Die jüngste
Kopftuch-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ist in frei zugänglichen Internet-Fachpublikationen
auf zum Teil heftige Ablehnung gestoßen. Dass im deutlich links positionierten
Verfassungsblog drei Artikel ihr Unbehagen mit dem betreffenden Beschluss (vom 14. Januar 2020, 2 BvR 1333/17) zum Besten geben (Steinbeis; Mangold; Sandhu),
mag nicht besonders verwundern. Größere verbale Vehemenz findet sich indessen
in einem Gastbeitrag des Lehrstuhlinhabers für Öffentliches Recht der
Universität Bonn, Klaus F. Gärditz, für die Legal Tribune Online. Der Ordinarius aus der ehemaligen Bundeshauptstadt sieht in
der Stellungnahme aus Karlsruhe letztlich den „verkrustete[n] Provinzialismus
der Berliner Republik“ am Werk. Irgendwann würde dieser Beschluss auf kaltem
Weg entsorgt werden, weil er „zu peinlich geworden“ sei.
Mich überzeugen die
vorgetragenen Kritikpunkte ebenso wenig wie das Sondervotum des Richters
Maidowski und die – tatsächlich nicht durchwegs stimmige – Begründung der
Senatsmehrheit.
*
**
Zutreffend ist, dass das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung – und das kann man begrüßen oder beanstanden – Ausführungen getroffen hat, die weit über den Anlassfall hinausreichen. Die verfahrensgegenständliche, – meines Erachtens zutreffenderweise – zurückgewiesene Verfassungsbeschwerde betraf nämlich die an eine (inzwischen ehemalige) hessische Rechtsreferendarin adressierte Untersagung, bei hoheitlichen Handlungen mit Publikumskontakt ein Kopftuch zu tragen. Dieses Verbot stützte sich auf einen ministeriellen Erlass, mit dem die Rechtsgrundlage des mit dem Wort „Neutralitätspflicht“ überschriebenen § 45 des Hessischen Beamtengesetzes (HBG) konkretisiert wurde, welcher lautet:
1Beamtinnen und Beamte haben sich im Dienst politisch, weltanschaulich und religiös neutral zu verhalten. 2Insbesondere dürfen sie Kleidungsstücke, Symbole oder andere Merkmale nicht tragen oder verwenden, die objektiv geeignet sind, das Vertrauen in die Neutralität ihrer Amtsführung zu beeinträchtigen oder den politischen, religiösen oder weltanschaulichen Frieden zu gefährden. 3Bei der Entscheidung über das Vorliegen der Voraussetzungen nach Satz 1 und 2 ist der christlich und humanistisch geprägten abendländischen Tradition des Landes Hessen angemessen Rechnung zu tragen.
Gemäß § 27 Abs. 1 Satz 2
Hessisches Juristenausbildungsgesetz gilt diese Norm „entsprechend“ für die in
einem öffentlich-rechtlichen Ausbildungsverhältnis stehenden Rechtsreferendare.
Der einschlägige ministerielle Erlass formulierte zunächst ein Kopftuchverbot für
Gelegenheiten, bei denen Rechtsreferendarinnen als Repräsentantinnen der Justiz
oder des Staates wahrgenommen werden (können), worunter das Platznehmen auf der
Richterbank, die staatsanwaltschaftliche Sitzungsvertretung und – grob
gesprochen – das Leiten von Verhandlungen zu verstehen seien. In einer neuen
Fassung des Erlasses wurde im Unterschied zur ursprünglichen Version
angeordnet, dass Rechtsreferendare, die nicht bereit sind, ihr Verhalten an der
Neutralitätspflicht auszurichten und die deshalb die genannten
Ausbildungsleistungen nicht erbringen können, dafür nicht negativ bewertet werden
dürfen.
Richter Maidowski macht –
durchaus zutreffend – darauf aufmerksam, dass der Fall eines Rechtsreferendars
von jenem eines Richters oder Staatsanwalts zu unterscheiden ist. Aufgrund des
staatlichen Monopols in der Juristenausbildung ist das Rechtsreferendariat
nämlich auch Zugangsvoraussetzung für die (freiberufliche) Tätigkeit als
Rechtsanwalt oder Notar beziehungsweise muss es von all jenen absolviert
werden, die aus welchen Gründen auch immer, zum Beispiel wegen besserer Chancen
auf dem Arbeitsmarkt, die zweite juristische Staatsprüfung ablegen wollen. Es
stimmt, dass die Senatsmehrheit auf die – sit
venia verbo – Alternativlosigkeit des juristischen Vorbereitungsdienstes
für prospektive Volljuristen nicht ausreichend eingeht, sondern letztendlich
schon vorgreifend über das Kopftuchtragen bei Richterinnen (und
Staatsanwältinnen) entschieden hat. Dies dürfte der eigentliche Grund für die
Verbitterung der linken Kritiker sein.
Der von Maidowski
befürwortete Lösungsansatz, nämlich ein deutlicher Hinweis an die Verfahrensparteien, dass die
Rechtsreferendarin noch keine ernannte Richterin oder Staatsanwältin, sondern
eine Auszubildende sei (Sondervotum, Randnummer 21), entfaltet jedoch nur auf
den ersten Blick einen gewissen Charme: Denn zum Beispiel bei der
staatsanwaltschaftlichen Sitzungsvertretung – das heißt: ein Kollege des sachbearbeitenden
Staatsanwalts verrichtet eine Verhandlung, was in der Praxis häufig einen nur
unzureichend mit dem Akteninhalt vertrauten Ankläger bedeutet – ist in aller
Regel kein Ausbilder zugegen, der den Referendar beaufsichtigt. Gestellte
beziehungsweise nicht gestellte Anträge des Sitzungsvertreters können im
Nachhinein nicht samt und sonders saniert werden. Freilich: Die meisten
Referendare werden aus Sorge um ihre Benotung nicht vorsätzlich etwas falsch
machen. Aber ex post lässt sich meistens auch nicht feststellen, ob eine
mangelhafte Verhandlungsgestion auf Unvermögen oder einem bewussten
Willensentschluss beruhte.
Situationen, in denen ein
Ausbilder neben dem Referendar sitzt und in dessen Tätigkeit sofort
korrigierend eingreifen kann, mag man anders beurteilen. Im Ergebnis führt
Maidowskis Vorschlag jedoch dazu, die von Referendaren durchgeführten
Amtshandlungen, aber auch deren Adressaten nicht ernst zu nehmen. Durchaus
zutreffend argumentiert die Senatsmehrheit damit, dass „die justiziellen
Grundbedingungen auch dann gelten, wenn der Staat Aufgaben zu
Ausbildungszwecken überträgt“ (Beschluss, Randnummer 104). Wenn man in
Ausbildung befindliche Juristen von der Neutralitätspflicht entbindet, weil sie
ja nur Lehrlinge seien, die später vielleicht gar nicht in den Staatsdienst
treten wollen, so schafft man einen Raum, in dem hoheitliches Handeln nicht
mehr an den sonst geltenden strengen Maßstäben gemessen wird. Insoweit hat
Maidowski nämlich Unrecht: Wo ein Referendar wie ein Staatsanwalt oder Richter
tätig wird, hat er sich auch wie ein solcher zu verhalten.
*
**
Leicht entkräften lässt
sich die von den Kritikern aufgestellte Behauptung, die Senatsmehrheit habe die
Verfassungsnorm des Art. 33 Abs. 3 GG missachtet, die da lautet:
Der Genuß bürgerlicher und staatsbürgerlicher Rechte, die Zulassung zu öffentlichen Ämtern sowie die im öffentlichen Dienste erworbenen Rechte sind unabhängig von dem religiösen Bekenntnis. Niemandem darf aus seiner Zugehörigkeit oder Nichtzugehörigkeit zu einem Bekenntnisse oder einer Weltanschauung ein Nachteil erwachsen.
Art. 33 Abs. 3 Satz 1 GG
schützt seinem Wortlaut nach den Zugang zu öffentlichen Ämtern, nicht deren
Ausübung. Dass zwischen diesen beiden Tatbeständen zu differenzieren ist, steht
bei dem ähnlich gelagerten Grundrecht auf Berufsfreiheit (Art. 12 GG) außer
Frage. Zudem erteilt Art. 33 Abs. 5 GG dem einfachen Gesetzgeber den Auftrag, das
Recht des öffentlichen Dienstes unter Berücksichtigung der hergebrachten
Grundsätze des Berufsbeamtentums zu regeln und fortzuentwickeln. Muslime sind
nicht vom Rechtsreferendariat ausgeschlossen. Vielmehr wird kopftuchtragenden
Anhängerinnen des Islam in Hessen im Interesse der weltanschaulich-religiösen Neutralität des Staates lediglich verwehrt, nicht zwingend
vorgeschriebene Ausbildungsleistungen zu absolvieren, wobei dies für die Betroffenen keinerlei
Nachteile außer einem etwas weniger facettenreichen Referendariat mit sich
bringt.
*
**
Von den Kritikern wird
übersehen, dass das Bundesverfassungsgericht den von der Beschwerdeführerin mittelbar
angegriffenen § 45 HBG keineswegs als einem zwingenden konstitutionellen Gebot
entsprungen erachtet. Vielmehr dürfe der Gesetzgeber in verfassungsrechtlicher
Hinsicht zulässigerweise „das Tragen religiöser Symbole im Gerichtssaal […]
verbieten oder […] erlauben“ (Beschluss, Randnummer 102). Die Legislative
könnte den ihr zukommenden Entscheidungsspielraum also auch dahin ausüben, dass
sie Rechtsreferendarinnen die von ihnen als islamisches Gebot betrachtete
Kopfbedeckung auch bei hoheitlichen Handlungen mit Publikumskontakt gestattet.
Dieser Punkt der
Beschlussbegründung ist umso problematischer, als die Senatsmehrheit bezüglich
der Bewertung der Neutralität eines richterlichen Verhaltens ziemlich nebulos auf
die „Sicht des objektiven Betrachters“ (Beschluss, Randnummer 90)
beziehungsweise die „Sichtweise eines objektiven Dritten“ (Beschluss,
Randnummer 92) abstellt. Nicht zu Unrecht fragen die Kritiker, wer denn dieser
objektive Betrachter respektive Dritte sein soll. Nimmt dieser die an der
Leitkultur orientierte Perspektive ein? Wenn ja, wie wäre die Sache dann zu
beurteilen, wenn sich das Kopftuch im Alltag immer mehr ausbreitete und
irgendwann nicht mehr als gesellschaftlich markierte Bekleidungspräferenz
wahrgenommen würde? Oder ist ausschließlich die – beim Hidjab unbestreitbar
große – apperzeptive und semantische Kraft eines religiösen Symbols für dessen
Eignung, im Auge des objektiven Betrachters Zweifel an der Neutralität der
Gerichtsperson auszulösen, ausschlaggebend? Diese Fragen
wirken auf die Abwägung der kollidierenden Grundrechte beziehungsweise
Verfassungsprinzipien zurück, weil es für die Beurteilung, ob ein Verhalten
geeignet ist, die Grundsätze der weltanschaulich-religiösen Neutralität des
Staates und der Funktionsfähigkeit der Rechtspflege zu beeinträchtigen, natürlich
darauf ankommt, an welcher Elle man diese Eignung misst.
Richtigerweise führt der
Zweite Senat aus, dass die Zugehörigkeit zu einer politischen Partei oder
Konfession alleine noch nicht die Besorgnis der Befangenheit eines Richters
begründen kann. Dass ebendies aber auch für die Verwendung religiöser Symbole
im richterlichen Dienst gelten soll (Beschluss, Randnummer 99), leuchtet hingegen
nicht ein. Vielmehr liegt die Grenzziehung zwischen unbeachtlichen und
bedenklichen Verhaltensweisen genau dort, wo ein Staatsbediensteter seinen
ideologisch-religiösen Vorstellungen nicht nur durch Zugehörigkeit zu einer
Partei oder Glaubensgemeinschaft Ausdruck verleiht, sondern bei der Verrichtung
seiner (hoheitlichen) Aufgaben die von ihm geforderte – äußerliche und
innerliche – Uniformierung zugunsten der Zurschaustellung seiner individuellen
Überzeugungen hintanstellt. Weshalb dadurch die richterliche Unparteilichkeit
nicht berührt sein soll, erschließt sich dem Verfasser nicht, zumal ein allein
auf die Religionszugehörigkeit oder das Tragen eines religiösen Symbols
gestützter Antrag auf Ablehnung der betreffenden Richterin nach den Ausführungen
des Bundesverfassungsgerichts ja keinen Erfolg haben dürfte. Letztlich ginge
von einem (vom Staat nicht angeordneten, aber geduldeten) religiös begründeten
Tragen eines Kopftuchs sogar eine stärkere Beschädigung der weltanschaulich-religiösen
Neutralität des Staates, der Funktionsfähigkeit der Rechtspflege und der
negativen Religionsfreiheit Dritter aus als von dem ebenfalls abzulehnenden
Kreuz oder Kruzifix in Amtsstuben und Klassenzimmern. Denn während letzteres
Symbol nichts über die weltanschaulichen Überzeugungen des in seinem Schatten
tätigen Beamten aussagt, ist der Hidjab eine klare Kundgebung ganz bestimmter
ideologischer Einstellungen.
*
**
Im Ergebnis zutreffend
hat das Bundesverfassungsgericht die gegenständliche Verfassungsbeschwerde
zurückgewiesen. Die in einigen Punkten durchaus zu kritisierende Begründung
trägt nicht zu der wünschenswerten Rechtsklarheit bei. Wenigstens dadurch fügt
sich der hier besprochene Beschluss nahtlos in die inkonsistente Kopftuch-Judikatur
des Höchstgerichts ein.
Noricus
© Noricus. Für Kommentare bitte hier klicken.