Es ist wie 1914. Im
Nachhinein ist leicht zu rekonstruieren, dass die europäischen Mächte
seinerzeit geradezu ballistisch auf die sogenannte Urkatastrophe des 20.
Jahrhunderts zusteuerten. Doch für den damaligen Beobachter mag es zunächst gar
nicht danach ausgesehen haben. Und als dann der Erste Weltkrieg ausbrach, war
der Hurra-Patriotismus auch bei vielen groß, die sich wenige Jahre später dafür
schämten oder davon nichts mehr wissen wollten.
Was die Gefährlichkeit
des neuartigen Coronavirus betrifft, so bin ich nach wie vor Agnostiker. Es
kann sein, dass wir gerade die schwerste medizinische Herausforderung seit
hundert Jahren erleben. Es kann aber auch sein, dass wir es mit einer
Schweingrippe 2.0 zu tun haben. Möglicherweise sind die von der Politik ergriffenen
Maßnahmen völlig unzureichend. Aber es kann auch sein, dass diese Maßnahmen
absolut überzogen sind. Vieles, was jetzt zum neuen Standard erklärt wird, ist mir alles andere als unsympathisch: Dass in Warteschlangen an Supermarktkassen die Unterschreitung einer körperlichen Schicklichkeitsgrenze fürderhin tabu ist, empfinde ich als eine riesige Errungenschaft. Man sollte aber schon auch bereit sein, die Schattenseiten des Kampfes gegen die Ausbreitung von Covid-19 ins Auge zu fassen.
Mit dem nunmehr verordneten Shutdown, der in Bayern zur Ausgangsbeschränkung verschärft wurde, feuern wir eine Bazooka gegen die wirtschaftliche Prosperität dieses Landes ab. Einem meiner Bekannten, der am Beginn dieser Woche noch den Coolen spielte und meinte, dass er dann halt mal ein paar Wochen lang im Homeoffice tätig sei, dämmert schön langsam, dass es vielleicht bald keinen Arbeitsplatz mehr gibt, an den er zurückkehren kann. Im Gastgewerbe und in bestimmten Einzelhandels- und Dienstleistungssparten Beschäftigte gehen ohnehin schon jetzt stempeln. In gewissen Branchen, etwa dem Messebau, wird es zu einer gewaltigen angebotsseitigen Marktbereinigung kommen. Zahlreiche der typischerweise mit nur geringen Kapitalreserven ausgestatteten Einzel- und Familienunternehmen werden zeitnah an ihr Ende gelangen, ebenso etwa die meistens stark verschuldeten Hotelbetreibergesellschaften, die derzeit keinerlei Einnahmen generieren.
Aber auch wer noch offenhaben darf, hält einen mehrwöchigen bis mehrmonatigen Nachfragerückgang nicht durch: Nachdem ich gestern in einer ansonsten stark frequentierten Bäckerei auf weiter Flur der einzige Kunde war, erscheint mir der verzweifelte Appell eines Inhabers dieses Gewerbes, doch bitte weiterhin im Brotfachgeschäft einkaufen zu gehen, alles andere als theatralisch. Natürlich werden auch unsere Schlüsselindustrien von gravierenden Verwerfungen betroffen sein, dies nicht nur wegen der gegenwärtigen Produktionspausen, sondern auch weil sich arbeitslose, insolvente oder in ökonomische Schieflage geratene Zeitgenossen wohl kaum ein neues Auto zulegen und eine weitgehend sistierte Industrie keine Investitionsgüter benötigt. Der mit generöser Geste versprochene Rettungsschirm (sprich: Steuerzahlergeld) für die heimische Wirtschaft wird dank langsam mahlender Bürokratie-Mühlen bei vielen Adressaten zu spät ankommen. Eine eventuell monatelang überwiegend stillstehende deutsche Volkswirtschaft könnte man ohnehin auch mit Dagobert Ducks Fantastilliarden nicht retten.
Was ebenfalls sicher ist: Die allerorten verbreitete Hysterie (zu der die berechtigte Sorge vor einem unbekannten Erreger – denn genau das ist dieses Virus in jedem möglichen Wortsinn – schon längst mutiert ist) wird dazu beitragen, die gesellschaftliche Spaltung in diesem unserem Lande zu vertiefen. Der in den Hamsterkäufen zu Tage tretende Egoismus mag vielleicht aus individueller Sicht rational sein; er ist aber nicht dazu angetan, den Kinderglauben an eine solidarische Grundgesinnung der Menschheit zu stärken. Gleiches gilt freilich auch für die vorlesungsbefreiten Studenten, die nichts Klügeres zu tun hatten, als die Grünflächen ihrer Universitätsstädte in Hörsaaldichte zu bevölkern. In manchen Firmen (bei denen die Mitarbeiter noch an der Betriebsstätte präsent sind/sein dürfen/sein müssen) kommt es bereits zu Hexenjagden gegen Menschen mit chronischen Atemwegserkrankungen, obwohl diese keine anderen Symptome aufweisen als zu der Zeit, als SARS-CoV-2 nur für Zoonosen verantwortlich war. Mein Mitgefühl gilt schon jetzt den Pollen-Allergikern, denen in diesem Frühling so einige Spießrutenläufe bevorstehen dürften. Man sollte vielleicht auch einen Gedanken daran verschwenden, was ein wochen- oder monatelang gültiges soziales Distanzierungsgebot in einer Gesellschaft anrichten kann, die in den Kategorien Freundlichkeit, Herzlichkeit und Kontaktfähigkeit von Haus aus nicht zu den Weltmeisterschaftsaspiranten gehört.
Und natürlich schlägt jetzt wieder die Stunde der Normübererfüller: So blaffen selbsternannte Hilfssheriffs ihre Mitbürger an, die zu
einer einfachen, überhaupt nicht verletzungsträchtigen Bergwanderung aufbrechen,
weil man doch jetzt nicht in die Berge gehen solle (Stichwort: Entlastung der
Rettungsketten und der Krankenhauskapazitäten). Solistischer oder mit den Hausgenossen unternommener Sport an der frischen Luft ist indessen weder unter weiß-blauer noch unter rot-weiß-roter Flagge verboten, sondern – in einem vernünftigen Ausmaß betrieben – zur Ertüchtigung der physischen und psychischen Abwehrkräfte der Gesunden sogar äußerst sinnvoll. Es würde mich hingegen nicht wundern, wenn Psychiater und Psychotherapeuten demnächst einen massiven Anstieg der Zahl ihrer Angststörungs- und Depressionspatienten verzeichneten. Ebenso dürfte die von der Mitte der Gesellschaft sowie den journalistischen Wendehälsen (die nahezu übergangslos vom Beschwichtigungs- und Belächelungsmodus zu katastrophenfilmartigem fear-mongering umgeschaltet haben) nunmehr geforderte Stachanow-Mentalität bei der Umsetzung der Daheimbleibe-Vorgabe zu Herz-Kreislauf-Erkrankungen, erhöhtem Alkohol- und Drogenkonsum, häuslicher Gewalt und der Zerrüttung so mancher Ehe oder Lebensgemeinschaft führen.
Wenn wir schon bei den
willigen Adlaten der Verbietenden sind: Sowohl in Österreich als auch in Deutschland versorgen Mobilfunkbetreiber die Obrigkeit mit Bewegungsprofilen
ihrer Kunden – auf fraglicher, meines Erachtens nicht vorhandener
Rechtsgrundlage. Natürlich komplett anonymisiert, wie man versichert, aber
Lothar Wieler, Chef des Robert-Koch-Instituts äußert schon seine Gier nach personalisierten
Handydaten. Es ist derselbe Lothar Wieler, der noch vor kurzem geraunt hat,
dass die Einschränkungen für die persönliche Freiheit des Einzelnen „im extremen Fall“ auch zwei Jahre dauern könnten, dies dann aber doch nicht so
gemeint haben will. Die – ich formuliere dies einmal so – semantische Äquivalenz zwischen einem Lothar Wieler und einem Stefan Rahmstorf ist bestechend.
Werfen wir einen Blick auf die Politik: Ausgangsbeschränkungen wie die für das oberpfälzische Mitterteich oder nunmehr den gesamten Freistaat Bayern verfügten sind wohl schon in Ermangelung einer gesetzlichen Grundlage rechtswidrig, mit zunehmender Geltungsdauer sind sie aber jedenfalls unverhältnismäßig (siehe die im Verfassungsblog veröffentlichten Artikel von Andrea Edenharter und Thorsten Kingreen). Doch solche legalistischen Bedenken haben momentan kein allzu gutes Standing: Soweit ersichtlich, stehen weite Teile der Bevölkerung vorbehaltlos hinter den ergriffenen Maßnahmen. Die allgemeine Stimmung geht inzwischen wirklich dahin, dass – wie der Werwohlf mit (ise)grimmigem Humor schreibt – alles bis kurz vor flächendeckenden Erschießungen akzeptiert wird. Zur Stunde bewahrheitet sich das Müntefering'sche Diktum, dass Opposition Mist ist. Der Ernst der Lage hat nicht nur den Macher Markus Söder in die oberen Etagen des Politikerbeliebtheitsrankings gespült. Nein, auch Angela Merkel kann in ihrer favorisierten Rolle als faktische Bundespräsidentin überzeugen (während der sonst so äußerungsfreudige Amtsinhaber keine Worte findet). Und selbst ein aufgrund der föderalen Kompetenzverteilung nur mit gestutzten Schwingen durch schwarz-rot-goldene Lüfte fliegender Adler wie Jens Spahn gewinnt an Spannweite. Grüne, AfD, SED und FDP sind hingegen abgemeldet. In Berlin und den Landeshauptstädten wird man die Lektion lernen, dass es besser ist, falsch zu regieren, als nicht zu regieren, weil man dadurch immerhin die Chance erhält, in Krisenzeiten als Star geboren zu werden – so wie etwa der österreichische Sozialminister Rudolf Anschober, der dieser Tage eine Verordnung nach der anderen erlässt und neben Bundeskanzler Sebastian Kurz zweifellos das präsenteste Regierungsmitglied ist.
Werfen wir einen Blick auf die Politik: Ausgangsbeschränkungen wie die für das oberpfälzische Mitterteich oder nunmehr den gesamten Freistaat Bayern verfügten sind wohl schon in Ermangelung einer gesetzlichen Grundlage rechtswidrig, mit zunehmender Geltungsdauer sind sie aber jedenfalls unverhältnismäßig (siehe die im Verfassungsblog veröffentlichten Artikel von Andrea Edenharter und Thorsten Kingreen). Doch solche legalistischen Bedenken haben momentan kein allzu gutes Standing: Soweit ersichtlich, stehen weite Teile der Bevölkerung vorbehaltlos hinter den ergriffenen Maßnahmen. Die allgemeine Stimmung geht inzwischen wirklich dahin, dass – wie der Werwohlf mit (ise)grimmigem Humor schreibt – alles bis kurz vor flächendeckenden Erschießungen akzeptiert wird. Zur Stunde bewahrheitet sich das Müntefering'sche Diktum, dass Opposition Mist ist. Der Ernst der Lage hat nicht nur den Macher Markus Söder in die oberen Etagen des Politikerbeliebtheitsrankings gespült. Nein, auch Angela Merkel kann in ihrer favorisierten Rolle als faktische Bundespräsidentin überzeugen (während der sonst so äußerungsfreudige Amtsinhaber keine Worte findet). Und selbst ein aufgrund der föderalen Kompetenzverteilung nur mit gestutzten Schwingen durch schwarz-rot-goldene Lüfte fliegender Adler wie Jens Spahn gewinnt an Spannweite. Grüne, AfD, SED und FDP sind hingegen abgemeldet. In Berlin und den Landeshauptstädten wird man die Lektion lernen, dass es besser ist, falsch zu regieren, als nicht zu regieren, weil man dadurch immerhin die Chance erhält, in Krisenzeiten als Star geboren zu werden – so wie etwa der österreichische Sozialminister Rudolf Anschober, der dieser Tage eine Verordnung nach der anderen erlässt und neben Bundeskanzler Sebastian Kurz zweifellos das präsenteste Regierungsmitglied ist.
Bin ich wirklich der
Einzige, der sieht, dass angeblich liberale Kräfte all die Argumente, die wir
in den letzten Jahren bei den Klimahysterikern kritisiert haben, nun mutatis mutandis zur Rechtfertigung des –
zeit meines Lebens – größten Angriffs auf unsere Grundrechte verwenden? Bin ich
der Einzige, der sich wundert, dass diese angeblich liberalen Kräfte seit 2011
oder 2015 einmal mit mehr, einmal mit weniger Berechtigung das Entstehen einer
DDR 2.0 argwöhnen, jedoch den Rückfall in die Diktatur verkennen, wenn sich
dieser live und in Farbe vor ihren Augen abspielt? (Denn als was sonst fühlt es sich an, wenn man den Organen der Staatsmacht den triftigen Grund seiner Wohnungsflucht glaubhaft zu machen hat?) Bin ich der Einzige, der
sich fragt, wer über den Ausnahmezustand und darüber gebietet, ob und
allenfalls wann und gemäß welchen Kriterien dieser endet? Bin ich der Einzige, der befürchtet, dass die Politik auf dumme Gedanken kommt, wenn sie sieht, was in Panik geratene Menschen alles über sich ergehen lassen? Und bin ich der Einzige, der
argwöhnt, dass man das öffentliche Leben in den Tiefschlaf versetzt hat, ohne zu
begreifen, dass sich dieses nicht einfach mir nichts, dir nichts wie das jung
und schön gebliebene Dornröschen wieder wachküssen lässt? Nein, ich bin nicht der Einzige. Roger Köppel stellt in einem unbedingt zum Anschauen empfohlenen Videobeitrag die richtigen Fragen. Auch ein Jens Lehmann gibt Dinge zu bedenken, die man nicht so einfach vom Tisch wischen sollte. Und im
Westfernsehen lässt Marc Felix Serrao die Stimme der Vernunft erklingen.
Mir ist klar, dass der in einem demokratischen, pluralistischen Gemeinwesen übliche Willensbildungsprozess für die adäquate Reaktion auf eine Pandemie zu langsam sein kann. Dies bedeutet aber nicht, dass es über die getroffenen Maßnahmen keine Diskussion geben sollte. Denn die großflächige und sicher noch einige Wochen, wenn nicht Monate andauernde Stilllegung des öffentlichen Lebens wird uns den sehr hohen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Preis kosten, den ich zuvor skizziert habe, von Fragen der Rechtmäßigkeit dieser Maßnahmen ganz abgesehen. Doch ein kritisches Hinterfragen des von der herrschenden Meinung bejubelten Lockdown-Kurses ist nicht statthaft, sondern wird moralisch diskreditiert, indem man dem Abweichler unterstellt, er nähme lieber den qualvollen Erstickungstod schwer Erkrankter in Kauf, als vorübergehend auf Party und Luxuskonsum zu verzichten.
Ich bin wirklich gespannt, ob und gegebenenfalls wie sich die communis opinio ändern wird, wenn die einschneidenden Maßnahmen bis nach Ostern verlängert werden. In Österreich ist eine Erstreckung des Ausnahmezustandes bis einschließlich Ostermontag bereits erfolgt. Die deutschen Bundesländer werden zweifellos nachziehen. Das ist auch konsequent, weil es
tatsächlich schwer zu verstehen wäre, dass in drei Wochen ein hochgradig
virenverbreitungsförderndes Verhalten wie das übliche Osterprogramm der meisten
Menschen plötzlich unbedenklich sein soll. Aber was machen wir, wenn aus
epidemiologischer Sicht Mitte April der Spuk noch nicht vorbei ist? Wenn
vielleicht die erste wirklich anhaltende Frühlingsperiode über das Land zieht
und die Menschen nach draußen drängen lässt?
Ich gebe mich keinen
Illusionen hin: Die kollektive Besoffenheit hat gesiegt. Bei den Ausgangsbeschränkungen wird es nicht bleiben – dies schon deshalb, weil eine seltene Einheitsfront aus ganz unterschiedlichen politischen Lagern China als Vorbild im Umgang mit der Covid-19-Pandemie beschwört. Man sei dann bitte nicht erstaunt, wenn man geliefert erhält, was man bestellt hat, und zwar ein Reich der Mitte mit allen unerwünschten Risiken, Nebenwirkungen und Dauerfolgen.
Eine liberale Gegenöffentlichkeit in relevantem Ausmaß ist in Ländern wie Deutschland und Österreich schlichtweg inexistent. Wir sind nicht viele, sondern wenige, zu wenige. Für mich hat es keinen Sinn mehr, produzierender Teil der Blogosphäre zu sein. Deshalb ist diese bescheidene Reflexion mein letzter Beitrag für Zettels Raum. Ich wünsche jenen wenigen, die vielleicht einen oder zwei meiner Artikel nicht mit übermäßigem Widerwillen gelesen haben, aber auch den vielen, die ich zuverlässig befremdet oder gleichgültig gelassen habe, alles erdenklich Gute für das, was da noch auf uns zukommen mag.
Noricus
© Noricus.