20. August 2017

Marginalie: Die Empörung über Erdoğan ist berechtigt, aber scheinheilig

Es ist ein eklatanter Verstoß gegen die anerkannten Regeln der diplomatischen courtoisie, wenn ein ausländisches Staatsoberhaupt Empfehlungen für die Parlamentswahlen in einem anderen Land abgibt. Von daher ist die Empörung deutscher Spitzenpolitiker über den - laut SPIEGEL-Online an "meine Bürger in Deutschland" gerichteten - Aufruf des türkischen Präsidenten, bei der Bundestagswahl nicht CDU, SPD oder die Grünen zu wählen, durchaus verständlich und berechtigt. Die öffentlich zur Schau gestellte Entrüstung ist aus zwei Gründen aber auch scheinheilig.
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Zum einen sind deutsche Politiker in ihren Stellungnahmen zu den Bewerbern und den Ergebnissen außerhalb der schwarz-rot-goldenen Grenzen stattfindender Urnengänge auch nicht immer zurückhaltend. Man erinnert sich nur zu gut an Frank-Walter Steinmeier, seinerzeit Bundesaußenminister und nunmehr Hausherr des Schlosses Bellevue, der während des laufenden US-Präsidentschaftswahlkampfes Donald Trump als "Hassprediger" bezeichnete und diesem nach dessen Abstimmungserfolg die den internationalen Gepflogenheiten entsprechende Gratulation verweigerte.

Zum anderen hat es die bundesrepublikanische Politik geraume Zeit kommentarlos akzeptiert, dass Recep Tayyip Erdoğan die Deutschen türkischer Herkunft unter publizistischem Beifall als Teil seiner Einfluss-Sphäre reklamierte. Wenn der starke Mann vom Bosporus nun Direktiven an die Menschen erteilt, die er als seine Weisungsunterworfenen erachtet, ist dies ein keinesfalls verwunderliches Resultat der jahrelang geübten Duldsamkeit.

Man mag es ja schon als Zeichen einer positiven Entwicklung ansehen, dass Erdoğans Unverfrorenheiten nicht mehr aus vermeintlicher Besonnenheit stumm und ergeben hingenommen werden. Auf die naheliegende Reaktion, nämlich dass sich die deutsche Bundesregierung für einen Abbruch der EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei einsetzt, wird man jedoch vergeblich warten. Denn diese Beendigung des Bewerbungsverfahrens würde angeblich, wie immer wieder betont wird, die demokratischen Kräfte in Ankara, Istanbul und Umgebung schwächen. Dies mag kaum überzeugen, zumal der Dialog mit der Türkei deren Machthaber nicht davon abgehalten hat, das Land in eine Autokratie umzuwandeln.

Noricus

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