17. Dezember 2017

Liebe alte Tante EsPeDeh ...



... eine kleine Frage mal zu diesem Komischen Kürzel "KoKo", das du vor vor ein paar Tagen, vor zweien? vor drei? vier? - in den Ring des Diskurses, die Agora der Öffentlichkeit, die mediale Arena geworfen hast.

Zuvor ein kleines Beiseit-Gesprochen: ich tue jetzt einfach einmal so, als sei dieses Sonderangebot, diese einmalige Gelegenheit zum politisches Winterschlußverkauf, immer noch gültig. Schließlich ist es schon länger als 48 Stunden her, daß es durch die Kanäle rauschte. Und es ist nun einmal ein Factum brutum, daß keine Nachricht, keine Meldung unserer Medien eine Haltbarkeit von mehr als zwölf Stunden besitzt. Danach verschwindet sie - und zwar egal um worum es sich dabei handelt, ohne jede Folge, ohne jede Konsequenz weit hinten in einem nachgerade prähistorischen Hinterland, in einer opaken Nebelkammer, die in diesem Land, aber nicht nur dort, sondern allgemein in Europa und im Westen, an die Stelle eines zetigeschichtlichen Gedächtnisses getreten ist - ein kollektiver Gedächtnisverlust, der jegliche Einordnung eines Gescheehns, jede Gewichtung, jedes Aufzeigen von Tendenzen unmöglich macht. Eine reine Gegenwart (Theologen sprechen hier von einem nunc stans, von einem Stillstand der Zeit), die sich über alles legt und nicht nur alle Aussichten aus die Zukunft unmöglich macht, sondern auch jeden Blick zurück auf das Terrain, das man beim Flug in diese Gegenwart hinter sich gelassen hat. Walter Benjamins Engel der Geschichte brauchte heute nicht mehr mit aufgerissenen Augen auf eine Trümmerhalde des Gewesenen zu starren, die er nicht wieder zusammenfügen kann, er befände sich im Blindflug in einer Wolkendecke ohne Lücken. Alzheimerpatienten muß die Welt so erschienen, wenn sie ahnungslos um ihren Selbst- und Zeitverlust nur noch dem unmittelbaren, momentanen Erleben ausgeliefert sind, ohne irgendeine facette davon jemals mit Sinn füllen zu können, weil ihr gesamtes Gedächtnis und ihre daraus erwachsende Persönlichkeit gelöscht sind.

Ich nehme also frivolerweise eure Ankündigung, zu "kokolieren", für bare Münze. Und jetzt möchte ich euch fragen: Hab Ihr euch dieses Kürzel auch gut überlegt? Es ist ja nicht so, daß es unter den sinnlosen Schallprägungen, mit denen wir regelmäßig aus dem politmedialen Komplex bespaßt werden, nicht eine weite Auswahl gegeben hätte. Vom "atmenden Deckel" über "Asylkorrridore" habt ihr bislang eine bewunderswerte Kreativität entwickelt, die gegenwärtige Krisis mit allerlei sinnfreien Worthülsen zu umranken, mit denen auch niemand einen irgendeinen praktisch-konkreten Hintergrund verbinden konnte und deren spurloses Versinken nicht einmal bemerkt wurde. Aber damit war immer zumindest der Anschein, eine vage Ahnung eines semantischen Gehalt (se-man-tisch, liebe Tante SPD, ist ein schwieriges Wort. Sprach-Wissen-schaftler und Phi-lo-so-phen benutzen das, wenn sie sagen möchten, daß mit einer bestimmten Folge von Lauten auch ein Sinn verknüpft ist) verbunden. Und danach konnte eine solche Wortspende abgekürzt werden. Aber was verbindet das Publikum mit dem Silbenfall Ko-Ko? Komische Kobolde? Kosmische Konstante? Kontrolle und Korruption? Kontrafaktische Konterrevolution? Konkrete Kostenexplosion? Koks und Konterbande (schließlich dreht es sich um nichts Geringeres als die Bildung einer zukünftigen Regierung mit Sitz im dysfunkionalen Sündenbabel Berlin)? Die Auflösung als "kooperative Koalition" führt nicht zur begrifflichen Klärung: ist das das gleiche wie GroKo, nur mit neuem Etikett? Ein wahlweises Ja-und-Nein, je nach Gusto und Luftfeuchtigkeit? Spielt ihr gleichzeitig Regierung und Opposition, wie in den alten Science Fiction-Romanen von A. E. van Vogt, in denen sich der bekämpfte Diktator als Führer der Rebellen entpuppte? Schon um der Voldemort-Partei (sie, deren Name nicht genannt werden soll) nicht das Prärogativ des Haushaltsausschusses als dann größter Oppositionspartei zu überlassen? Oder ist dies bedeutungsloses Blasenwerfen, letzte Wirbelschleppen auf dem Weg ins Nirwana? Bei einem Scheffe, für den der "Wählerauftrag" in Sachen Regierungsbildung sich so darstellt

"Ich strebe keine Große Koalition an, ich strebe auch keine Minderheitsregierung an. Ich strebe keine Neuwahlen an. Ich streb gar nix an."

- darf ohne Zweifel eine gewisse buddhistische Haltung zu den Dingen des irdischen Jammertals und ihrer Transzendierung zum Zweck der Erlösung konstatiert werden (wenn die "Überwindung des Ichs" selbst einem Martin Schulz erreichbar ist, muß es sich bei den Lehren des Gautamo Buddho um wahrhaft potenten Stoff handeln). (Der Einwand, die Sphäre des Politischen sei gerade die Antithese buddhistischen Bemühens, trägt nicht. Umgekehrt wird ein Schuh draus: weil Politik bei uns nur noch als Substitut einer Erlösungslehre stattfindet, dessen einzig verbliebener fungibler Modus operandi die Generierung frömmelnder Sprachblase darstellt. Politik ist bei uns, im Zeitalter des postfakischen Anthropozäns, nur mehr als Fortsetzung des Kirchentags mit gleichen Mitteln zu haben.)

Was stellt sich nun ein durchschnittlich halbgebildeter Normsterblicher unter KoKo vor?

Bei ehemaligen Bewohnern des Großexperiments Sozialismus 1.0 auf deutschem Boden und (im Verlauf seiner Abwicklung) auch den Eingeborenen der elf Gebrauchten Bundesländer werden Erinnerungen an die KoKo wach, die Kommerzielle Koordination unter der Leitung von Alexander Schalck-Golodkowski, berüchtigt für die Monopolisierung und Kontrolle des Waren- und Geldaustausches zwischen Zone und Mausbereich, für krumme Deals bis hin zur Auslosung von politischen Gefangenen und Rentnern gegen Devisen und nicht zuletzt die beiden Milliardenkredite des Westens, die in den Achtziger Jahren das östliche Arbeiterparadies vor dem Kollaps bewahrten.

Sodann (wenn man beflissener Leser von Genreliteratur ist; den einzigen Niederungen der Schönen Künste, aus denen sich nachweislich Erkenntnis über die Sphäre des Politischen schöpfen läßt, von der Horrorliteratur bis zum Spionagethriller. Wer nie eine Regency Romance oder eine Harlequin Novel gelesen hat, einen Lore- oder Arztroman, wird die tiefe Tragik einer Gestalt wie Heiko Maas niemals erfasen können) ein alter Horrorroman von Peter Straub von 1988; Koko, der ein Jahr später mit dem World Fantasy Award ausgezeichnet wurde. Wikipedia (die in solchen Fällen ein durchaus respektables Recherchewerkzeug darstellt) referiert den Auftakt der Thrillerhandlung wie folgt:

"Shortly after the end of the Iranian Hostage Crisis, the newspaper Stars and Stripes publishes an article chronicling a series of brutal, ritualistic murders in Far East Asia. All of the victims have had their eyes and ears removed, and each was found with a playing card slipped into his or her mouth with the word "KOKO" written on it."
Kurz nach dem Ende der Geiselnahmen in der amerikanischen Botschaft in Teheran (das, liebe SPD, begann zu Weihnachten 1979 und zog sich fast ein Jahr hin; ihr habt zu der Zeit sogar einen Bundeskanzler gestellt, er hieß aber nicht Schröder) erscheint ein Zeitungsartikel über eine Reihe von brutalen Ritualmorden im Fernen Osten, bei denen den Opfern die Ohren abgeschnitten und die Augen ausgestochen wurden und eine Spielkarte mit dem four-letter word KOKO! in den Mund gestopft wurde. "Something from the past has risen from the darkness..." warnt der Klappentext. Nun, liebe Genossen, schon Bob Dylan hat euch vorgewarnt: "but to live outside the law you must be honest", und da ihr euch in den vergangenen Jahren für die Option entschieden habt, Gesetze von Schengen bis Gemeinschaftswährung nur noch als unverbindliche Vorschläge zu sehen, werdet ihr euch wohl an die rauheren Sitten ehrenwerter Gesellschaften gewöhnen müssen.

Als Drittes fällt unsereinem bei diesem Wörtlein ein Gorilla ein, von dem es heißt, daß er sprechen könne. Auch hier sei das große Wiki zitiert:
In contrast to other experiments attempting to teach sign language to non-human primates, Patterson simultaneously exposed Koko to spoken English from an early age. Reports state that Koko understands approximately 2,000 words of spoken English, in addition to the signs. ... . Reports state that Koko understands approximately 2,000 words of spoken English, in addition to the signs.
 Andererseits liest man dort:
Other researchers argue that Koko does not understand the meaning behind what she is doing and learns to complete the signs simply because the researchers reward her for doing so (indicating that her actions are the product of operant conditioning). Another concern that has been raised about Koko's ability to express coherent thoughts through signs is that interpretation of the gorilla's conversation is left to the handler, who may see improbable concatenations of signs as meaningful. 
Nun, liebe Genossen, das würde Euch nicht unterlaufen, daß ihr Lautäußerungen (oder Handzeichen bei Abstimmungen) tätigen würdet, ohne deren Sinn zu erfassen, nur weil es von oben so gewünscht wurde. Die Befragungen der Abgeordneten bei der Verabschiedung des Euro-Rettungsschirm im Juni 2012, ob ihnen der Inhalt des ESM-Vertrages und seiner Konsequenzen bewußt seien (und nein, sie waren es nicht), nehmen wir als die berühmte Ausnahme, aus der sich die Gültigkeit der Regel herleiten läßt. Auch daß sinnfreie Äußerungen von Multiplikatoren als Erweis tiefer Weisheit weitergegeben werdne, ist nicht euer Beritt, sondern der der Sonnenkanzlerin.

Der Kleine Zyniker könnte nun anmerken: na, liebe Genossen, wenn ihr mit solchen Assoziationen in Verbindung gebracht werden wollt, soll es ihm recht sein. Aber hier irrt der Kleine Zyniker™. Nein, liebe Genossen, man ist euch hier in diesem Netztagebuch auf die Schliche gekommen. KoKo bezieht sich eindeutig auf die Hauptgestalt der englischen Operette, der Savoy Opera "The Mikado" von W. S. Gilbert und Albert Sullivan von 1885, auf den Schneider Ko-Ko, der in einem imaginären japanischen Kaiserreich des 15. Jahrhunderts voller Klischees und schamloser Verzerrungen zum kaiserlichen Scharfrichter avanciert, nachdem der Mikado das heteronormative Flirten zwischen den ausschließlich binär kodierten Geschlechter zum todeswürdigen Vergehen erklärt hat, das mit der Abtrennung des Kopfes vom Rumpf zu ahnden ist. (Man kann sich, nebenbei, über die Hellsichtigkeit viktorianischer Science Fiction nicht genug wundern, von Samuel Butlers Erewhon, or Over the Range von 1872, in dessen Utopia Maschinen verboten wurden, weil ihre Evolution die Zukunft der Menschheit gefährdet und wo jedes Verbrechen als therapiebedürftige Erkrankung gilt, jede Erkrankung hingegen als strafwürdiges Verbrechen, bis hin zu H. G. Wells' The Time Machine von 1895 mit ihrer Beschreibung einer zukünftigen Menschheit, die in brutale, rein instinktgeleitete Morlocks ohne einen Funken von Intelligenz und auf ewig kindische Eloi, denen die Segnungen des technischen Fortschritts Sinn und Verstand geraubt hat und die ihnen schutzlos ausgeliefert sind.) Bei G+S wird das Dilemma Ko-Kos, der als erster auf der Liste der von ihm selbst zu Exekutierenden auftaucht, dadurch gelöst, daß Hinrichtungen nur noch auf dem Papier vollzogen werden und dieser Akt stellvertretend für ein realiter stattgehabtes Geschehen gewertet wird. 

Über die Genese der komischen Oper im Jahr 1883, der neunten in der Reihe der 14 Savoy Operas, unverbrüchlichen Klassikern des englischen Musiktheaters, an denen Gilbert und Sullivan zusammenarbeiteten, erfahren wir wiederum aus Wikipedia: "Gilbert, who had already started work on a new libretto in which people fall in love against their wills after taking a magic lozenge..." (Diese "lozenge" meint eine Zaubermedizinpille, einen Liebeszauber, nach der Form, die oral zu verabreichenden Konkoktionen gegeben wurde; Salmiakpastillen erinnern noch heute daran, aber natürlich meint eine "magic lozenge" im Englischen wörtlich eine "magische Raute"). Viele musikalische Nummern zählen bis heute zu den Stücken, die in der Anglosphäre (und in den USA womöglich noch mehr als in England selbst) schlicht jedermann geläufig sind, von Ko-Kos erstem Auftritt, "Behold the Lord High Executioner"

Behold the Lord High Executioner
A personage of noble rank and title -
A dignified and potent officer,
Whose functions are particularly vital!
Defer, defer,
To the Lord High Executioner!

[Enter KO-KO]
KO-KO
Taken from the county jail
By a set of curious chances;
Liberated then on bail,
On my own recognizances;
Wafted by a favouring gale
As one sometimes is in trances,
To a height that few can scale,
Save by long and weary dances;
surely, never had a male
Under such like circumstances
So adventurous tale
Which may rank with most romances.



bis hin zur "kleinen Liste", in der all die prospektiven Übertäter geführt werden, die das Gerechtigkeitsempfinden der neuen Ära stören:

KO-KO
As some day it may happen that a victim must be found,
I've got a little list — I've got a little list
Of society offenders who might well be underground,
And who never would be missed — who never would be missed!
There's the pestilential nuisances who write for autographs —
All people who have flabby hands and irritating laughs —
All children who are up in dates, and floor you with 'em flat —
All persons who in shaking hands, shake hands with you like that —
And all third persons who on spoiling tête-á-têtes insist —
They'd none of 'em be missed — they'd none of 'em be missed!
  
CHORUS
He's got 'em on the list — he's got 'em on the list;
And they'll none of 'em be missed — they'll none of 'em be missed.

KO-KO
There's the nigger serenader, and the others of his race,
And the piano-organist — I've got him on the list!
And the people who eat peppermint and puff it in your face,
They never would be missed — they never would be missed!
Then the idiot who praises, with enthusiastic tone,
All centuries but this, and every country but his own;
And the lady from the provinces, who dresses like a guy,
And who "doesn't think she dances, but would rather like to try";
And that singular anomaly, the lady novelist
I don't think she'd be missed — I'm sure she'd not be missed!

Eric Idle hat es sich erlaubt, den Straftäterkatalog behutsam, aber im Sinne des komödiantischen Grundgesetzes zu modernisieren (für Historisch nicht ganz Beschlagene, liebe SPD, sei angemerkt, daß seine Einleitung den Gestus von Neville Chamberlains "Peace in our time" parodiert):



"My object all sublime / I shall achieve in time / to make the punishment fit the crime" ist bis heute im Englischen stehende Wendung.

My object all sublime
I shall achieve in time —
To let the punishment fit the crime —
The punishment fit the crime;
And make each prisoner pent
Unwillingly represent
A source of innocent merriment!
Of innocent merriment!

All prosy dull society sinners,
Who chatter and bleat and bore,
Are sent to hear sermons
From mystical Germans
Who preach from ten till four.

The billiard sharp who any one catches,
His doom's extremely hard —
He's made to dwell —
In a dungeon cell
On a spot that's always barred.

(Wer hätte sich träumen lassen, daß frivole englische Spekulation vor 130 Jahren, liebe Genossen, den Punkt eures Regierungsprogramms ausbuchstabieren würde, den ihr, denkt man an eure Ankündigungen, einem jounalistischen "deutschen Patrioten" (S. Gabriel) zugedacht habt? Solltet ihr diesbezüglich eure Meinung ändern, solltet ihr stattdessen Die Entführung aus dem Serail in zeitgemäß gengenderter zum Regierungsprogramm erheben.)

* * *

Und natürlich könnte es auch sein, liebe Genossen, daß nichts davon zutrifft, sondern daß ihr nur sicherstellen wolltet, in allen Blättern alsbald die Headline "das war KoKolores!" lesen zu können. 
  

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Ulrich Elkmann

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