22. Dezember 2017

Jahreszeitenklang: 白色聖誕 - báisè shèngdàn

Besteht eigentlich die Gefahr, daß im verminten Geländer der PC, der Politischen Korrektheit, die man, aus guten, sachlich triftigen Gründen und aufgrund der schieren Genervtheit ob der Penetranz, mit der man von ihren Vertretern behelligt wird, ganz unweihnachtlich zum Teufel wünschen mag, und zwar rund um die Uhr und ganzjährig - mit der wir aber, for the time being, vorerst und wohl auch auf Jahre oder Jahrzehnte hinaus, geschlagen sind - besteht also das Risiko, daß im Frostklima der "verstatteten Diktion" selbst ein so harmloses Faktum wie die Rückstrahlfähigkeit von Dihydrogenmonoxid in Bereich des sichtbaren Lichts in festem Aggregatzustand den Türstehern und Conciergen zum Gegenstand des Ärgernisses gereicht? Mit anderen Worten: könnte es so weit kommen, daß die Erwähnung der Tatsache, daß Schnee dem menschlichen Auge als weiß erscheint, übel notiert wird, als zumindest latenter Rassimus?

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Auf den ersten Blick wurde dieser wohl ultimate Tiefstand mentaler Verdunkelung in der vorigen Woche erreicht; natürlich im universitären Milieu, das aus diversen, historisch gewachsenen Gründen für derlei "Trallafitti" (U. Lindenberg) besonders anfällig ist. Das University College London geriet kurzfristig in den Fokus der stets latent in den Sozialen Medien schwelenden Empörungsbereitschaft, die jede offene Flanke gnadenlos als Einfallstor nutzt. (Was, um in der Jahreszeit zu bleiben, an Christian Morgensterns Bild denken läßt: "Ein Schnupfen hockt auf der Terrasse / auf daß er sich ein Opfer fasse, / und stürzt alsbald mit großen Grimm / auf einen Menschen namens Schrimm.") Nach der Entschuldigung des Colleges für eine launig formulierte Mitteilung auf dem Kurznachrichtendienst Twitter befand etwa Peter Snow, ebenfalls auf Twitter: "White snow is now racist" auf die Meldung "'Snowflake students' get University to apologize for calling snow white"

Nun, ganz so geistfrei war es denn doch nicht: Das College hatte angesichts der weißen Niederschläge, die das Atlantiksturmtief Yves am zweiten Adventssonntag über der Insel deponiert hatte, darauf hingewiesen, daß man ungeachtet der Wetterunbillen geöffnet habe:

UCL @ucl 11 Dec
Dreaming of a white campus? Our campuses will be open and operating fully today, Monday 11 December, so please make your way as planned. (We can't guarantee snow but we'll try!)
#snowday #londonsnow

Nun sollte man meinen, daß in diesem Zusammenhang nur wirklich Merkbefreite dieses zugegeben leicht unglücklich formulierte "Träumen von einem weißen Campus" (mit dem eben nicht nur das Gelände der Universität, sondern eben auch die Institution in toto gemeint sein kann) als rassistisches Verlangen verbuchen könnten. Aber wie winterliche Terrassen das natürliche Habitat für Schnupfen darstellen, so finden sich solche Zeitgenossen im Weltnetz - angefangen von einem Bewerber um den Godwin-Award (jener Regel, die besagt, daß bei jedweder Kontroverse im Netz über kurz oder lang jemand den Namen des Unaussprechlichen anrufen wird): “You know who else dreamt of a white campus? Hitler, that’s who. Disgusting."  Das College sah sich prompt im Versuch der Schadenbegrenzung:

UCL @ucl
We chose our words very poorly yesterday when thinking of this song: http://bit.ly/2z3Te52. We're sorry and we'll choose our words more carefully in the future.
5:48 PM - Dec 12, 2017

- mit einem Link zu einem YouTube-Video von, wir dachten es uns schon, dem wohl weltweit bekanntesten oder jedenfalls am meisten verkauften Weihnachtslied des 20. Jahrhunderts, Bing Crosbys Aufnahme von Irving Berlins "I'm Dreaming of a White Christmas", von dem seit seinem Erscheinen von 75 Jahren (am 30. Juli 1942, um genau zu sein; niemand weiß, warum sein Vertragslabel ausgerechnet die heißeste Jahreszeit dafür ausgesucht hat) allein von der Version Crosbys weltweit mehr als 50 Millionen Tonträger verkauft worden sein sollen; was es zur am meisten verkauften Schallplatte überhaupt machen würde (um genau zu sein: die Version, die heute zumiest gespielt und verkauft wird, ist die zweite, die Crosby fünf Jahre später, am 19. März 1947, eingespielt hat; sie ist immerhin zwei Sekunden länger).

I'm dreaming of a white Christmas
Just like the ones I used to know
Where the treetops glisten and children listen
To hear sleigh bells in the snow

I'm dreaming of a white Christmas
With every Christmas card I write
May your days be merry and bright
And may all your Christmases be white

Dem Protokollanten will es scheinen, daß es durchaus gute Gründe gibt, den Traum von der Weißen Weihnacht nicht gutzuheißen, allerdings nicht aufgrund des latenten Rassimus derjenigen, die die Naturgesetze so eingerichtet haben, wie sie den Erdlingen nun einmal übergekübelt worden sind: man sehe sich den Regenbogen, das Symbol der Diversity, einmal an: gibt es dort eine Farbe "weiß"? Mitnichten. Nirgendwo. Rot, orange, gelb, grün, blau: ja. Aber kein Weiß. (Man komme mir bitte nicht mit Vokabeln wie "Farbaddition"; als PC-Befleißigtem ist es obligatorisch, von dergleichen Dingen nichts zu verstehen und dahinter eine Verschwörung toter weißer (!) Männer zu vermuten.) Sondern weil die Aussicht, am Morgen des ersten Weihnachtstages den Gehsteig von "weißem Dreck" (Herbert Rosendorfer) freiräumen zu müssen, auf die Festtagsstimmung die gleiche Wirkung zeitigt wie Feinrippunterhosen auf die Libido. (Beseit gesprochen: nein, dies ist kein Seitenhieb auf die FDP-Führung.)

Wie verhält es sich nun in anderen Zungen (oder Kulturen: in denen die traditionelle symbolische Belegung von Farben durchaus anders gewichtet sein kann; man sollte aber nicht übersehen, daß auch bei uns diese Belegungen durchaus nicht eindeutig sind und wechseln können)? In Fall von "White Christmas" ist mir nur eine fremdsprachige Coverversion bekannt, so daß der Text den changierenden Umständen, unter Umständen, Rechnung tragen könnte. Mona Fong, der an dieser Stelle vor ein paar Wochen ein Nachruf gewidmet wurde, hat sie Anfang der sechziger Jahre aufgenommen - in einer Übertragung ins Mandarin.



我陶醉在那美夢中,
靜聽那聖誕晚鐘,
窗外白雪飄飄飛過,
那窗內人兒滿臉笑容。
我仰望天空,
月光閃耀著銀色光芒,
象徵幸福到我夢中,
祝福聖誕快樂無窮。

Ich bin verzaubert von diesem süßen Traum
wenn ich die Weihnachtsglocke abends höre.
Draußen vor dem Fenster fällt wirbelnd der Schnee,
Und von drinnen schauen die Kinder lachend zu.
Ich sehe den Himmel, das silberne Mondlicht
Als Zeichen des Glücks in meinem Traum.
Ich wünsche euch eine glückliche Weihnacht für immer.

Im Titel, 白色聖誕, báisè shèngdàn, steckt jedenfalls die "weiße Weihnacht" sprachlich ungebrochen: 白, bái meint "weiß", der Zusatz 色, sè, zeigt an, daß die Farbe selbst gemeint ist, also etwa "weißfarben"; 聖, shèng, meint das "Heilige", das "Höchste" und 誕, dàn die Geburt; die beiden Hanzi stehen seit gut 150 Jahren für unseren Begriff der Weihnacht. Wenn man einmal Zeile drei ignoriert, könnte man natürlich auch befinden, daß das geringere Gewicht, das der Weiß=heit in dieser Version zugemessen wird (und nein, "weiß" ist nicht in China "die traditionelle Farbe der Trauer"; damit war urprünglich ungefärbter Stoff gemeint), vielleicht dem Umstand Rechnung trage, daß das subtropisch-heiße Klima Hongkongs, in dem die Aufnahme entstand, vielleicht Aussichten auf weiße Flockenpracht weniger nahelegt als in den nördlichen Regionen Chinas. (Während ich diese Zeilen tippe, zeigen die Thermometer in Beijing -4°C, in Shanghai +8° und in Hongkong +16°.) Wie die Ironie es will, zeigt sich aber, nett kulturübergreifend, der gleiche Effekt in Irving Berlins Original. Als er das Lied 1940 schrieb, befand er sich in Südkalifornien, in La Quinta (wie oft gibt es mehrere, notgedrungen apokryphe Versionen; eine weitere verlegt die Entstehung nach Arizona), und die ursprünglichen, zumeist weggelassenen, Auftaktzeilen tragen diesem Umstand Rechnung:

The sun is shining, the grass is green,
The orange and palm trees sway.
There's never been such a day
in Beverly Hills, L.A.
But it's December the twenty-fourth,—
And I am longing to be up North—

In dieser Fassung der Carpenters sind sie enthalten:



齊豫, Chyi Yu, der an dieser Stelle vor einigen Monaten ebenfalls ein Blogeintrag galt, hat "White Christmas" 2011 auf Englisch aufgenommen:





U.E.

© Ulrich Elkmann. Für Kommentare bitte hier klicken.