9. März 2020

COVID-19. Münsterland. Wetterleuchten

"Zu jener Zeit schien sich das Wetter zu stabilisieren. Die Sonne saugte die Pfützen der letzten Regengüsse auf.. Schöner blauer, von gelbem Licht überfließender Himmel, Flugzeugbrummen in der aufkommenden Hitze - alles an der Jahreszeit lud zur Heiterkeit ein. Innerhalb von vier Tagen machte das Fieber jedoch vier überraschende Sprünge: sechzehn, vierundzwanzig, achtundzwanzig und dann zweiunddreißig Tote. Am vierten Tag wurde die Eröffnung des Behelfskrankenhauses in einer Vorschule gemeldet. Unsere Mitbürger, die bis dahin ihre Beunruhigung mit Scherzen kaschiert hatten, wirkten jetzt auf der Straße niedergeschlagener und stiller."

- Albert Camus, Die Pest (1947, zitiert nach der Übersetzung von Uli Aumüller)

Gestern haben hier im Münsterland die Forsythien begonnen, ihre Büsche wie mit intensiven gelben Schneesternen zu überziehen - gut zehn Tage vor dem üblichen Termin, heute zeigen die hängenden Zweige der Weiden hellstes Grün und die Schlehen überstäubt es weiß. Das Jahr ohne Winter geht in einem vorgezogenen Frühling über, der den des letzten Jahres noch übertreffen könnte, wenn wir nicht in der zweiten Monatshälfte von einem bösen Wintereinbruch überrascht werden. Der Natur ist die Entfaltung ihrer dunklen Seite, die sie uns gerade demonstriert, nicht einmal bemerkbar. Für Beobachter, die für Symbolik empfänglich sind, liegt in dergleichen auch etwas Tröstliches, wie in den ewig anbrandenden Wellen am Meeresufer.








*     *     *
Zwei kleine, schlichte Zahlenreihen. Die Tabelle beginnt mit dem jeweils zweiten Tag der gerade angelaufenen Ausbruchs der Epidemie. Link sehen Sie die Fallzahlen (bei den letzten Positionen um den täglichen Zuwach ergänzt) für Italien; rechts die für Deutschland.

Tag IT (Datum) Fälle // DE (Datum) Fälle

2 (15.2.) 2 // (23.2) 16
3 (16.2.) 2 // (24.2.) 18
4 (17.2.) 2 // (25.2.) 21
5 (18.2.) 3 // (26.2.) 26
6 (19.2.) 3 // (27.2.) 53
7 (20.2.) 3 // (28.2.) 66
8 (21.2.) 20 // (29.2.) 117
9 (22.2.) 79 // (1.3.) 150
10 (23.2.) 150 // (2.3.) 188
11 (24.2.) 227 // (3.3.) 240
12 (25.2.) 320 // (4.3.) 349
13 (26.2.) 445 // (5.3.) 534
14 (27.2.) 650 // (6.3.) 670
15 (28.2.) 888 // (7.3.) 800 (+ 130)
16 (29.2.) 1128 // (8.3.) 1041 (+ 241)
17 (1.3.) 1694 // (9.3.) 1224 (+184)
18 (2.3.) 2036 (+ 342) //
19 (3.3.) 2502 (+ 466) //
20 (4.3.) 3089 (+ 587) //
21 (5.3.) 3858 (+ 769) //
22 (6.3.) 4636 (+ 778) //
23 (7.3.) 5883 (+ 1247) //
24 (8.3.) 7375 (+ 1492) //
25 (9.3.) 9772 (+ 1797) //

Wie man sieht, entsprechen sich die Entwicklungen der Fallzahlen weitgehend; wir sehen bis heute in beiden Fällen eine Verdreifachung in 72 Stunden; ein solches Wachstum ist als "exponentiell" geläufig. Die deutschen Fallzahlen folgen den italienischen mit einer Verzögerung von acht Tagen, die des größten deutschen Clusters, Nordrhein-Westfalen, den gesamtdeutschen mit drei Tagen Verzögerung. Bei anderen "Clustern", also Ausbreitungsgebieten mit hohen Zuwachsraten, hat sich gezeigt, daß nach einer gewissen Zeit der Anstieg auf eine Verdoppelung in drei, danach fünf Tagen stattfindet. Ob und bei welcher Höhe dies in Italien sowie in Deutschland der Fall sein wird, steht in den Sternen. Sicher ist, daß sich dieser Trend, und zwar ungebrochen, fortsetzen wird, solange keine einschneidenden und rigorosen Maßnahmen zur Unterbrechung der Ausbreitungsvektoren, der Infektionsketten getroffen werden. Und auch dann wir ein Abschwächungseffekt erst nach frühestens neun Tagen eintreten (der durchschnittlichen Inkubationszeit). Jedes Unterbleiben der weitestmöglichen Unterbindung von Sozialkontakten erhöht nur die Sockelbasis, die bis zu jenem Zeitpunkt erreicht wurde. Eine andere Methode zur Eindämmung gibt es schlicht nicht.

Für die Ausbreitungsraten möchte ich an dieser Stelle den Physiker und Direktor des New England Institute for Complex Systems aus einem Interview mit der FAZ, Yaneer Bar-Yam, vom 26. Februar 2020 zitieren:

"Rund jeder fünfte Krankheitsfall ist ernst, jeder fünfzigste ist tödlich. Und die Krankheit breitet sich sehr schnell aus. Mitte Januar hatte China rund zwanzig Krankheitsfälle. Mit der Ausbreitungsgeschwindigkeit hätte China fünf Wochen später rund 100 Millionen infizierte Personen gehabt, wenn das Land nicht so drastische Maßnahmen ergriffen hätte."

*     *     *

Heute hat SARS-nCoV also auch das bescheidene Städtchen mit seinen 13.000 Einwohnern im Münsterland erreicht, in dem ich, der hier den Part des Protokollanten übernommen habe, wohne. Ein Lehrer am örtlichen Gymnasium, der mit allen Schülern des zehnten Jahrgangs zwei Wochen Skiurlaub in Südtirol verbracht hat, ist gestern, am Sonntag, positiv getestet worden. Sämtliche 106 Schüler dieses Jahrgangs (von insgesamt 1200 Köpfen der Schülerschaft) sind nun für die gängigen 14 Tage zu freiwilligem Hausarrest freigestellt worden. (Daß mir heute abend ein halbdutzendköpfiges Mädchengeschwader davon auf der Straße begegnete, lauthals singend "It's corona time! Wir haben frei!" nehme ich als eine herzlichen, frühlingshaften Anklang an die erste Begegnung von Marcel Prousts gleichnamigem Erzähler in der Recherche mit dem "berühmtesten Mädchengeschwader der Weltliteratur" (Patrick Bahners) Albertine zum ersten Mal über den Weg läuft, und eine lebensfrohe, unverdrossene Italianità, die den Bildern der fröhlich flanierenden und die Straßencafés füllenden Einwohnern des de nomine zum Katastrophengebiet erklärten Mailand entspricht.)

Heute forderte die Seuche (und es ist eine solche und sollte beim Namen genannt werden) in Deutschland ihre beiden ersten Todesopfer, im am meisten betroffenen Landkreis Heinsberg und in Essen. Insgesamt hat der Seuchenzug zum Zeitpunkt, an dem ich dies tippe, 4005 Menschen das Leben gekostet von den 114.230, die als Infizierte registriert worden sind; 62.834 sind als geheilt verbucht worden, die Zahl der "aktiven Fälle" beläuft sich auf 47.391. Davon befinden aktuell sich 87% im "leichten Zustand", zeigen also jenen Verlauf, "der einer leichten Grippe entspringt"; und 6042, oder 6%, in einem schweren oder kritischen Zustand. (Diese Zahlen sind heute überall geläufig; ich notiere sie als gegenwärtige Wegmarke, weil sie in einem oder zwei Monaten, wenn man dies hier als Vergleich heranzieht, nicht mehr im Gedächtnis haben wird.) In Italien hat sich heute die Zahl der registrierten Fälle um 1797 auf insgesamt 9172 erhöht; in Deutschland um 151 auf 1191. In Nordrhein-Westfalen sind 594 Fälle gemeldet; im Regierungsbezirk Münster hat sich die Zahl im Lauf des heutigen Montags auf 39 erhöht.

In Brandenburg, in der Kleinstadt Neustadt/Dosse sind heute, nach dem hiesigen Muster, also der Feststellung einer Infektion bei einer Lehrkraft, 5000 Menschen unter temporäre Quarantäne gestellt worden. In Weißenfels in Sachsen-Anhalt, Bildungsbürgern als jener Ort geläufig, an dem Novalis von seinem 13. Lebensjahr bis zu seinem frühen Tod 15 Jahre später seinen Lebensmittelpunkt hatte, haben sich Gemeinde wie Schule geweigert, die Kosten für Tests zu übernehmen, nachdem wie im hiesigen Fall eine Lehrkraft nach einem Skiurlaub positiv getestet wurde; die Schülerkohorte, deren Eltern dies übernommen haben, wurden sämtlich negativ getestet.

Der Aktienhandel an der Wall Street wurde heute gleich nach Beginn der Börseneröffnung ausgesetzt, nachdem er blitzartig einen Einbruch um fast 8 Prozent (7,78%, für die Detailfuchser, und um 2013 Zähler) hinnehmen mußte; auch der Preis für Rohöl befindet sich im freien Fall. Solche Aussetzungen des Börsenhandels sollen bewirken, daß die Indices nicht im Laufe eines einzigen Tages im zweistelligen Prozentbereich einbrechen und damit ein verheerendes Signal an die Trader senden: nun alles zu verkaufen, um damit den Abwärtstrend noch massiv zu erhöhen. Als Grund werden in allen Berichten die Auswirkungen, gegenwürtig, aber vor allem für die nächste Zukunft, genannt. 


Das Frühjahr und der Sommer mit wärmeren Temperaturen dürften die Ausbreitung des Coronavirus aus Expertensicht nicht sehr stark verlangsamen.
Es sei wohl damit zu rechnen, „dass wir direkt in eine Epidemiewelle hineinlaufen“, sagte der Direktor des Instituts für Virologie an der Charité, Christian Drosten, am Montag in Berlin. Der saisonale Effekt auf diese Viren dürfte voraussichtlich nicht so groß sein wie auf einige andere Erkältungsviren. Drosten verwies auf entsprechende verfeinerte Modellrechnungen einer Studie aus den USA.

Zur Erinnerung: das Coronavirus ist kugelförmig; die Hülle bildet eine doppelte Lipidschicht (eine "Fettschicht"); es war bislang gehofft worden, die stärker UV-Einstrahlung während der Sommermonate könnte zu einer weitverbreiteten Zerstörung dieser Schicht führen, bei Erregern, die dem Sonnenlicht direkt ausgesetzt sind, und damit die Verbreitungskette wirksam unterbrechen - also auf die gleiche Weise, in der Grippewellen während der Sommerzeit zum Erliegen kommen. Influenza-A-Viren (die für die Spanische Grippe vor 100 Jahren und die asiatische Grippe von 1957 verantwortlich waren) haben eine radikal andere Struktur; aber das SARS-Virus (der jetzige Erreger stellt eine Mutation davon dar), das als ein weiteres Mitglied aus der breiten Familie der Coronaviridae ebenfalls diesen Aufbau besitzt, kam in den Sommermonaten auch auf diese Weise.

In der South China Morning Post, der wichtigsten englischsprachigen Zeitung Hong Kongs, findet sich heute ein Bericht von Stephen Chen (Beijing) über eine Studie, die die Infektionsfälle in einem Bus in der Provinz Human untersucht hat.



Demnach hat der Verursacher (rot) die gelb markierten Personen per Tröpfcheninfektion angesteckt; die violett markierte Person hat sich eine halbe Stunde, nach der erste Passagier den Bus verlassen hatte, infiziert. Der "Sicherheitsabstand", die "Armlänge," um einer Infektion zu entgehen, sollte also mehr als die in der Grafik markierten 4,5 Meter betragen.

*     *     *


Zum Schluß möchte ich auszugsweise ein Interview mit Christian Salaroli, Narkosearzt in Bergamo in der in Italien am schwersten betroffenen Lombardei, zitieren, das in der heutigen Ausgabe des Correire de le sera erschienen ist,  nach der Übersetzung von Eva-Maria Michels, die sich freundlicherweise die Mühe gemacht hat, den gesamten Text ins Deutsche zu übertragen (mit leichten sprachlichen Glättungen durch mich).


- Sie treffen also wirklich eine Auswahl?
Selbstverständlich. In dieser Einheit werden nur Personen aufgenommen, die die COVID-19-Lungenentzündung mit respiratorischer Insuffizienz aufweisen. Für die anderen gilt: nach Haus!
- Was geschieht dann?
Sie erhalten nicht-invasive Beatmung. Das ist die erste Etappe.
- Was sind die folgenden?
Frühmorgens kommt der Narkosearzt, zusammen mit der Pflegepersonal der Notaufnahme. Seine Entscheidung ist maßgebend.
- Warum ist seine Entscheidung so wichtig?
Neben dem Alter und dem Allgemeinzustand des Patienten bewertet er, ob der Patient in der Lage ist, einen Eingriff zur invasiven Beatmung zu überleben.
- Was heißt das genau?
Die Infektion, die der Coronavirus verursacht, ist eine interstitielle Pneumonie. Eine sehr aggressive Form, die verhindert, daß das Blut der Patienten Sauerstoff aufnimmt. Die am stärksten geschädigten Patienten leiden unter Sauerstoffmangel: ihr Organismus wird nicht mehr hinreichend mit Sauerstoff versorgt.
- Wann wird diese Wahl getroffen?
Sofort nach dem Besuch des Narkosearztes. Wir müssen diese Wahl treffen, und zwar spätestens ein oder zwei Tage nach der Aufnahme. Die nicht-invasive Beatmung ist nur ein Zwischenschritt. Leider gibt es ein Mißverhältnis zwischen dem Mitteln, die wir im Hospital zur Verfügung haben, den verfügbaren Betten auf der Intensivstation und der Anzahl der Patienten im kritischen Zustand. Wir können nicht jeden intubieren. [Das bedeutet "invasive Beatmung": der Beatmungsschlauch wird nach einem Einschnitt in die Luftröhre an das Beatmungsgerät angeschlossen.]
- Was geschieht dann?
Diejenigen, bei denen wir entschieden haben, die Behandlung fortzusetzen,, werden sofort intubiert. Wir bringen sie in Bauchlage, damit die unteren Lungenpartien beser beatmet werden können.
- Gibt es genaue Vorschriften, was diese Entscheidung betrifft?
Im Gegensatz zu dem, was in dem Medien berichtet wird, gibt es die nicht. In der Praxis sehen wir uns die Patienten sehr genau an - so schrecklich das auch klingt - und entscheiden uns gegen diejenigen, die schwere Herz- und Lungenkrankheiten haben und Personen mit schweren Koronarinsuffizienzen, weil sie den akuten Sauerstoffmangel nur sehr schlecht vertragen und wenig Aussicht haben, die kritische Phase zu überleben.
- Und dann?
Wenn jemand zwischen 80 und 95 Jahre alt ist und schwere Atemprobleme zeigt, setzen wir die Behandlung in der Regel nicht fort. Das gleiche gilt, wenn ein Patient durch das Virus an drei oder mehr lebenswichtigen Organen geschädigt ist. Statistisch gesehen, haben diese patienten keine Chance, das kritische Stadium der Infektion zu überleben. Wir zählen sie bereits zu den Opfern.
- Sie schicken sie also weg?
Das auch. Das ist ein furchtbarer Satz: aber die Antwort lautet: ja. Wir haben nicht die Möglichkeit, ein Wunder zu versuchen. Das ist leider die traurige Realität.
- Unter normalen Umständen kommt das nicht vor?
Nein. Unter normalen Umständen gibt es diese Entscheidung, ob ein Patient den Hauch einer Überlebenschance hat, zwar auch. Aber wir haben es jetzt mit einer völlig anderen Fallzahl zu tun.
- Und Sie als Ärzte, können Sie diese Situation ertragen?
Manche zerbrechen daran. Vor allen die ganz Jungen, die Jüngsten, die gerade erst ihre Arbeit aufgenommen haben und die jetzt plötzlich, aus dem Nichts heraus, die Entscheidung über Tod oder Leben eines Patienten treffen müssen.
- Und Sie? 
Bislang kann ich nachts noch schlafen. Weil ich weiß, daß die Auswahl von der Annahme ausgeht, daß einige Fälle - und das sind fast immer die Jüngeren - eine bessere Überlebenschance haben als andere. Das ist ein kleiner Trost.
- Wie beurteilen Sie die aktuellen Entscheidungen der Regierung?
Die Quarantäne, die die Ausbreitung des Virus auf bestimmte Regionen beschränkt, ist richtig. Aber das kommt um zwei Wochen zu spät. Das Wichtigste ist jetzt etwas anderes.
- Und das wäre?
Bleiben Sie zu Hause - bleiben Sie zu Hause - bleiben Sie zu Hause. Ich kann das nicht oft genug wiederholen. Ich sehe zu viele Menschen auf den Straßen, die tun, es wäre alles normal. Sie haben keine Ahnung, was sich in den Krankenhäusern abspielt. Und sie wollen es auch nicht wissen. Bleiben Sie zu Haus.
- Gibt es Personalmangel?
Ja. Wir arbeiten vierundzwanzig Stunden am Tag und sind am Limit, sowohl körperlich wie emotional. Ich haben Krankenschwestern mit dreißig Jahren Berufspraxis weinen sehen, Ärzte erleiden Nervenzusammenbrüche. Was gegenwärtig in den Krankenhäusern passiert, kann sich niemand vorstellen. Das ist auch der Grund, warum ich Ihnen dieses Interview gebe.

"Scegliamo chi curare, chi no, come ogni guerra"

Für medizinische Laien: Man nennt dieses Entscheidungsverfahren "Triage."



Nachtrag: noch während ich diesen Text geschrieben habe, hat Staatspräsident Conte ganz Italien zur "Roten Zone," zur Sperrzone, erklärt.

­
U.E.

© Ulrich Elkmann. Für Kommentare bitte hier klicken.