daran, daß in ihr "innere Bilder" abliefen. Ein anderer, in einem anderen Sender, versicherte uns im Gegenteil, mit dem Augenschließen "blende" sie "belastende Erlebnisinhalte aus". Der Experte für Körpersprache wußte gar, daß die Bilder, die in ihr aufstiegen, sich mal auf die Vergangenheit, mal auf die Zukunft bezogen. Und so fort. Ein Experte - ein leibhaftiger Psychologieprofessor - teilte uns bei RTL kraft seiner Expertenschaft mit: "Natürlich muß man damit rechnen, daß in einigen Wochen, einigen Monaten so'n Zusammenbruch kommt". Natürlich.

    Und natürlich konnte da die schreibende Zunft nicht zurückstehen. In der FAZ meldete sich Christian Geyer zu Wort, ein Leitender Redakteur des Blatts, der sich im Studium mit Philosophie, Geschichte und Germanistik befaßt hatte. Gegen seine diagnostische Tiefe verblassen die Psychologen und Körpersprachler:
    Es hat nichts Großsprecherisches, es ist kein neuer Anlauf von Deutungsbesessenheit, wenn man feststellt: Es war die Kraft der Abstraktion, mit der sie dem empirischen Desaster standgehalten und ihm endlich entkommen ist. Die Energie, sich unter dem Druck der übermächtigen, alles gefangennehmenden Umstände gedanklich von diesen Umständen zu lösen, sie zu bezwingen, auch wenn man ihnen verhaftet bleibt - diese Art Kraft muß Kampusch gemeint haben, als sie gleich nach ihrer Flucht sagte: Er, der Entführer, hat sich mit der Falschen angelegt.
    Sie muß. Dem "empirische Desaster" - vulgo dem Umstand, daß sie acht Jahre wie ein Tier gefangengehalten wurde - hat Natascha Kampusch wie standgehalten? Mit der "Kraft der Abstraktion"; was immer das heißen soll (vielleicht: Sie hat sich nicht unterkriegen lassen?). Und auch ihre Innenwelt, als ihr die Flucht gelungen war, kennt Christian Geyer:
    Was sie in den Sekunden danach in den Schrebergärten, im grünen Niemandsland zwischen Verlies und Freiheit, erlebte, waren genau die fürchterlichen Umstände, die sie in der Abstraktion immer vorweggenommen hatte.
    (Abstraktion jetzt ein anderes Wort für Phantasie?)



    Das Ärgerliche an dieser Schwadroniererei ist nicht nur, daß Leute sich irgendwas ausdenken und Geld damit verdienen, es uns als Expertenwissen zu verkaufen. Sollen sie, von mir aus.

    Das wirklich Schlimme ist die Art, wie dabei mit Frau Kampusch umgegangen wird. Sie war Opfer eines Verbrechens, sie ist dadurch zu einer öffentlichen Figur geworden. Aber was in aller Welt gibt irgendwelchen Psychologen, Körpersprachlern und Feuilletonredakteuren damit das Recht, sie sich so vorzunehmen wie ein Psychiater seinen Patienten? Über ihr Innenleben, ihre Kraft oder Schwäche, ihre Abstraktionsfähigkeit oder sonst was zu schwatzen? Kurz, sie als Objekt ihrer interpretativen Bemühungen zu behandeln, so als habe sie ihnen jemand auf die Couch gelegt?

    "Der Mensch aber ist keine Sache, mithin nicht etwas, das bloß als Mittel gebraucht werden kann, sondern muß bei allen seinen Handlungen jederzeit als Zweck an sich selbst betrachtet werden." (Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, 1785).

    7. September 2006

    Der Somst

    In diesen Tagen beginnt meine Lieblings-Jahreszeit. Sie ist keine der "Vier Jahreszeiten", sondern eine Zeit weit minderen Rangs - nur eine Zwischenzeit, eine Zeit des Übergangs. Im Deutschen heißt sie erst Spätsommer und dann, wenn sie fortschreitet, Frühherbst. Ein anderer Name ist Altweibersommer (Das ist, wie wir der Wikipedia entnehmen können, gemäß Urteil des Landgerichts Darmstadt keine ältere Damen diskriminierende Bezeichung). In England nennt man sie ganz gleichartig Old Wives' Summer. Der Indian Summer in den USA und in Canada (dort also auch Été Indien) umspannt unseren Frühherbst, ja ragt teilweise bis spät in den Herbst hinein; denn bis in den November findet man dort in bestimmten Gegenden das, was diese Zeit des Jahres ausmacht: Das spezifische Wetter, den spezifischen Zustand der Vegetation.

    Wie also diese Zeit nennen? Ich will mich im Folgenden für keinen der aufgezählten Namen entscheiden und spreche schlicht vom Somst, zusammengezogen aus Sommer und Herbst wie der Smog aus Smoke und Fog.



    Was kennzeichnet ihn, den Somst?

    Das Wetter? Ja, natürlich. Die Hitze des Sommers ist vorbei. Der Tag beginnt nicht selten mit Nebel. Dann stellt sich das ein, was die Meteorologen gern "Ruhiges Spätsommerwetter" nennen. Viel Sonne, wenig Wind. Die Schatten sind lang geworden. Der Tag beginnt spät und endet zu einer Stunde, in der man im Hochsommer noch am Strand liegen konnte.

    Dann die Vegetation. "Bunt sind schon die Wälder", wir wissen es zu singen (kennen aber zumeist nicht den Autor, einen gewissen Johann Gaudenz Frhr. v. Salis-Seewis, der das 1782 gedichtet hat). Manchmal ist es in dieser Zeit so schön wie die Neuengland-Landschaft, in der Edmund Gwenn und Shirley McLaine in Hitchcocks wunderbarem Film ihren Ärger mit Harry in den Griff zu kriegen versuchen.

    Drittens: Diese Eigenarten des Wetters und der Vegetation haben eine Bedeutsamkeit, die über solche sinnlichen Eindrücke hinausreicht. Sie werden durch den Umstand mit einem bestimmten, sagen wir, Timbre versehen, daß sie auf ein baldiges Ende hindeuten. Es wird eng mit der Zeit. Die letzten Früchte, die letzte Süße des Weins, und wer jetzt nicht behaust ist, der geht harschen Zeiten entgegen. So ungefähr sagt es der Dichter, und wir alle haben es im Kopf.

    Warum in aller Welt wird dieser schönen Zeit der Status einer vollgültigen Jahreszeit verwehrt? Warum verteilt man sie auf zwei andere Jahreszeiten, so wie Völker, denen ihr eigener Staat verwehrt wird, auf verschiedene Länder verteilt werden?

    Die Frage mag kurios erscheinen. Ja, gibt es sie denn nicht nun mal halt, die Vier Jahreszeiten?



    In welchem Sinn "gibt" es die uns vertrauten vier Jahreszeiten? Es gibt sie im Grunde nur in einem einzigen Sinn: In Bezug auf die Länge der Tage; genauer, auf ihre Änderung im Jahreszyklus. Zweimal im Jahr herrscht Tag-und Nachtgleiche. Einmal im Jahr werden die Tage wieder länger, einmal wieder kürzer. Diese vier Ereignisse definieren den Beginn von Frühling, Sommer, Herbst und Winter.

    Die vier Zeitpunkte ergeben sich aus der Neigung der Erdachse und dem Lauf der Erde um die Sonne, wie man es sich hier anschauen kann. Man kann sich anhand dieses Schemas auch leicht klarmachen, warum die Unterschiede in der Länge von Tag und Nacht in Polnähe am Ausgeprägtesten sind und zum Äquator hin abnehmen; wie hier zu sehen. Am Äquator selbst herrscht immer Tag- und Nachtgleiche. Denn egal, wo sich die Erde bei ihrem Umlauf um die Sonne befindet - der Äquator ist derjenige Breitengrad, der immer genau zur Hälfe auf der Tag- und zur Hälfte auf der Nachtseite liegt.

    Gibt es am Äquator also keine Jahreszeiten? Nein, im astronomischen Sinn nicht. Meteorologisch aber schon; es gibt die Regenzeit, die Trockenzeit, beispielsweise.

    Woraus erhellt: Wenn wir von Jahreszeiten sprechen, dann meinen wir das gar nicht im astronomischen Sinn. Täten wir das, dann würde ja der Nikolaustag in den Herbst fallen. Der Bauer würde im Märzen sein Rößlein einspannen, wenn Winter herrscht. Und die vergangene Fußball-WM hätte in ihren beiden ersten Wochen im Frühling stattgefunden.

    Wir grenzen die Jahreszeiten offensichtlich nicht so ab, wie die Astronomie es befiehlt. Wir tun es vielmehr nach Wetter und Vegetation, oft auch sehr subjektiv (für mich zB beginnt der Frühling mit den ersten Krokussen, der Sommer mit dem ersten Tag, an dem man sich unbekleidet sonnen kann).

    Wenn wir uns aber ohnehin die Freiheit nehmen, uns in diesem Punkt von der Astronomie zu emanzipieren - was verpflichtet uns dann eigentlich dazu, uns an die Heilige Zahl vier zu halten? Meine Lieblings-Jahreszeit, der Somst, könnte dann durchaus Anspruch auf jahreszeitliche Eigenstaatlichkeit erheben.

    Oder wenigstens auf einen Autonomiestatus.



    Wenn es nach mir ginge, dann gäbe es sechs Jahreszeiten: Frühling, Sommer, Somst und Winter, und dazwischen zwei Sturm- und Matschzeiten; eine vor dem Sommer (sagen wir, im April) und eine - der Herbst - zwischen dem Somst und dem Winter.

    Die Länge dieser sechs Jahreszeiten variiert von Jahr zu Jahr. Manchmal fällt eine davon auch fast ganz aus, in bestimmten Gegenden. Wie der Herbst im Jahr 2003. Da verbrachten wir den Somst in Südbaden, im Dreiländereck. Anfang Oktober war es noch warm; man lag in der Sonne. Dann fiel von einem Tag auf den anderen Schnee, und der Schauinsland präsentierte sich mit einer weißen Spitze, wie der Fujiyama.

    5. September 2006

    Verschwörungstheorien (3): Die Meister des Mißtrauens

    Mißtrauen ist etwas anderes als Zweifel. Zweifel bezieht sich auf Sachverhalte. Mißtrauen richtet sich gegen Menschen.

    Descartes, mit dessen methodischem Zweifel der zweite Teil dieser Serie begann, war keineswegs mißtrauisch. Seine Werke sind geradezu auffällig frei von Kritik an Institutionen, an überkommenen Meinungen. Das lag sicherlich zum Teil an den Bedingungen der Zensur, unter denen er publizieren mußte. Aber es entsprach auch seinem Denken: Als einer, der von sich selbst ausging und seinem Vermögen vertraute, selbst die Wahrheit zu erkennen, interessierte er sich herzlich wenig dafür, andere zu widerlegen oder gar ihnen zu mißtrauen. Darin glich er den anderen großen Selbstdenkern in der Geschichte der Philosophie - Sokrates, Augustinus, Kant, Schopenhauer, Wittgenstein zum Beispiel.



    Zweifel: Ja, und zwar gründlich. Mißtrauen: Nein. So ist es seither immer in den Wissenschaften gewesen. Jeder ernsthafte Wissenschaftler zweifelt ständig (auch an seinen eigenen Daten und Modellen); aber in einer freien Gesellschaft mißtraut er nicht seinen Kolleginnen und Kollegen. Er arbeitet unter der Prämisse, daß auch diese, wie er selbst, bestrebt sind, mit ihrer Arbeit der Wahrheit ein Stück näherzukommen. Wissenschaftler setzten voraus, daß jeder sich irren kann. Aber eben nur irren. Und daß man nicht versucht, zu fälschen, zu verschleiern, zu beschönigen oder zu vertuschen.

    Und sie setzen voraus, daß Wissenschaftler das auch können. Daß sie also nicht durch unbewußte Motive, sachfremde Einflüsse, "Zwänge" irgendwelcher Art daran gehindert werden, objektive Daten zu erheben und sie so zu interpretieren, daß man zu einer diese Daten abdeckenden, zugleich plausiblen, in sich stimmigen und möglichst einfachen Erklärung gelangt.



    Die meisten großen Philosophen des 17. und 18. Jahrhunderts sind auch Naturwissenschaftler gewesen, jedenfalls an Naturwissenschaften und Mathematik interessiert. Descartes hat unter anderem wichtige Beiträge zur Optik und zur Physiologie geleistet. Leibniz' Bedeutung für die Mathematik ist bekannt. John Locke war studierter Mediziner. George Berkeley war einer der Begründer der Optik. Kant befaßte sich - wie schon in Teil 2 erwähnt - mit theoretischer Astronomie.

    Ganz anders im 19. Jahrhundert. Hier war Schopenhauer einer der wenigen der großen Philosophen, die sich noch für Naturwissenschaften interessierten. Dann erst wieder die Neukantianer, von denen der Weg zur modernen analytischen Philosophie führt. Hegel und Fichte aber, Schelling (auch und gerade mit seiner "Naturphilosophie") und Nietzsche waren Geisteswissenschaftler. Und natürlich Marx. Ihnen ging es um den Gang der Geschichte, um die Gesellschaft, um Kunst, Literatur, Psychologie. Mißtrauen gehört, wie gesagt, in den Bereich des Sozialen. Und zwei dieser Philosophen des 19. Jahrhunderts waren die Großmeister des Mißtrauens: Nietzsche und Marx. Die beiden großen Demaskierer, die leidenschaftlichen Entlarver.

    Nietzsche sah sich als "Psychologen", und für ihn war die Psychologie die "Herrin der Wissenschaften" (so in "Jenseits von Gut und Böse"). Er wollte entlarven, aufdecken, die eigentlichen Motive hinter der Moral aufspüren. So wie - mit anderen Methoden - dann später Sigmund Freud. Marx wollte dasselbe für die Gesellschaft. Beide glaubten den Menschen nicht das, was sie behaupten. Nietzsche nicht, weil er dahinter Selbstsucht, Eitelkeit, Feigheit witterte. Marx nicht, weil für ihn die wahren Triebfedern der Menschen die ökonomischen waren, ihre materiellen Interessen. Getarnt freilich durch das "falsche Bewußtsein" der Ideologie, so wie Nietzsche unser Bewußtsein als ein Instrument des Selbstbetrugs sah.

    Nietzsche schrieb über sich, daß wohl niemals "jemand mit einem gleich tiefen Verdacht in die Welt gesehen" habe (Vorrede zu "Menschliches, Allzumenschliches"); und für Marx waren Denker nichts anderes als "... Ideologen ..., welche die Ausbildung der Illusion dieser [herrschenden] Klasse über sich selbst zu ihrem Hauptnahrungszweig machen" ("Deutsche Ideologie").



    In einer sehr breiten, zeitweise dominanten geistesgeschichtlichen Strömung sind diese beiden Varianten der Philosophie des Mißtrauens Anfang des Zwanzigsten Jahrhunderts zusammengeflossen. Auch wenn orthodoxe Marxisten und orthodoxe Freudianer einander oft nicht wohlgesonnen waren - ein Amalgam aus ihren Entlarvungsprogrammen hat einen großen Teil der Intellektuellen des Zwanzigsten Jahrhunderts geprägt, und über sie als die Transmissionsriemen die ganze Gesellschaft.

    Daß man dem, was Menschen sagen, nicht trauen darf, ist sozusagen zu einem Teil unserer Allgemeinbildung geworden. In endlosen "Beziehungsgesprächen" will man herausspüren, was eigentlich "dahintersteckt", wenn der Partner oder die Partnerin etwas an der Oberfläche Belangloses sagt. Und in der Wahrnehmung der Politik, des Wirtschaftslebens gilt es als ausgemacht, daß alles, was im Öffentlichen Raum geschieht, im Grunde eine einzige Lüge ist. "In Wahrheit", so meint man, steckten doch nur "Wirtschaftsinteressen" hinter dem, was Staatsmänner sagen und tun.

    Vor allem die weltweite Bewegung Ende der sechziger Jahre, die bei uns die der "Achtundsechziger" genannt wird, hat diese Haltung befördert, sie fast kanonisiert. Das "Establishment", die "falschen Bedürfnisse", die es uns einredet, das "Big Government", dem jede Schurkerei zugetraut wird - was bis dahin linke Intellektuelle ausgeheckt hatten, wurde nun zum Gemeingut. Die Attitüde des "mir macht keiner was vor", "ich durchschaue alle diese Lügen" ist nachgerade zur Grundhaltung vieler politisch Interessierter geworden; man braucht sich nur politische Internet-Foren anzusehen.



    Diese mißtrauische Grundhaltung ist der Nährboden für Verschwörungstheorien. Der Nährboden - aber beileibe nicht ihr einziges Motiv. Verschwörungstheorien sind ja etwas Uraltes, weit hinter Marx, Nietzsche und Freud zurückreichend. Ohne den Nährboden des Mißtrauens könnten sie nicht gedeihen. Aber es gibt Motive, die sie sozusagen in diesen Nährboden pflanzen. Um sie - um den Reiz von Verschwörungstheorien - wird es im nächsten Teil gehen.
    (Fortsetzung folgt)



    © Zettel. Titelvignette: Die Verschwörung des Peter Amstalden in Luzern im Jahre 1478. Abbildung aus dem "Luzerner Schilling" (1513). In der Public Domain, da das Copyright erloschen ist.

    4. September 2006

    Randbemerkung: Ein Kommentar zu den US-Wahlen

    "Kommentare" bestehen in den deutschen Medien meist darin, daß der Kommentator seine Meinung mitteilt. Die "Opinion"- Spalten in der angelsächsischen Presse enthalten zwar auch explizit Meinungsäußerungen, aber zentral ist bei ihnen die Darlegung, das Ordnen und Interpretieren von Fakten. Sie sind so etwas wie analytische Kolumnen.

    Ein Beispiel ist die Kolumne von Jonathan Chait in der Los Angeles Times vom 3. September "November Elections -- the Great War of '06". Chait hat - nun ja - die Idee, den jetzigen Wahlkampf mit dem Ersten Weltkrieg zu vergleichen. Nicht sehr überzeugend, aber vielleicht didaktisch ganz geschickt - seine Überlegungen gewinnen dadurch jedenfalls an drastischer Anschaulichkeit:
  • Wie der Erste Weltkrieg sei dieser Wahlkampf zwar eine umfassende Schlacht, aber diese werde auf nur wenigen Schauplätzen entschieden. Es gehe, schreibt er, beim Senat um fünf Staaten, die jetzt von den Republikanern gehalten werden und die die Demokraten ihnen abnehmen könnten: Montana, Ohio, Pennsylvania, Rhode Island und Missouri. Die Demokraten führen in den Umfragen in den ersten vier und liegen in Missouri gleichauf mit den Republikanern. Gewinnen sie diese fünf Staaten und noch irgendeinen anderen dazu - zum Beispiel Tennessee -, dann hat Präsident Bush seine Mehrheit im Senat verloren. Ebenso leicht könnte er die Mehrheit im Repräsentatenhaus verlieren, wo es auch nur um ein paar Sitze geht.

  • Die Demokraten versuchen es mit der Taktik, populäre bis populistische Kandidaten aufzustellen und dadurch den Republikaner Wähler abzujagen - in Pennsylvania Bob Casey Jr., der sogar bekennender Abtreibungsgegner ist, in Montana Jon Tester, einen bulligen, populistischen Bauern. Chait vergleicht das mit dem ersten Einsatz von Panzern im Ersten Weltkrieg. Nun ja, wie gesagt.

  • Zwischen den beiden Lagern herrsche weiterhin, wie zwischen Kriegsparteien, eine tiefe Feindschaft, schreibt Chait. Beide Parteien würden die Schlacht "apokalyptisch" sehen. Chait steht ganz auf der Seite der Demokraten. Er wünscht deren Sieg, und zwar um der Machtbalance willen. Bush habe bisher mit einem willfährigen Kongreß regiert, und damit das US-System der Balance of Powers zunehmend untergraben.



  • Gewiß richtig. Ich würde es ebenfalls begrüßen, wenn 2008 ein Demokrat Präsident würde - etwa mein Favorit, der Senator Joe Lieberman (der freilich jetzt als Independent kandidiert).

    Aber ob es gut wäre, wenn Präsident Bush jetzt - in einer hochkritischen Weltlage - mit einem vom politischen Gegner beherrschten Kongreß regieren müßte?

    Das erinnert mich denn doch zu sehr an die französische Cohabitation und die Große Koalition in Deutschland.

    2. September 2006

    Zettels Meckerecke

    Austern mit Mousse au Chocolat

    Dem Mimen flicht die Nachwelt keine Kränze. Dem Koch noch nicht einmal die Mitwelt. Jedenfalls in Deutschland, jedenfalls bis vor zwei, drei Jahrzehnten.

    Jetzt aber sind wir Deutschen auch kulinarisch auf dem Weg zur Westqualität. Im TV sind Kochsendungen so zahlreich wie Sendungen über das Leben im Zoo und Serien, in denen Angehörige bildungsferner Schichten ihren Seelenmüll auskippen.

    Und folglich haben wir eine, sagen wir Kochliteratur. Produziert von Journalisten, die restaurantkritische Bücher schreiben und Zeitschriftenartikel. Was einmal Pioniere wie Gert von Paczensky und Wolfram Siebeck begonnen hatten, das ist sozusagen zur Massenbewegung geworden und hat auch bereits eine Berufsbezeichnung hervorgebracht: Den - so lesen wir in der Wikipedia - Gastro-Journalisten.

    Diesen mir bisher unbekannten Begriff entnehme ich dem Wikipedia-Artikel über Jürgen Dollase. Und zu diesem bin ich gelangt, weil ich etwas über diesen Gastro-Journalisten erfahren wollte. Das wiederum wollte ich, weil ich in der aktuellen FAZ den Artikel von ihm gelesen habe, über den ich jetzt meckern werde.

    Ich habe weder die Meinung von Jürgen Dollase zu beanstanden, noch scheint mir, daß er irgend etwas geschrieben hat, was nicht stimmt. Sondern ich möchte den Blick auf etwas richten, das zu kommentieren oder überhaupt zu beachten manchen vielleicht altmodisch vorkommt: Seinen Stil.

    Würde ein Chef so kochen, wie Dollase schreibt, dann gäbe es bei ihm Austern aus der Bretagne, garniert mit Mousse au Chocolat und überzogen mit Frankfurter Grüner Soße.



    Harte Worte? Ja. Kann ich das auch beweisen? Ja. Ich habe mir einige seiner Gerichte vorgenommen und versucht, die Austern unter der Garnierung hervorzuziehen. Es folgt jeweils eine Passage aus seinem Artikel und meine Version. Dollase in schwarz, meine Version in blau:
    Die Bewertungen in den Restaurantführern hinterlassen den Eindruck einiger systembedingter Unschärfen. Die Noten suggerieren ein gleiches Niveau für alle betroffenen Restaurants gleicher Bewertung (etwa: neunzehn Punkte im Gault Millau), was aber weder de facto nachvollzogen werden kann noch in den Redaktionen der Führer tatsächlich so gesehen wird.

    Die Bewertungen in den Restaurantführern liefern nur grobe Kategorien, nämlich Sterne oder Punktzahlen. Das wissen sogar die Redaktionen dieser Führer.

    Natürlich gibt es dort Diskussionen darüber, ob man eine Note noch aufrechterhalten kann oder abwerten muß, natürlich gibt es schwächere und stärkere Drei-Sterne-Häuser. Unschärfe stiftet der menschliche Faktor, der durchaus verhindert, daß man verdienten Altmeistern die Note kürzt. Auch am Sitz der jeweiligen Führer geht es anscheinend immer etwas milder zu. Vor allem aber produzieren die Führer keine wirkliche Reihenfolge, versagen also dem in diesem Sektor besonders an Zahlen interessierten Publikum die Auflösung im ewigen Suchspiel. In diese Bresche springen diverse Rankings, die in der Regel die Bewertungen der Führer nach einem bestimmten Schema umrechnen und auf diese Weise zu einer Gesamtrangliste kommen.

    Man diskutiert über Auf- und Abwertungen, wobei renommierte Köche und Häuser in der Nähe des Verlagsorts oft besser wegkommen. Eine Kategorisierung ist aber nun einmal kein Ranking. Deshalb haben andere auch Rankings veröffentlicht.

    (...)

    Um die These zu überprüfen, daß es sich bei den Wertungen zwar um veröffentlichte, aber im Detail nicht vollständig präzise Angaben handelt, hat diese Zeitung rund dreißig Verantwortliche des Führergewerbes sowie wichtige Kenner der Materie (...) gebeten, eine Reihenfolge ihrer persönlichen Top ten zu erstellen, auf Wunsch anonym. Die weitgehend kompletten Antworten ergeben nicht nur ein deutlich stärker differenziertes Bild, sondern auch deutlich feststellbare Trends hinsichtlich einzelner Restaurants wie stilistischer Präferenzen.

    Auch die FAZ wollte ein Ranking erstellen und hat dazu rund dreißig Fachleute um ihre - auf Wunsch anonyme - Bewertung gebeten. Die meisten haben geantwortet, so daß wir statt einer Kategorisierung jetzt ein Ranking haben. Es zeigt auch, daß die Befragten bestimmte Kochstile bevorzugen.

    (...)

    Die möglichen Folgerungen aus diesen Einschätzungen sind schwierig zu bewerten, weil, wie gesagt, eine individuelle Meinung die eine Sache ist, die Druckfassung aber anderen Gesetzen unterliegt. Die Prognosen für einzelne Köche könnten dennoch gewisse Vorzeichen für Veränderungen sein. Sollte die vorhandene Grundstimmung zugunsten individueller und/oder kreativerer Küche dazu führen, daß sich eine entsprechende Hausse bildet und in der Folge wesentlichere Umstrukturierungen bei den Bewertungen erfolgen?

    Zwischen dem, was die Fachleute denken und dem, was sie schreiben, gibt es vermutlich Unterschiede. Aber wer weiß - vielleicht haben sie Recht damit, daß demnächst originelle Köche besonders erfolgreich sind?

    Die zwar handwerklich beachtliche, aber oft redundant exekutierte Spitzenküche ist heute einem vielfältigen Druck ausgesetzt, der sie in absehbarer Zeit entweder in der Versenkung einer Generationenküche verschwinden lassen könnte oder sie zwingen würde, sich wesentlich stärker als je zuvor beständig und neuerlich zu beweisen. Aber - dies sind eben nur Meinungen hinter den Kulissen.

    Ein Schelm also, wer Böses dabei denkt.

    Text: F.A.Z., 02.09.2006, Nr. 204 / Seite 36

    Die heutigen Köche verstehen ihr Handwerk, aber sie kochen langweilig. Das ärgert die Gäste, und deshalb wird es entweder abwärts mit ihnen gehen, oder sie müssen sich etwas Neues einfallen lassen. Sagt man jedenfalls außerhalb der Öffentlichkeit.

    Ein Schelm, wer diese Trivialitäten zu einem Artikel aufbläst wie den Eischaum zum Soufflé.

    Text: Zettel, 02.09.2006


    Das Ranking ist übrigens ganz interessant. Der Artikel in der FAZ also lesenswert.