Dieses Lied bedarf keiner Textübertragung.
Es handelt sich nämlich um eine wortgetreue Übersetzung der Verse Josef Mohrs (1792-1848), zu denen Franz Xaver Gruber (1787-1863) 1816 die Melodie des wohl bekanntesten Weihnachtslieds überhaupt schrieb.
平安夜 聖善夜
萬暗中 光華射
照著聖母也照著聖嬰
多少慈祥也多少天真
靜享天賜安眠
靜享天賜安眠
平安夜 聖善夜
píng'ān yè shèngshàn yè
wàn ànzhōng guānghuá shè
zhàozhe shèngmǔ yě zhàozhe shèng yīng
duōshǎo cíxiáng yě duōshǎo tiānzhēn
jìng xiǎng tiāncì ānmián
jìng xiǎng tiāncì ānmián
píng'ān yè shèngshàn yè
Das 平安夜/píng'ān yè, unter dem das Lied im Chinesischen allgemein bekannt ist, besteht aus den Komponenten 夜,yè, der Nacht, und 平/píng, das nicht nur "gleich" und "eben" bedeuten kann, sondern eben auch "ruhig" und "friedvoll" sowie 夜/ān: "sicher", "friedlich", "ruhig" - es handelt sich also um eine Verstärkung durch semantische Reduplikation. Daß es sich um eine tatsächlich wörtliche Übertragung handelt, kann man gut an der wiederholten vorletzten Zeile sehen: 靜享天賜安眠 - jìng xiǎng tiāncì ānmián: 靜, jìng "ruhig, still, unbewegt" - 享, xiǎng "sich an etwas erfreuen, von etwas Nutzen haben" - 天賜, tiāncì "vom Himmel, 天, gegeben" - 安眠, ānmián "friedlich (es ist das gleiche 安 wie im Liedtitel) schlafen": also "schlaf' in himmlischer Ruh'." Der Protokollant vermutet freilich, daß als Vorlage nicht die deutsche, sondern die englische Textfassung gedient haben könnte: wo es im Original nämlich "alles schläft, einsam wacht" heißt, bildet das 萬暗中 - 光華射/wàn ànzhōng - guānghuá shè, "alles ist dunkel/alles ist ruhig - helle Pracht leuchtet auf" den Textgestus des "all is calm, and all is bright" nach.
Yao Li, die diese Aufnahme 1947 in Shanghai für die Firma Pathé Records aufgenommen hat, gehörte zu dem Siebengestirn der "sieben großen singenden Sterne" (七大歌星 qī dà gēxīng; ja, auch der "Stern", 星, bezeichnet im Chinesischen nicht nur den Himmelskörper) des Shidaiqu, des populären Amalgams aus moderner westlicher Unterhaltungsmusik mit chinesischen Texten und Themen der 1930er und 40er Jahre, neben Bai Guang (der "Königin der tiefen Stimme", Bai Hong (dem "weißen Regenbogen"), Gong Qiuxia, Wu Yingyin, Li Xianglan, Zhou Xuan (der "Goldenen Stimme"), der berühmtesten Sängerin unter ihnen und so etwas wie der erste chinesische Superstar. Darunter waren nicht wenige Adaptationen und Übersetzungen populärer Lieder. 姚莉, Yao Li, 1922 als Yáo Xiùyún in Shanghai geboren, ist die letzte noch Lebende aus diesem Gestirn, das, zusammen mit den Filmen, der Literatur und Kultur jener Zeit, im chinesischen kollektiven Gedächtnis die gleiche Färbung angenommen hat wie die Roaring Twenties im Westen oder etwa das Berlin der Weimarer Republik im deutschen. Yao Li, deren populärer Spitzname 銀嗓子, die "silberne Stimme", als Kontrast zur goldenen Stimme von Zhou Xuan gemeint war, nahm ihre erste Schallplatte mit 14 auf und wurde zwei Jahre später von Pathé Records unter Vertrag genommen, ihr Bruder, Yao Min (1917-1967) dürfte, dem Pi-mal-Daumen-Gefühl nach, aufgrund der Frequenz, mit der sein Name zwischen den frühen vierziger und den sechziger Jahren unter den populären Liedern der Zeit erscheint, locker für die Hälfte davon als Tonsetzer verantwortlich gewesen sein. Beide Yaos flohen nach der Machtübernahme der Kommunisten 1950 nach Hongkong; nach seinem Tod trat sie drei Jahre lang nicht auf; offiziell hat sie ihre Gesangskarriere 1975 beendet. Ales in allem dürfte sich ihr Oeuvre auf rund 400 Aufnahmen belaufen.
Pathé Records war in Shanghai zwischen 1932 und 1949 eines der beiden großen Schallplattenstudios; ein Ableger des Pariser Mutterhauses; das andere, EMI China, war eine Tochtergesellschaft der Londoner EMI; beide hatten eigene Studioorchester, die die Sänger (zu geschätzten 85 Prozent Sängerinnen - Yao Min zählte zu den Ausnahmen) begleiteten; die EMI beschäftigte zumeist professionelle Musiker aus London, während Pathé vielen russischen Exilanten Heimat bot, die vor der Oktoberrevolution und dem anschließenden Bürgerkrieg Zuflucht in Ostasien gesucht hatten - zunächst in Harbin, dann ab Ende der 1920er Jahre zunehmend in Shanghai. Ob die im vorrevolutionären Rußland mit Hingabe gepflegte europäische Musiktradition dazu beigetragen hat, daß die Jazz- und Swingphrasierungen des Shidaiqu auf den Produktionen aus dem Haus Pathé einfach schmissiger, mit mehr Körper und Klang gespielter anhören, bleibe dahingestellt. Nach 1949 galt diese Musik, mit ihrer westlichen Ausrichtung, und mit der Erinnerung ans Nachtleben, an leichtfertige und unbekümmerte Unterhaltung, der kommunistischen Regierung unter Mao Tse-tung und Tschou En-lai als dekadent, als "gelbe Musik". 1952 wurden sowohl Pathé wie EMI "verstaatlicht", also kurzerhand geschlossen; die Aufnahmematrizen unter schlechtesten Lagerbedingungen schlicht weggeschlossen; eine Inaugenscheinnahme eines Musikhistorikers von 1999, unter den längst wieder liberaleren Bedingungen des "Neuen China" ergab, daß von den rund 6000 Pressmatrizen aus dem Bestand von Pathé, von denen gut ein Drittel dieser Populärmusik zuzuordnen war, keine die Jahrzehnte überstanden hatte. Daß diese Musik heute wieder hörbar ist wie am ersten Tag, ohne die Patina von Staub und Abnutzung, verdankt sich den digitalen Restaurationstechniken und -algorithmen des Computerzeitalters. (Und daß diese Schätze jetzt, in Sekundenschnelle, jedermann auf der ganzen Welt zugänglich sind, daß sie wirklich, ganz im Wortsinn Teil des Welterbes, des kulturellen Gedächtnisses der Menschheit geworden sind, verdanken sie dem größten Musikarchiv der Menschheitsgeschichte, dem so oft perhorreszierten YouTube. Es ist oft gelästert worden, im Zuge der "Digitalisierung" werde die Menschheit ihr kulturelles Gedächtnis verlieren; die Bibliothekskultur werde hinfällig, der Fundus des dort gespeicherten Weltwissens sei dann kurzlebigen, flüchtigen, fortwährend von Absturz und Ausfall bedrohten Speichermedien anheimgegeben. Im Fall dieser Musik haben wir einen Testfall für diese spezielle Ausprägung des Kulturpessimismus vor uns. Hier haben wir ein versunkenes akustisches Atlantis vor uns, nicht nur von der vergehenden Zeit versenkt, sondern mit Absicht aus der Geschichte der eigenen Kultur gestrichen und dem Rest der Welt nicht einmal als Verlustmeldung präsent. Wie ersichtlich, hat die Technik das Match gegen die Schwarzmalerei ohne jede Anstrengung zu ihren Gunsten ausgetragen.)
平安夜 erschien 1947 als A-Seite einer 78er-Schellack-Platte unter der Nummer 35967-A; die B-Seite bildete ein ebenfalls in unseren Breiten nicht ganz unbekanntes Lied zum Thema:
Apropos Schellack: gewissenhaften Kultursensibilisten, unter die sich der Protokollant rechnet, stellt sich die Frage, ob es zulässig ist, daß Zeitgenossen, die auf eine vegane Lebensführung wert legen, zugemutet werden darf, sich Klängen auszusetzen, die mit Hilfe solcher Tonträger aufgewahrt worden sind. Zum Thema Schellack weiß jenes andere moderne Kompaktgedächtnis des Cyberzäns, Wikipedia, mitzuteilen:
Dies ist die Version von Tsin Ting:
張伊雯, Zhang Yiwen (deren berühmtestes Lied ihre Interpretation des taiwanesischen Volkslieds über die "Mädchen von Alishan" von 1971 ist), mit einer englischen gesungenen Version:
"Schellack, Tafellack, Plattlack oder Lacca in tabulis, auch fälschlich als Gummi Lacca (Gummilack) und Lackharz bezeichnet, ist eine harzige Substanz, die aus den Ausscheidungen der Lackschildlaus Kerria lacca (Pflanzenläuse, Familie Kerridae) nach ihrem Saugen an bestimmten Pflanzen gewonnen wird. ... Kolonien von Lackläusen parasitieren auf verschiedenen Bäumen, meist Pappelfeige Ficus religiosa, Ficus indica, und Jujube Zizyphus jujuba, Indische Jujube Ziziphus mauritia und Malabar-Lackbaum Butea frondosa, Kusumbaum Schleichera oleosa, Regenbaum Samanea saman sowie Croton lacciferus. Die Weibchen der Lackschildläuse ernähren sich von den Pflanzensäften dieser Bäume, sie stechen den Baum an, nehmen seinen Saft auf und scheiden die harzartigen Substanzen über ihren Körper wieder aus, der Saft wird in der Laus chemisch verändert. Jede weibliche Laus sondert Saft ab, um die gelegten Eier zu schützen. Der Lack von tausenden Läusen verbindet sich zu einer harten Hülle über den Schwarm. Die mit Unmengen solcher Läuse dichtbesetzten Zweige werden allmählich bis zu 1 cm dick überkrustet und dadurch selbst zum Absterben gebracht. Die alten Läuse, die zu einer mit roter Farbe gefüllten Blase aufgeschwollen sind, sterben ab; nach 6 bis 7 Monaten schlüpfen die jungen Läuse aus der Hülle heraus. Nach dem Schlüpfen werden die Zweige mit dem Lack geerntet, diese Harzabscheidung ist das Ausgangsprodukt für die Schellackgewinnung. Bevor der Brutlack geerntet wird, werden rechtzeitig einige mit Jungläusen bewohnte Zweige abgeschnitten und auf neue Bäume gesetzt, um Nahrung für die nächste Generation zu bieten.
"Schellack wurde – solange Kunststoffe noch nicht erfunden waren – bei der Herstellung (als Oberflächenversiegelung oder Bindemittel in der Masse) von Schallplatten (von 1895 bis um 1961) verwendet. Daher im Sprachgebrauch noch als Schellackplatten bekannt."
Dies ist die Version von Tsin Ting:
張伊雯, Zhang Yiwen (deren berühmtestes Lied ihre Interpretation des taiwanesischen Volkslieds über die "Mädchen von Alishan" von 1971 ist), mit einer englischen gesungenen Version:
Und schließlich, um den Bogen zu den "7 Sternen" zurückzuführen, eine auf Japanisch gesungene Version von Yoshiko Yamaguchi, die sich weiter oben unter ihrem chinesischen Namen Li Xianglan findet. Sie war die Tochter japanischer Auswanderer in die Mandschurei; als großer Film- und Gesangsstar der frühen 40er Jahre war ihre Herkunft dem Publikum nicht bekannt; nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs bewahrte sie diese felix culpa davon, von der chinesischen Nationalregierung als chinesische Kollaborateurin angeklagt zu werden.
U.E.
© Ulrich Elkmann. Für Kommentare bitte hier klicken.