25. Dezember 2017

Jahreszeitenklang: 小伯利恆, xiǎo bólìhéng

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陶明潔 - 小伯利恆

美哉小城伯利恆 你是何等清靜
無夢無驚 深深睡着 群星悄然運行
在你漆黑的街道 永遠的光照耀
萬世希望 人類憂喜 今夜集中於你

Tao Mingjie - "xiǎo bólìhéng"

Měizāi xiǎochéng bólìhéng nǐ shì héděng qīngjìng
wú mèng wú jīng shēn shēn shuìzhe qúnxīng qiǎorán yùnxíng
zài nǐ qīhēi de jiēdào yǒngyuǎn de guāng zhàoyào
wànshì xīwàng rénlèi yōu xǐ jīnyè jízhōng yú nǐ

Kleines Bethlehem

Wie still ist es in Bethlehem, der kleinen Stadt
Über deinem tiefen, traumlosen Schlaf ziehen die Sterne dahin
Doch auf deinen dunklen Straßen leuchtet das ewige Licht
Die ganze Welt soll heut Nacht auf dich blicken.




Heute soll es um ein saisonales "Jahresendlichterfestlied" gehen, über deren Interpretin der Protokollant, auch das kommt vor, schlicht gar nichts mitzuteilen weiß. Der Name der Sängerin auf dieser Aufnahme, 陶明潔, Tao Mingjie, taucht in keinem weiteren Zusammenhang auf außer als Namensangabe bei drei oder vier weiteren Stücken, die ihren Weg ins musikalische Weltgedächtnis YouTube gefunden haben; keine Discographie, kein Eintrag in einer der Quellen, aus denen sich üblicherweise weiterführende Informationen schöpfen lassen, von mojim.com über discogs bis hin zu sina.blog. (Damit steht der Protokollant nicht allein, Auch chinesische Freunde, im Umgang mit 汉字 versierter, vermelden Abwesenheit. Der Umstand, daß sich auf der zum Hochgeladen verwendeten 33-cm-Langspielplatte kein Jahr und keine Katalognummer finden, läßt auch hier die Spur im Nichts enden - ein kleines, belangloses, aber durchaus nicht unpassendes Mysterium.) Bei dem Stück 小伯利恆 handelt es sich eine Übertragung ins Mandarin eines der in der Anglosphäre, zumindest in den USA, bekanntesten Christmas carols, "O Little Town of Bethlehem."

Wie die Lieder der vorigen Tage hat auch dieses einen genauen Ort und  Zeit der Entstehung. Der Text stammt vom damaligen Rektor der Church of the Holy Trinity der Episkopalkirche in Philadelphia, Phillips Brooks (1836-1893), die Melodie vom Organisten der Kirche, Lewis H. Redner (1931-1908), der Brooks' Verse, die dieser drei Jahre nach einer Pilgerreise ins Heilige Land geschrieben hatte, für die Weihnachtsmesse 1868 in Musik setzte. (Wer sich über die Umstände dieser Unternehmungen, der ersten Formen eines organisierten Überseetourismus, informieren möchte, die mit dem Namen Thomas Cook verbunden sind, und den Geist, die Atmosphäre erleben möchte, soweit das aus einer Entfernung von anderthalb Jahrhunderten noch möglich ist, kann das am besten in Mark Twains The Innocents Abroad von 1867 tun; wer es lieber ernsthafter, ohne ironische Brechung, mag, kann dies in Herman Melvilles epischem Gedicht Clarel (1876) tun, dessen Untertitel "A Poem and Pilgrimage in the Holy Land" ein klarer Fingerzeig sind. Auch die Romansatire A Relíquia (1887) des Pioniers des Klassikers des literarischen Realismus, Eça de Queirós (1845-1900) hat genau solch einen Trip zum fons et origo des Christentums zum Zentrum. Dort allerdings geht der Effekt, wie es sich bei einem geistigen Ahnen Thomas Manns gehört, gehörig in die Binsen, weil der hoffnungsvolle Sproß aus der lusitanischen Provinz der Erbtante nicht vermeintlich mehr oder minder geheiligte fromme Relikte, sondern durch die Verknüpfung boulevardesker Umstände, ein Damennachthemd in frivoler Spitze und definitiv nicht in ihren Maßen, als Überraschungspräsent überhändigt.)

O little town of Bethlehem
How still we see thee lie
Above thy deep and dreamless sleep
The silent stars go by
Yet in thy dark streets shineth
The everlasting Light
The hopes and fears of all the years
Are met in thee tonight

For Christ is born of Mary
And gathered all above
While mortals sleep, the angels keep
Their watch of wondering love
O morning stars together
Proclaim the holy birth
And praises sing to God the King
And Peace to men on earth

How silently, how silently
The wondrous gift is given
So God imparts to human hearts
The blessings of His heaven
No ear may hear His coming
But in this world of sin
Where meek souls will receive him still
The dear Christ enters in

O holy Child of Bethlehem
Descend to us, we pray
Cast out our sin and enter in
Be born to us today
We hear the Christmas angels
The great glad tidings tell
O come to us, abide with us
Our Lord Emmanuel
O come to us, abide with us
Our Lord Emmanuel

Immerhin läßt sich feststellen, das sich die chinesische Textfassung näher an der Versen des Originals orientiert als die deutsche Fassung, die sich überraschenderweise (da das Lied ja ansonsten hierzulande fast unbekannt scheint) auch findet, und zwar als anonyme Übertragung (womit sich das Überraschungsmoment auflöst) als Nr. 137 im Gesangbuch der Church of the Latter Day Saints, bekannter als Mormonen.

Du kleines Städtchen Bethlehem, liegst still in Judas Land;
Wach nun aus deinem Schlummer auf, werd aller Welt bekannt!
Denn in den dunklen Gassen, da strahlt ein Licht mit Macht;
Der Hoffnung Stern kommt mit dem Herrn in dieser heilgen Nacht.

Zum anderen kann man daran sehen, wie das Chinesische wie Wiedergabe fremder Klänge, für die es keine rechte Entsprechung gibt, löst: durch ähnlich klingende Wörter, ungeachtet ihrer eigentlichen Bedeutung (obwohl oft versucht wird, einen Anklang an Sinn oder Anspielung mitschwingen zu lassen - was bei der großen Anzahl der Homonyme des Chinesischen nicht schwer fällt (da bei solchen lautlichen Anklängen die sinntragenden unterschiedlichen Töne, vier im Mandarin, sechs im Kantonesischen, vernachlässigt werden können, beläuft in diesen Belang der Umfang des Chinesischen auf gut 400 Silben). Aus "Deutschland" wird so 德国, Déguó, in dem nicht nur der Lautanfang steckt, sondern, vom Sinne der einzelnen Komponenten, 国, guó, das Land, plus 德, dé, die Tugend oder Moral, mithin "das Land der Moral" - was angesichts der Neigung der dortigen Eingeborenen, jedermann unter dem Himmel ungefragt mit Kapuziner- und Gardinenpredigten heimzusuchen, ein netter ironischer Beiklang ist. In 美国, Měiguó für "Amerika", genauer: die USA, steckt so nicht nur lautlich dessen zweite Silbe, sondern auch das "schöne Land". Aus Bethlehem wird so Bólìhéng, zusammengesetzt aus den Zeichen für "Onkel" - falls dieser älter als der eigene Vater ist; das Chinesische unterscheidet fakultativ zwischen älteren und jüngeren Geschwistern; "Vorteil, Nutzen" sowie "Beständigkeit".

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Die resonante Zeile "...the silent stars go by..." hat übrigens zwei Science-Fiction-Autoren zu eigenen Werken inspiriert; leider ist in beiden Fällen der Titel selbst das einzig Resonante dieser opuscula geblieben: James Whites (1928-1999) späten Roman von 1991, der nichts mit den Sector General-Erzählungen zu tun hat, für die er am bekanntesten wurde und die die Kabalen und Wirrungen einer Hospital-Raumstation zwischen den Sternen schildert, die als neutraler Boden als Vermittler zwischen den im Genre üblichen galaktischen Konflikten dient und als Vorwegnahme der humanistischen Ideale gelten kann, die das Unternehmen Star Trek grundierten. The Silent Stars Go By widmet sich, durchaus unmitreißend, einem anders verlaufenen irdischen Geschichtsverlauf, in dem die industrielle Revolution im Bagdad der Abbassiden stattfand und ein nie christianisiertes, heidnisch verbliebenes Irland nach den Sternen greift; und Dan Abnetts literarischem Beitrag zum Doctor Who-Universum von 2011 (derlei schriftliche Anbauten an Erzähl-Kosmen aus audiovisueller Quelle waren schon immer ohne jeglichen Belang, sie es literarisch, sei es in ihrer Bedeutung für die Franchise selbst, seien es nun die zahllosen Star-Trek- oder Stars Wars-Romane oder die überschaubaren Annexe zu The X Files oder Buffy), The Silent Stars Go By, in dem der achte Doktor (oder jemand, der sich für ihn ausgibt), mit seinen beiden zeitreisenden Gefährten auf einer in galaktischen Weiten verschollenen zukünftigen Erdkolonie zur Winterfestzeit die Rolle der Weisen aus dem Morgenland übernimmt.



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Ein astronomisches Echo aus dem auf das kreisende Firmament gerichteten Blick bleibt dennoch. Oder besser zwei: die Frage nach dem Stern von Bethlehem, dem die drei Magi gemäß dem Bericht des Matthäus-Evangeliums folgten und über dessen Natur es einigen Spekulationen gibt (falls man sich entschließt, hier reale Gegebenheiten als Quelle der Erzählung anzunehmen und nicht die gesamte auf Bethlehem zentrierte Geburtsgeschichte für einen, salopp gesagt, mythologischen späteren Einschub hält, der der Prophezeiung Rechnung tragen sollte, der verkündete Erlöser werde aus Bethlehem, "der Stadt Davids" kommen, und daher eine historisch für die fragliche Zeit nicht belegte Volkszählung interpoliert, um den Geburtsort des Jesus von Nazareth in den Bogen der Echos und Versprechen des Alten Bundes einzubinden). Seit Johannes Kepler hat sich die Überzeugung einigermaßen durchgesetzt, in diesem Himmelereignis die selten auftretende Tripelkonjunktion von Jupiter und Saturn im Sternbild Fische im Jahr 7. v. Chr. zu sehen (ebenso wie die Ansicht, daß das - nichtexistente - "Jahr 0" nicht den eigentlichen Geburtszeitraum bezeichnen kann, da Herodes als Präfekt der Provinz Judäa von schon Jahr 4. v.Chr. starb). Für die Bildgebung, die Symbolik der christlichen Überlieferung ist die schiere Historizität, die genaue Faktentreue des Berichtes überdies ohne jeden Belang: die Erzählung, ihr Versprechen, die Bilder, die symbolhaft auf das Heilsversprechen hinweisen, schöpfen sich daraus, sie runden das Ganze zu einer Erzählung. So wie es auch nicht von Belang ist, daß es Regenbogen schon gab, bevor eine fiktive Arche auf dem Berg Ararat nach dem Ende einer physikalisch nicht möglichen Sündflut strandete. (Die Theologia naturans des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts, die sich darauf kaprizierte, solche biblischen Erzählungen glaubhaft zu machen und aus den damals gesicherten physikalischen Erkenntnissen herzuleiten, ist ihrerseits schon ein Kind der beginnenden wissenschaftlichen Revolution: frühere Generationen theologischer Grundierung besaßen das Bedürfnis nach Rückbindung an analytische Welterforschung noch nicht.)

Das andere himmlische Echo - womit hier der Himmel der Astronomen gemeint ist, nicht die Sphäre der Transzendenz, der Sternenhimmel selbst also - ergibt sich aus der letzten Episode der Weihnachtserzählung: der Flucht nach Ägypten, vor den Mordbrennern des Herodes (die Ironie, daß gemäß der Erzählung des Matthäus die drei Weisen, die dem Himmelskönig ihre Gaben zu Füßen legen wollten, Ursache für dieses Verhängnis waren, sei nur, ganz traditionell, am Rande vermerkt. Die Bibel ist, anders als etwa der Koran, voll solcher gegenläufiger Heilsparadoxa, etwa dem Verkauf des Volkes Israel in die ägyptische Knechtschaft). Die berühmteste Darstellung dieser Episode, von Adam Elsheimer kurz vor seinem Tod in Rom im Jahr 1609 angefertigt, ist die erste realistische Darstellung eines Nachthimmels in der Kunst - mit erkennbaren Sternbildern und einer Tiefenwirkung und Atmosphäre, die spätere Nachtstücke (wie etwa von Joseph Wright of Derby) kongenial vorwegnimmt. Die kleine ölbemalte Kupfertafel, die sich heute in der Alten Pinakothek im München befindet und deren geringe Größe von gut 30 mal 40 Zentimetern jeden Betrachter überrascht, der aufgrund der Reproduktionen ein weitaus größeres Original erwartet hätte, zeigt darüber hinaus Details, die es Kunsthistorikern, die sich mit dem zeitgenössischen Umfeld beschäftigt haben, durchaus für möglich halten läßt, daß hier, ein Jahr bevor Galilei die Erkenntnisse seiner ersten Himmelsbeobachtungen im Siderius Nuncius, den "Sternenboten" veröffentlichte, zum ersten Mal ein Teleskop zur Anwendung gekommen ist. (Das kleine Büchlein Galileis von 40 Seiten wurde Mitte Februar 1610 abgeschlossen; die ersten Exemplare lieferte des Drucker drei Wochen später an den Autor; noch ohne die Kupferstichillustrationen des Mondes und der wechselnden Jupitermonde; der erste Gesandtschaft-Bote, der nach dem Winterende über die Alpenpässe im Auftrag der Republik Florenz zum Hof des Heiligen Römischen Reichs in Prag ritt, überreichte eines dieser Exemplare am Karfreitag 1610 Kaiser Rudolf II., der es am nächsten Tag durch seinen Schatzkämmerer dem Meister Kepler auf der Kleinseite der Moldau überbringen ließ. Meister Johannes bedankte sich brav mit einem gedruckten Schriftlein von 12 Seiten, daß der reitende postillon d'amour drei Tage später auf den Rückweg nahm, in welchem er dem Messer Galileo kühl dafür dankte, daß endlich jemand die Prinzipien umgesetzt habe, die er zwanzig Jahre zuvor exakt in seinem Buch über die Optik beschrieben hatte und all das entdeckt habe, was er schon längst über den Himmel vermutet habe. Galilei hat ihm diesen Tort nie verziehen.)




Auf Elsheimers Gemälde spannt sich nicht nur ein glorioser Sternhimmel über der Heiligen Familie, die, als solche nicht kenntlich, auf ihrem nächtlichen Weg in der Nähe eines Feuers vorbeireitet; die Milchstraße zeigt sich als sanft leuchtender Bogen aus lauter einzelnen Sternpunkten; und die gelbe Scheibe des Vollmonds weist lauter Einzelheiten auf, die nie von einem Menschen mit "unbewaffnetem" Auge aufgemacht worden sind. Zudem steht die Mondscheibe "auf dem Kopf", oben und unten sind vertauscht, ganz wie sie sich beim Blick durch ein Teleskop ohne Umkehrprisma präsentiert. Eine Unmöglichkeit besteht darin nicht: es ist durchaus möglich, daß Elsheimer in Rom in diesem Jahr Zugang zu einem solchen optischen Rohr hatte; Jan Lippershey's Antrag auf Patentierung seiner Erfindung wurde im Oktober 1608 vom Rotterdammer Stadtrat angelehnt (mit der Begründung, daß jedermann, oder jedenfalls jeder Linsenschleifer und Brillenmacher ein solch einfaches Instrument verfertigen könne und das auch schon täte, und mithin die Ausstellung eines Privilegs nicht praktikabel sei). Thomas Herriot begann seine Mondbeobachtungen in England ebenfalls 1609, allerdings ohne sie vor Galilei zu veröffentlichen.



(Bildquelle)


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Nachtrag: Dies ist eine gute Gelegenheit, diese festtägliche Botschaft vom Heiligen Abend  auf diesem Wege ein klein wenig weiterzutragen:






Ulrich Elkman

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