Derzeit wirbt ein Verlag mit einer 30 cm großen Anzeige für ein Weihnachtsbuch mit diesem Rilke-Vers: „Es gibt so wunderweiße Nächte, drin alle Dinge Silber sind./ Da schimmert mancher Stern so lind,/ als ob er fromme Hirten brächte zu einem neuen Jesuskind.“
Wer ist dieses neue Jesuskind? In Friedrich Schleiermachers „Weihnachtsfeier“ war es, gendergerecht schon damals (1806), ein musikalisch begabtes kleines Mädchen als Symbol für eine christlich-festliche Geselligkeit. Schleiermacher wurde lange unterschätzt oder sogar als halber Atheist verdächtigt. Jetzt gilt er als der Kant in der Theologie.
So sagte es z.B. Kurt Nowak (Schleiermacher, Göttingen 2001, 22002, 478). Noch Karl Barth hatte vor hundert Jahren in ihm nur einen genialen Irrläufer sehen können, während der große Tübinger katholische Dogmatiker J.E. von Kuhn ihn schon 1839 neben Thomas von Aquin gestellt hatte (Theologische Quartalschrift, 399). Seit 50 Jahren ist er nun wiederentdeckt als schöpferischer Theologe, der auf die neue Sicht des Universums und auf Hegels Philosophie antworten wollte. Hegel hatte gegen ihn 1822 geschrieben: Wenn das Gefühl der Abhängigkeit Grund der Religion sei, „so wäre der Hund der beste Christ“ (Nowak 414). Schleiermacher antwortete mit dem Ersatz des Wortes „schlechthinnige Abhängigkeit“ durch das Wortungetüm „Sichnichtselbstsogesetzthaben“. Immerhin eine gute Differenzierung. Ihm ging es um die Transzendenz in der Immanenz und daher um die Verwirklichung der Begriffe „Reich Gottes“ und „Kirche“. Er wollte mehr als eine bloße Kulturreligion. Er wollte nicht, wie man argwöhnte, die Transzendenz auf den Menschen zurückführen, sondern zeigen, dass und wie sie in der Immanenz wirken und die Gesellschaft heilen kann. Er versuchte sich also am großen Programm: Glaube und Vernunft zu einen, Christentum und Wissenschaft, Dogma und Gegenwart, Freiheit und Gemeinschaft.
In dem belletristischen Aufsatz „Weihnachtsfeier“ versetzt er die Leser in eine großbürgerliche Weihnachtsstube: Die Familie ist mit Freunden versammelt, darunter ist ein aufgeklärter Apotheker. Man wird durch die kleine Tochter, durch die Frauen und durch die Gesprächsbeiträge der Männer aus dem üblichen Weihnachtsbrauchtum zu einem tieferen Sinn des Festes geführt: „Verkündigung eines neuen Lebens für die Welt“, so dass zur Erfreuung „auch in unserm Leben sich etwas neues bedeutend regt“ (Halle 1806, 23).
Was heißt für Schleiermacher Kinderfest und heilige Familie? Die Frauen zeigen sich als die Seele des Festes, sie besitzen eine höhere Empfindung als die Männer, sie erziehen wie Maria das Kind. Menschwerdung Gottes bedeute, dass der Mensch wie ein Kind staunen soll. Die Männer halten Reden nur über die Idee des Erlösers. War Jesus nicht einfach der Anfänger für das, was alle werden können? „In Christo sehen wir also den Erdgeist zum Selbstbewußtsein in dem einzelnen sich ursprünglich gestalten“ (130).
Diese Aussage verhöhnten viele Zeitgenossen, schon wegen des Wortes Erdgeist. Aber auch für die zweite Ausgabe 20 Jahre später behielt Schleiermacher die Erdgeist-Metapher für den „Menschen an sich“ bei und für Christus fügte er hinzu „Geist nach Art und Weise unserer Erde“ (Berlin 1826, 143).
Es ging ihm also um eine Christologie von unten, wie man heute sagen würde: Der Jude Jesus als die höchste Blüte der Menschheit auf dem Gebiet der Gotteserfahrung. Menschliche Weisheit war zugleich die Offenbarung Gottes. „Alles ist natürlich in dem einen Sinne und übernatürlich in dem andren. Selbst daß der Sohn Gottes Mensch geworden ist, muß in einem höheren Sinn natürlich sein“ (Schleiermacher an Charlotte von Kathen vom 9. Januar 1817).
Die kleine Tochter der Gastgeber der Weihnachtsfeier heißt bezeichnenderweise Sofie. Sie hatte die Krippe aufgebaut. Vordem gab es an der protestantischen Krippe Zutaten aus der Geschichte der Kirche wie Kreuzzugsepisoden, Verbrennung des Jan Hus, Luthers Verbrennung der Bannandrohungsbulle, der herrnhutische Friedhof und das Hallische Waisenhaus. Jetzt sind die Geburt des göttlichen Kindes und seine Familie in die Mitte gerückt und die nachaufgeklärte Frage nach der Notwendigkeit eines Erlösers und der Erfahrbarkeit eines gesteigerten Daseins des Menschen auf diesem Planeten. Das Kind vermisst auf den Weihnachtsbildern einen Regenbogenschein über der Szene (beliebtes Symbol auch in der heutigen Religionspädagogik), „weil doch, sprach sie, der Christ der rechte Bürge ist, daß Leben und Lust nie mehr untergehen werden in dieser Welt“ (10). Das wahre Menschliche und das Christliche gehören für Schleiermacher zusammen; die christliche Freude ist vollendete Menschlichkeit; wir alle können Kinder Gottes sein.
Jesu Familie, so der Autor, sei die Kirche gewesen, dort waren seine Freude und sie war auch seine Braut (61). Schleiermacher versteht die Ekklesia als Partialgestalt, aber als Sauerteig in dem Ganzen der Gesellschaft. Sein Anliegen war, nach der Aufklärung und Abwendung der Gebildeten von der tradierten Kirche zu zeigen, dass Humanum und Christentum zusammengehören.
Karl Barth, der größte Vertreter der „Dialektischen Theologie“, meinte 1925, bei Schleiermacher sei Christus nur Mensch und lief Sturm gegen den liberalen Theologen. Er erkannte in seiner Wut nicht, worum es in Schleiermachers Denkform gegangen war: um die Frage, wie denn die Offenbarung von oben im Konkreten von unten her, von Menschen erkannt und formuliert werden und zum „Gotteswort“ aufsteigen konnte.
Der wirkliche Mangel oder Halb-Fehler Schleiermachers liegt woanders. Die Lücke klafft bei der jüdischen Vorgeschichte Jesu. Er hielt sie für bedeutungslos. Was das alte Israel in einem guten Jahrtausend an Religionskritik geleistet hatte, machte aber doch die letzten Schritte eines Jesus und eines Paulus erst möglich! Die jüdische Wurzel war allgemein einfach verdrängt worden. Es gab in seiner bürgerlich-protestantischen Pfarrhaus- und Universitätswelt keinen Dialog mit dem Judentum.
Dabei saßen unter den Hörern dieses Professors auch Juden, getaufte und ungetaufte. Man könnte formulieren: Er sah Jesus nur als neuen Adam, aber nicht als neuen Mose. Im Wintersemester 1923/24 hatte Barth seinen Studenten eine Kritik der Theologie Schleiermachers vorgetragen. Er zeigt sich durchaus angetan von dessen Betonung der Bedeutung der christlichen Festfreude und Geselligkeit. Barth erwähnt die Rührung der Gäste, als einmal an einem Weihnachtsabend ein Kind von seinem Vater getauft wurde oder als ein todkrankes Kind am Weihnachtsabend genas, aber er kritisiert dies als falsche Mitte, als vertausche Schleiermacher das Jesuskind mit jedem Kind.
Auch im Männergespräch kommt die Bedeutung von Fest und Freude im Christentum in den Blick und wird inhaltlich von Barth zitiert: Die Freude rührt von dem Faktum des Erlösers her, der uns geboren wurde als „als der treueste Götterbote, als der lieblichste Friedensfürst“ (Karl Barth, Gesamtausgabe III/19: Vorträge und kleinere Arbeiten 1922-1925, 479). Doch Christus scheint ihm in dieser Leonhard-Rede noch zu sehr nur ein Paradigma unserer eigenen erhöhten Menschlichkeit zu sein.
Es gibt aber bei Schleiermacher eine dritte Rede an diesem Weihnachtsabend, die Eduards. Barth übersieht, dass jener hier das zentrale Weihnachtsgeheimnis zu beschreiben suchte und sich der vermissten „weihnachtliche Mitte“ (483), dem Erreichen einer vollen Gott-Mensch-Beziehung auch für aufgeklärte Postchristen seiner Zeit zu nähern suchte.
Ohne Vermittlung des historischen Weges der Juden und des jüdischen Jesus ist dies aber unmöglich. Barth ist kulant: „Lassen wir die Bezeichnung Christi als des ‚Erdgeistes‘ als romantische Originalität unbeanstandet.“ Aber er duldet nicht, was der Gesprächsteilnehmer Leonhard sagte: Ebenso seien auch wir selbst insgesamt Gotteskinder (485). Barth unterstellt dieser Folgerung aus der Gottessohnschaft Jesu eine Anthropologisierung.
Es kommt aber noch Josef als dritter Redner zu Wort. Dieser weist auf die sich gerade begebende Erfahrung des Weihnachtsfestes hin: Die Musik des kleinen Mädchens und das Ewig-Weibliche hätten alle beseligt, mehr als die Reden der Männer. Was die Frauen und die Kinder schon haben, müssten auch die Männer lernen. Barth, der jeden Schreibtag mit einer Mozart-Musik beginnen ließ, bricht hier ab und sagt nur nochmals, aber die Glaubenslehre Schleiermachers sei verkürzt.
Wird es heute gelingen, die Vernunft einer wahren Aufklärung mit dem biblischen Glauben zu versöhnen? Angesicht des sogar kirchlichen Antisemitismus, der eine zu billige Friedenslösung sucht und Jerusalem seine Ehre nicht gönnt, habe ich nochmals in Schleiermachers berühmtes Buch „Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern" (1799) geschaut. Dort vergleicht er auch Judentum und Christentum.
Er schreibt: „Der Judaismus ist schon lange eine tote Religion“, sein schöner Anfang sei verschüttet worden. „Vergeßt das ganze Experiment den Staat anzuknüpfen an die Religion.“ Auch die Polemik gegen den strafenden Gott sei berechtigt. Schleiermacher lobt aber auch: die jüdische Entdeckung der Geschichte „vorgestellt als ein Gespräch zwischen Gott und den Menschen in Wort und Tat. (…) Von dieser Ansicht rührt es her, daß in der jüdischen Religion die Gabe der Weissagung so vollkommen ausgebildet ist als in keiner andern; denn im Weissagen sind doch die Christen nur Kinder gegen sie.“ (Philos. Bibliothek Bd. 255, 159-160)
Schließlich stellt dieses Buch Schleiermachers das dem Jüdischen und Christlichen Gemeinsame heraus: beider Unterscheidung zwischen den Religionen in deren Grenzen, weil Leben und Glaube dort nur partiell zusammenkommen, und der biblischen Vereinigung von Endlichem und Unendlichem andererseits. Der biblische Glaube habe auch die Kraft, das Gute von überall her sich beizugesellen. Das Christentum verschmähe den Despotismus, alle beherrschen zu wollen. Seine jetzige Krise müsse zu einer neuen Gestalt führen (163-173). Zuvor hatte er diese schon angedeutet: „Mitten in der Endlichkeit Eins werden mit dem Unendlichen und ewig sein in einem Augenblick“ (74). Und anschaulicher erträumt: „Ich wollte ich könnte Euch ein Bild machen von dem reichen schwelgerischen Leben in dieser Stadt Gottes, wenn ihre Bürger zusammenkommen, jeder voll eigner Kraft, welche ausströmen will ins Freie, und voll heiliger Begierde alles aufzufassen und sich anzueignen, was die Andern ihm darbieten mögen“ (101).
Das wirkt nur scheinbar überholt. Der 1943 hingerichtete Hans Scholl schrieb nach einem Leseabend im Haus des „Hochland“-Herausgebers Carl Muth im Januar 1942, bei dem Theodor Haecker aus John Henry Newman vorlas, in einem Dankesbrief: „Ich bin erfüllt von der Freude, zum ersten Mal in meinem Leben Weihnachten eigentlich und in klarer Überzeugung christlich zu feiern. Ich spüre einen sicheren Hintergrund und ich sehe ein sicheres Ziel. Mir ist in diesem Jahr Christus neu geboren.“
© Ludwig Weimer. Für Kommentare bitte hier klicken.