15. März 2020

COVID-19. Münsterland. Geerdet



Der heutige Tag, Sonntag, der 15. März, wird in diesem fortlaufenden "Tagebuch des Seuchenjahrs" (um den Titel von Daniel Defoes halbfiktionalisierter aber faktengesättiger Schilderung der Pestepidemie in London 1665 ans dem Jahr 1725, A Journal of the Plague Year, anklingen zu lassen) als der Tag verbucht, an dem die deutsche Politik, salop ausgedrückt, "geerdet wurde" - als den nominell Verantwortlichen klar wurde, mit was wir es hier zu tun haben, daß die Reaktionen in der Nachbarstaaten nicht übertrieben sind und daß das bisherige: "es ist ja nur eine Art Grippewelle", "Grenzen können das sowieso nicht aufhalten", "wir sind gut aufgestellt!" und "nun ist es halt da!" nur ein Ausdruck der Hilflosigkeit, des Nichtstun und der brandgefährlichen Verantwortungslosigkeit darstellen. Heute hat die österreichische Regierung einen Lockdown über das Land verhängt - im an Norditalien angrenzenden Bundesland Tirol sogar im strikten Sinn einer flächendeckenden Ausgangssperre. Wie Bundeskanzler Kurz heute morgen in der Sondersitzung des österreichischen Parlaments erklärte:

Es gibt nur mehr drei Gründe, um das Haus zu verlassen:
1. Berufsarbeit, die nicht aufschiebbar ist.
2. Dringend notwendige Besorgungen, wie Lebensmittel.
3. Anderen Menschen helfen, weil sie es selbst nicht können.

Ab dem frühen Morgen werden auch von deutscher Seite aus die Grenzen zu bislang fünf Nachbarstaaten gesperrt - zu Dänemark, Belgien, Luxemburg, Frankreich und der Schweiz (auch wenn bislang als Regelung gilt, daß Pendler von davon nicht betroffen sind). Frankreich hat gestern abend einen weitgehenden Shutdown über das Land verhängt. Die drei baltischen Staaten haben heute ihre Grenzen für Einreisen aus dem Ausland gesperrt. Die Philippinen haben einen Shutdown über das Land verhängt; die Hauptstadt Manila ist von bewaffneten Polizeikräften abgeriegelt worden. Südkorea hat die am meisten von der Epidemie betroffenen Regionen zu "besonderen Katastrophenzonen" erklärt; der Felsendom und die Al-Aksa-Moschee auf dem Tempelberg in Jerusalem sind geschlossen worden; Großbritannien plant die Schutzisolierung von Senioren.

Die gesamten registrierten Fallzahlen der Epidemie belaufen sich heute, mit dem Stand von 22:30 Uhr MEZ, auf 169.211 (daß dies eine erhebliche größere Zahl von Nichtregistrierten, milden, aber nicht auf den Erreger getesteten Erkrankungen und die sogenannten "asymptotischen" Fälle, die keine Symptome entwickeln nicht einschließt, die Dunkelziffer hier also um ein Vielfaches höher liegt, gilt es immer im Hinterkopf zu behalten); davon sind bislang 6492 gestorben; und 76.615 haben sich davon erholt. In Italien ist in den letzten 24 Stunden die Zahl um 359 Personen auf insgesamt 24.717 angestiegen; in Deutschland um 1214 auf jetzt 5813. (Spätestens zur Wochenmitte werden wir also in Deutschland eine fünfstellige Fallzahl registrieren.)


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Der Regierungsbezirk Münster meldet, mit dem Stand von 17:00, für heute 378 Infektionen (gegenüber 310 vor 24 Stunden; um 16:00 stand die offizielle Zahl noch bei 318); im Münster selbst stieg die Zahl in den letzten 24 Stunden von 43 auf 57; im Kreis Borken von 45 auf 80 und im Kreis Steinfurt von 49 auf 64.


(Die Grafik macht die Entwicklung im Regierungsbezirk Münster augenfällig. Zur Zeit registrieren wir eine Verdoppelung der Fallzahlen in jeweils 72 Stunden.)

Im Münster wurde heute die Schließung aller Kinos angeordnet; auch der Allwetterzoo, der schon gestern seine Tierhäuser für den Publikumsverkehr gesperrt hatte, hat ab dem morgigen Montag komplett geschlossen. Das Bistum Münster hat gestern sämtliche Gottesdienste auf vorerst unbegrenzte Zeit ausgesetzt. In der kleinstädtischen Umgebung, aus der ich hier berichte, werden ab morgen zwei Container auf den Gelände von Kliniken eingerichtet, in denen man sich - strikt erst nach ärztlicher Anweisung - auf die Infektion testen lassen kann: am Mathias-Spital in Rheine und am Marienhospital in Borghorst. Der Kreis Steinfurt such ab heute dringen nach "Spontanhilfen," also freiwilligen Helfern, um, ich zitiere: "bestimmte Infrastrukturen aufrecht zu erhalten". Der Regionalverkehr der Deutschen Bahn wird im Lauf der Montag oder Dienstag eingeschränkt werden; im Zug dieser Maßnahmen will die Bahn auf Fahrscheinkontrollen verzichten, um das Bahnpersonal nicht unnötigen Risiken auszusetzen.

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(Ein persönlicher Einschub: Fühle ich mich in irgendeiner Weise, persönlich, durch die Entwicklung, die sich hier abzeichnet, bedroht? Die ehrliche Antwort ist: nein. Bislang noch nicht. Ich sehe Einschränkungen auf mich zu kommen. Ich rechne fest mit einem zumindest mittleren "Lockdown" im Lauf der nächsten Woche, zumindest aber bis Mitte der nächsten Woche, also in den nächsten 10 Tagen. Zumindest für Nordrhein-Westfalen als größtem Cluster in Deutschland; aber auch für Baden-Württemberg, das heute vom mehr als 250 Fälle auf 856 gestiegen ist. (Stuttgart verzeichnet heute 150 Fälle.) Ich sehe die exponentielle Zunahme zwar, aber die Entwicklung bleibt, bislang zumindest, seltsam bleich, abstrakt. Ich gehöre keiner Risikogruppe an, auch wenn knapp oberhalb meiner Alterskohorte die Gefährdung signifikant, aber immer noch gering, anzusteigen beginnt. Die Zahl meiner Sozialkontakte ist auch schon "im Normalfall" höchst überschaubar; meine Lebensführung bescheiden. Ich vertraue darauf, daß es der Verwaltung vor Ort im Fall-des-Falls gegeben ist, massiv beschränkte Ausgangsbedingungen zum Behuf des Fouragierens zu planen und zu kontrollieren. Aufgrund einer zweifachen Augenoperation rund um den verflossenen Jahreswechsel weiß ich, daß ich mit keiner indizierten Vorbelastung angeben kann. Sollte ich die nächsten Wochen oder gar Monate im Hausarrest verbringen müssen, sei es nun als Bewohner des "Kalifats Westfalistan" oder als positiv Getesteter, kann ich frivol Harry Rowohlts Befund zitieren (nachdem ihm die Diagnose "zystische Fibrose" gestellt worden war; insofern gebe ich zu, daß dies durchaus unangemessen ist): "Dann muß ich als lebenslanger Stubenhocker nicht groß umschulen!")

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Für Italien, dem am schwersten betroffenen Staat in Europa, gibt es ab heute eine statistische Ausdifferenzierung der täglichen Statistik nach den einzelnen Regionen.


Sehr handgreiflich sind die Effekte eines frühen und konsequenten "social distancing" an diesem Beispiel zu sehen: Lodi hatte seinen ersten Corona-Fall am 23. Februar und hat schnell Einschränkungen erlasen; Bergamo hatte seinen ersten Fall zwei Tage später und hatte wesentlich länger mit Maßnahmen gezögert.




Dr. Eric Feigl-Ding, dessen Hinweise und Verlinkungen sich während der letzten Wochen als eine der besten und fundiertesten Quellen im Hinblick auf den Stand der medizinischen Erkenntnisse im Sachen Sars-CoV-n und COVID-19 erweisen haben, hat heute auf eine Erhebung verwiesen, die einen beunruhigenden Faktor, anhand der Anaylse des Ausbruchs in Südkorea, ermittelt hat - daß zwar die Ausbildung schwerer und schwerster Symptome der bisher ermittelten Altersstruktur unterliegt (mit Betroffenen unter 60 Jahren in zu vernachlässigender Menge), daß es aber scheint, als sei die Gruppe im Alter zwischen 20 und 29 Jahren - die auch die sozial aktivste darstellt, und die am wenigstens geneigt scheint, ihre "sozialen Aktivitäten" auf möglicherweise Monate hinaus drastisch einzuschränken, zur Hauptgruppe derer zählen, die zur Verbreitung des Virus beitragen.


(Die Studie, auf die sich Dr. Feigl-Ding bezieht, kann hier eingesehen werden.)

Zudem hat er heute auf seinem Twitter-Feed darauf hingewiesen, daß es fahrlässig sein könnte, auf eine "Herdenimmunität" zu setzen (wie es Frau Merkel und ihre Entourage mit ihrer Ankündigung, "40 bis 70 Prozent werden infiziert werden" getan hat): erst wenn eine erfolgreiche, getestete Impfung, ein Vakzine zur Verfügung steht, sollte dergleichen in Betracht gezogen werden; ansonsten sehen wir uns dem unkalkulierbaren Risiko eines Massensterbens (unter der Kohorte der Älteren) bei zweifelhaften Effekt gegenüber.

Zudem hat er heute die folgende Darstellung gepostet, die nahelegt, daß auch bei restriktiver Handhabung eines "Lockdowns" - also praktisch eines Hausarrests für die gesamte Bevölkerung einer Provinz oder eines Landes (die Gesamtbevölkerung von Frankreich sowie Italien kommt der Einwohnerzahl der Provinz Hubei ziemlich nahe) - der Effekt länger auf sich warten lassen könnte und die Isolation entsprechend länger aufrecht erhalten werden müßte.


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Eines dürfte mittlerweile klar sein - und diverse Kommentatoren der "Gegenöffentlichkeit", der Netzgemeinde, darunter auf Tichys Einblick, haben heute darauf verwiesen: Frau Merkels Sturheit, die Grenzen zu schließen, das Land effektiv "dicht zu machen", verdankt sich keiner fachkundlicher Einsicht: sie ist das schlichte Resultat des Fehlers, ihre Politik im Herbst 2015 an den so kindischen wie fahrlässigen Befund zu binden, "Grenzen könne man nicht schützen", ausgefaltet in die Ankündigung, man könne, was in der Welt vorgehe, nicht aus dem eigenen Land fernhalten, und dergleichen  sei in keiner Weise wünschenswert. Mit diesem historisch ignoranten wie brandgefährlichen Motto ist ihre Politik (wenn man sie so nennen möchte, den in Wirklichkeit handelt es sich um eine Negierung allen politischen Handelns) seitdem verknüpft. Alle ihre Bemühungen in den letzten fünf Jahren liefen darauf hinaus, damals "richtig gehandelt zu haben". Das Virus erweist nun handgreiflich, und zwar in Gestalt eines Flächenbrandes, die Torheit, die mörderische Idiotie, dieses kindischen Dezisionismus. Seit Ende 2015 haben sich viele kritische Beobachter, die in den Monaten davor ob des völligen Versagens und der totalen Verantwortungslosigkeit dieser Regierung das Entsetzen gepackt hat, wann die Folgen dieses Narrenkollektiv  heimsuchen werden. Die Frage ist beantwortet: Merkel & Co. sind mit ihrem letzten Komplettversagen in die Zielgerade eingebogen. Niemand weiß, wie lange die Bewältigung dieser Krise dauern wird, niemand kann zum gegenwärtigen Zeitpunkt auch nur ansatzweise vermuten, welchen Preis dieses Land, diese Gesellschaft, dafür zahlen wird. Nur eins ist sicher: dies ist nicht "das Ende der Menschheit". Es werden Mittel, Verhaltensweisen, Impfstoffe, soziales Verhalten entwickelt, erfunden, ausprobiert und implementiert werden, die dem ein Ende setzen. Was sich aber abzeichnet ist: Der Preis wird hoch sein. Immens. Und danach wird unsere Gesellschaft eine andere sein. Der Zeitgeist, der hier in Deutschland in den letzten Jahren sich an absolut irrealen, schlichtweg erfundenen "Problemen" - sei es die "Klimakatastrophe", sei es die "Gefahr von rechts" (die "Nazis" hinter jedem Busch wittert), sei es die "Bedrohung" durch vorgeblichen "Rechtspopulismus", in Gestalt von Politikern wie Boris Johnson, Donald Trump, Matteo Salvini oder Viktor Orban, durch Nationalismus jeglicher Couleur, die unsägliche dekadente "Genderpolitik": all dies wird jetzt durch eine tatsächliche Bedrohung als das deutlich, was es ist: Luxus-Zeitvertreibe, die sich gegenüber realen Krisen als blind erwiesen haben. Nur Realitätssinn, Empirie, Wissenschaft, das Lernen und die knallharte historische Erfahrung und die Bereitschaft zu schmerzhaftem und konsequentem Handeln werden zur Bewältigung dessen, was gerade erst in diesem Land, auf diesem Kontinent losgebrochen ist, beitragen.

Frau Merkel und das Projekt, wofür sie steht, die "EU" als säkulares Heilsprojekt - als Ersatz für eine nüchterne nationale Politik, die sich mit der Wirklichkeit befaßt, die zu entschlossenem Handeln, mit Augenmaß und wenn nötig, Rigorosität, versteht, die dazu fähig ist: sie sind Geschichte. Und mit dem heutigen Tag darf man sicher sein, daß sie es auch wissen.



PS. Für Seattle gibt es in diesen beiden Twitter-Einträgen heute einen kleinen Blick in die Realität des Gutaufgestelltseins jenseits unserer Grenzen.

Scott Mintzer Scott_mintzer
They are also at the point of having to ration some kinds of care. For the most severely ill patients, there's a machine called ECMO - extracorporeal membrane oxygenation - whih is basically like an external lung that oxygenates blood when the patient's lungs won't work. /6

Scott Mintzer Scott_mintzer
Seattle has 12 machines, which is less than what's needed. So a centrl committe there is deciding: you can't go on ECMO if you're >40 yrs old, if you have another organ system failing, or...incredibly...if your BMI is >25. Turns out these are all major poor prognostic signs. /7

https://twitter.com/scott_mintzer/status/1239290396158681095?fbclid=IwAR0KmXUPqPSh3EvRTEjormFzqkSxFf6vVGt63ZQ7iOowDsoOV_yEGuctLb8

Zur Erinnerung: Ein gutes Viertel der 20% aller Infizierten, die schwere Symptome entwickeln, benötigt künstliche Beatmung. In Italien ist dieser Anteil auf 11% aller Fälle gestiegen.


PPS: Noch während ich diese Zeilen geschrieben habe, hat Ministerpräsident Söder für das Bundesland Bayern den Katastrophenfall ausgerufen. (Dies gilt für zunächst 14 Tage und umfaßt "die Schließung aller nicht systemrelevanten Geschäfte".)







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U.E.

© Ulrich Elkmann. Für Kommentare bitte hier klicken.