1. März 2020

Iustitias bares Haupt. Gedanken zum jüngsten Kopftuch-Beschluss aus Karlsruhe

Die jüngste Kopftuch-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ist in frei zugänglichen Internet-Fachpublikationen auf zum Teil heftige Ablehnung gestoßen. Dass im deutlich links positionierten Verfassungsblog drei Artikel ihr Unbehagen mit dem betreffenden Beschluss (vom 14. Januar 2020, 2 BvR 1333/17) zum Besten geben (Steinbeis; Mangold; Sandhu), mag nicht besonders verwundern. Größere verbale Vehemenz findet sich indessen in einem Gastbeitrag des Lehrstuhlinhabers für Öffentliches Recht der Universität Bonn, Klaus F. Gärditz, für die Legal Tribune Online. Der Ordinarius aus der ehemaligen Bundeshauptstadt sieht in der Stellungnahme aus Karlsruhe letztlich den „verkrustete[n] Provinzialismus der Berliner Republik“ am Werk. Irgendwann würde dieser Beschluss auf kaltem Weg entsorgt werden, weil er „zu peinlich geworden“ sei.

Mich überzeugen die vorgetragenen Kritikpunkte ebenso wenig wie das Sondervotum des Richters Maidowski und die – tatsächlich nicht durchwegs stimmige – Begründung der Senatsmehrheit.

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Zutreffend ist, dass das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung – und das kann man begrüßen oder beanstanden – Ausführungen getroffen hat, die weit über den Anlassfall hinausreichen. Die verfahrensgegenständliche, meines Erachtens zutreffenderweise zurückgewiesene Verfassungsbeschwerde betraf nämlich die an eine (inzwischen ehemalige) hessische Rechtsreferendarin adressierte Untersagung, bei hoheitlichen Handlungen mit Publikumskontakt ein Kopftuch zu tragen. Dieses Verbot stützte sich auf einen ministeriellen Erlass, mit dem die Rechtsgrundlage des mit dem Wort „Neutralitätspflicht“ überschriebenen § 45 des Hessischen Beamtengesetzes (HBG) konkretisiert wurde, welcher lautet:
1Beamtinnen und Beamte haben sich im Dienst politisch, weltanschaulich und religiös neutral zu verhalten. 2Insbesondere dürfen sie Kleidungsstücke, Symbole oder andere Merkmale nicht tragen oder verwenden, die objektiv geeignet sind, das Vertrauen in die Neutralität ihrer Amtsführung zu beeinträchtigen oder den politischen, religiösen oder weltanschaulichen Frieden zu gefährden. 3Bei der Entscheidung über das Vorliegen der Voraussetzungen nach Satz 1 und 2 ist der christlich und humanistisch geprägten abendländischen Tradition des Landes Hessen angemessen Rechnung zu tragen.
Gemäß § 27 Abs. 1 Satz 2 Hessisches Juristenausbildungsgesetz gilt diese Norm „entsprechend“ für die in einem öffentlich-rechtlichen Ausbildungsverhältnis stehenden Rechtsreferendare. Der einschlägige ministerielle Erlass formulierte zunächst ein Kopftuchverbot für Gelegenheiten, bei denen Rechtsreferendarinnen als Repräsentantinnen der Justiz oder des Staates wahrgenommen werden (können), worunter das Platznehmen auf der Richterbank, die staatsanwaltschaftliche Sitzungsvertretung und – grob gesprochen – das Leiten von Verhandlungen zu verstehen seien. In einer neuen Fassung des Erlasses wurde im Unterschied zur ursprünglichen Version angeordnet, dass Rechtsreferendare, die nicht bereit sind, ihr Verhalten an der Neutralitätspflicht auszurichten und die deshalb die genannten Ausbildungsleistungen nicht erbringen können, dafür nicht negativ bewertet werden dürfen.

Richter Maidowski macht – durchaus zutreffend – darauf aufmerksam, dass der Fall eines Rechtsreferendars von jenem eines Richters oder Staatsanwalts zu unterscheiden ist. Aufgrund des staatlichen Monopols in der Juristenausbildung ist das Rechtsreferendariat nämlich auch Zugangsvoraussetzung für die (freiberufliche) Tätigkeit als Rechtsanwalt oder Notar beziehungsweise muss es von all jenen absolviert werden, die aus welchen Gründen auch immer, zum Beispiel wegen besserer Chancen auf dem Arbeitsmarkt, die zweite juristische Staatsprüfung ablegen wollen. Es stimmt, dass die Senatsmehrheit auf die – sit venia verbo – Alternativlosigkeit des juristischen Vorbereitungsdienstes für prospektive Volljuristen nicht ausreichend eingeht, sondern letztendlich schon vorgreifend über das Kopftuchtragen bei Richterinnen (und Staatsanwältinnen) entschieden hat. Dies dürfte der eigentliche Grund für die Verbitterung der linken Kritiker sein.

Der von Maidowski befürwortete Lösungsansatz, nämlich ein deutlicher Hinweis an die Verfahrensparteien, dass die Rechtsreferendarin noch keine ernannte Richterin oder Staatsanwältin, sondern eine Auszubildende sei (Sondervotum, Randnummer 21), entfaltet jedoch nur auf den ersten Blick einen gewissen Charme: Denn zum Beispiel bei der staatsanwaltschaftlichen Sitzungsvertretung – das heißt:  ein Kollege des sachbearbeitenden Staatsanwalts verrichtet eine Verhandlung, was in der Praxis häufig einen nur unzureichend mit dem Akteninhalt vertrauten Ankläger bedeutet – ist in aller Regel kein Ausbilder zugegen, der den Referendar beaufsichtigt. Gestellte beziehungsweise nicht gestellte Anträge des Sitzungsvertreters können im Nachhinein nicht samt und sonders saniert werden. Freilich: Die meisten Referendare werden aus Sorge um ihre Benotung nicht vorsätzlich etwas falsch machen. Aber ex post lässt sich meistens auch nicht feststellen, ob eine mangelhafte Verhandlungsgestion auf Unvermögen oder einem bewussten Willensentschluss beruhte.

Situationen, in denen ein Ausbilder neben dem Referendar sitzt und in dessen Tätigkeit sofort korrigierend eingreifen kann, mag man anders beurteilen. Im Ergebnis führt Maidowskis Vorschlag jedoch dazu, die von Referendaren durchgeführten Amtshandlungen, aber auch deren Adressaten nicht ernst zu nehmen. Durchaus zutreffend argumentiert die Senatsmehrheit damit, dass „die justiziellen Grundbedingungen auch dann gelten, wenn der Staat Aufgaben zu Ausbildungszwecken überträgt“ (Beschluss, Randnummer 104). Wenn man in Ausbildung befindliche Juristen von der Neutralitätspflicht entbindet, weil sie ja nur Lehrlinge seien, die später vielleicht gar nicht in den Staatsdienst treten wollen, so schafft man einen Raum, in dem hoheitliches Handeln nicht mehr an den sonst geltenden strengen Maßstäben gemessen wird. Insoweit hat Maidowski nämlich Unrecht: Wo ein Referendar wie ein Staatsanwalt oder Richter tätig wird, hat er sich auch wie ein solcher zu verhalten.

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Leicht entkräften lässt sich die von den Kritikern aufgestellte Behauptung, die Senatsmehrheit habe die Verfassungsnorm des Art. 33 Abs. 3 GG missachtet, die da lautet:
Der Genuß bürgerlicher und staatsbürgerlicher Rechte, die Zulassung zu öffentlichen Ämtern sowie die im öffentlichen Dienste erworbenen Rechte sind unabhängig von dem religiösen Bekenntnis. Niemandem darf aus seiner Zugehörigkeit oder Nichtzugehörigkeit zu einem Bekenntnisse oder einer Weltanschauung ein Nachteil erwachsen.
Art. 33 Abs. 3 Satz 1 GG schützt seinem Wortlaut nach den Zugang zu öffentlichen Ämtern, nicht deren Ausübung. Dass zwischen diesen beiden Tatbeständen zu differenzieren ist, steht bei dem ähnlich gelagerten Grundrecht auf Berufsfreiheit (Art. 12 GG) außer Frage. Zudem erteilt Art. 33 Abs. 5 GG dem einfachen Gesetzgeber den Auftrag, das Recht des öffentlichen Dienstes unter Berücksichtigung der hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums zu regeln und fortzuentwickeln. Muslime sind nicht vom Rechtsreferendariat ausgeschlossen. Vielmehr wird kopftuchtragenden Anhängerinnen des Islam in Hessen im Interesse der weltanschaulich-religiösen Neutralität des Staates lediglich verwehrt, nicht zwingend vorgeschriebene Ausbildungsleistungen zu absolvieren, wobei dies für die Betroffenen keinerlei Nachteile außer einem etwas weniger facettenreichen Referendariat mit sich bringt.

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Von den Kritikern wird übersehen, dass das Bundesverfassungsgericht den von der Beschwerdeführerin mittelbar angegriffenen § 45 HBG keineswegs als einem zwingenden konstitutionellen Gebot entsprungen erachtet. Vielmehr dürfe der Gesetzgeber in verfassungsrechtlicher Hinsicht zulässigerweise „das Tragen religiöser Symbole im Gerichtssaal […] verbieten oder […] erlauben“ (Beschluss, Randnummer 102). Die Legislative könnte den ihr zukommenden Entscheidungsspielraum also auch dahin ausüben, dass sie Rechtsreferendarinnen die von ihnen als islamisches Gebot betrachtete Kopfbedeckung auch bei hoheitlichen Handlungen mit Publikumskontakt gestattet.

Dieser Punkt der Beschlussbegründung ist umso problematischer, als die Senatsmehrheit bezüglich der Bewertung der Neutralität eines richterlichen Verhaltens ziemlich nebulos auf die „Sicht des objektiven Betrachters“ (Beschluss, Randnummer 90) beziehungsweise die „Sichtweise eines objektiven Dritten“ (Beschluss, Randnummer 92) abstellt. Nicht zu Unrecht fragen die Kritiker, wer denn dieser objektive Betrachter respektive Dritte sein soll. Nimmt dieser die an der Leitkultur orientierte Perspektive ein? Wenn ja, wie wäre die Sache dann zu beurteilen, wenn sich das Kopftuch im Alltag immer mehr ausbreitete und irgendwann nicht mehr als gesellschaftlich markierte Bekleidungspräferenz wahrgenommen würde? Oder ist ausschließlich die – beim Hidjab unbestreitbar große – apperzeptive und semantische Kraft eines religiösen Symbols für dessen Eignung, im Auge des objektiven Betrachters Zweifel an der Neutralität der Gerichtsperson auszulösen, ausschlaggebend? Diese Fragen wirken auf die Abwägung der kollidierenden Grundrechte beziehungsweise Verfassungsprinzipien zurück, weil es für die Beurteilung, ob ein Verhalten geeignet ist, die Grundsätze der weltanschaulich-religiösen Neutralität des Staates und der Funktionsfähigkeit der Rechtspflege zu beeinträchtigen, natürlich darauf ankommt, an welcher Elle man diese Eignung misst.

Richtigerweise führt der Zweite Senat aus, dass die Zugehörigkeit zu einer politischen Partei oder Konfession alleine noch nicht die Besorgnis der Befangenheit eines Richters begründen kann. Dass ebendies aber auch für die Verwendung religiöser Symbole im richterlichen Dienst gelten soll (Beschluss, Randnummer 99), leuchtet hingegen nicht ein. Vielmehr liegt die Grenzziehung zwischen unbeachtlichen und bedenklichen Verhaltensweisen genau dort, wo ein Staatsbediensteter seinen ideologisch-religiösen Vorstellungen nicht nur durch Zugehörigkeit zu einer Partei oder Glaubensgemeinschaft Ausdruck verleiht, sondern bei der Verrichtung seiner (hoheitlichen) Aufgaben die von ihm geforderte – äußerliche und innerliche – Uniformierung zugunsten der Zurschaustellung seiner individuellen Überzeugungen hintanstellt. Weshalb dadurch die richterliche Unparteilichkeit nicht berührt sein soll, erschließt sich dem Verfasser nicht, zumal ein allein auf die Religionszugehörigkeit oder das Tragen eines religiösen Symbols gestützter Antrag auf Ablehnung der betreffenden Richterin nach den Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts ja keinen Erfolg haben dürfte. Letztlich ginge von einem (vom Staat nicht angeordneten, aber geduldeten) religiös begründeten Tragen eines Kopftuchs sogar eine stärkere Beschädigung der weltanschaulich-religiösen Neutralität des Staates, der Funktionsfähigkeit der Rechtspflege und der negativen Religionsfreiheit Dritter aus als von dem ebenfalls abzulehnenden Kreuz oder Kruzifix in Amtsstuben und Klassenzimmern. Denn während letzteres Symbol nichts über die weltanschaulichen Überzeugungen des in seinem Schatten tätigen Beamten aussagt, ist der Hidjab eine klare Kundgebung ganz bestimmter ideologischer Einstellungen.

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Im Ergebnis zutreffend hat das Bundesverfassungsgericht die gegenständliche Verfassungsbeschwerde zurückgewiesen. Die in einigen Punkten durchaus zu kritisierende Begründung trägt nicht zu der wünschenswerten Rechtsklarheit bei. Wenigstens dadurch fügt sich der hier besprochene Beschluss nahtlos in die inkonsistente Kopftuch-Judikatur des Höchstgerichts ein.

Noricus

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