13. Februar 2014

Für immer Kind



Eltern sind ihren Kindern unterhaltspflichtig. Das weiß jeder, und das ist nach dem Verursacherprinzip wohl auch ohne Weiteres zu rechtfertigen. Weniger bekannt dürfte sein, dass die Verbindlichkeit, Alimente zu zahlen, auch Kinder gegenüber ihren Eltern treffen kann. § 1601 BGB bestimmt diesbezüglich in lakonischem Duktus:

Verwandte in gerader Linie sind verpflichtet, einander Unterhalt zu gewähren.

§ 1602 Abs. 1 BGB stellt allerdings klar, dass lediglich ein bedürftiger Nachkomme oder Vorfahr sein eigen Fleisch und Blut zur Kasse bitten kann:

Unterhaltsberechtigt ist nur, wer außerstande ist, sich selbst zu unterhalten.

§ 1611 Abs. 1 BGB regelt (wozu § 1611 Abs. 2 eine Ausnahmekonstellation vorsieht), dass in drei Fällen die Unterhaltspflicht auf ein billiges Maß reduziert wird oder ganz entfällt, nämlich dann, wenn der nunmehr die Hand aufhaltende Altvordere oder Deszendent sein Vermögen verjuxt hat, er seine eigenen Unterhaltspflichten gegenüber dem Anspruchsgegner gröblich vernachlässigt hat oder er sich einer schweren Verfehlung gegen den potenziellen Zahler oder einen von dessen nahen Angehörigen schuldig gemacht hat. Letzteres könnte zum Beispiel durch einen Verstoß gegen die in § 1618a BGB normierte Beistands- und Rücksichtspflicht geschehen sein.

Der Bundesgerichtshof (BGH) war nun mit der Frage nach der Unterhaltsberechtigung eines bereits verstorbenen Mannes gegenüber seinem Sohn konfrontiert: Der Vater hatte die persönlichen Beziehungen zu seinem Sprössling abgebrochen, als dieser bereits volljährig war, und ihn in seinem Testament auf den Pflichtteil gesetzt. Klägerin war die Freie Hansestadt Bremen, die als Trägerin der Sozialhilfe über 9.000 Euro an Kosten für den Heimaufenthalt des Verstorbenen berappt hatte. § 94 Abs. 1 SGB XII sieht einen Übergang (im Juristenjargon: „Legalzession“) des Unterhaltsanspruchs vom Berechtigten an den Sozialhilfeträger vor, wenn und soweit dieser dem Unterhaltsberechtigten Leistungen gewährt hat.

Die Karlsruher Richter gaben nun der norddeutschen Kommune Recht: Der Vater habe sich in den ersten 18 Lebensjahren des Sohnes um diesen gekümmert, wodurch er seine elterlichen Pflichten in der kritischen Brutpflegephase „im Wesentlichen“ erfüllt habe. Der letztwillige Affront gegenüber dem Nachwuchs sei durch die Testierfreiheit gedeckt, also durch das Recht, für die Zeit nach dem Tod über das eigene Vermögen (grundsätzlich) nach Gutdünken zu verfügen. Eine schwere Verfehlung des Vaters gegen den Sohn liege somit nicht vor.

Die Entscheidung des BGH hat in den Medien einen beträchtlichen Widerhall gefunden: Lesenswert ist zum Beispiel dieser in der Welt erschienene Kommentar, in dem vieles anklingt, was auch mir bei der Beschäftigung mit diesem Fall durch den Kopf gegangen ist:

Der Spruch des XII. Zivilsenates bekräftigt das Subsidiaritätsprinzip. Wenn ein Kind die Heimkosten für seine Eltern übernehmen kann, dann soll eben nicht der Staat beziehungsweise die steuerzahlende Solidargemeinschaft einspringen müssen. Dem Nachkommen wird selbst dann die Rechnung präsentiert, wenn die Familienbande in den letzten vierzig Jahren nur noch auf dem Papier bestanden haben. Blut ist – wie der Volksmund sagt – eben dicker als Wasser.

Andererseits sind meines Erachtens bürgerlichrechtliche Verbindlichkeiten, die nicht einem privatautonomen Verhalten des Verpflichteten entspringen, stets besonders begründungsbedürftig und mit größter Vorsicht zu genießen: „Man kann sich seine Eltern nicht aussuchen“, schreibt Michael Fabricius in dem bereits angesprochenen Welt-Artikel, und man kann ebenso wenig wählen, ob man geboren werden und damit rechtsfähig (und seinen Eltern gegenüber zur Alimentierung verhalten) werden will. Dass die Unterhaltspflicht auch gegenüber Müttern und Vätern besteht, die mit ihren erwachsenen Kindern nichts mehr zu tun haben möchten und die sie sogar so weit wie möglich vom Erhalt des Nachlasses ausschließen, stellt eine bedeutende und letztlich unverdiente Belastung der Deszendenten dar. „Geboren, um zu zahlen“, würden zeitgenössische deutsche Tonkünstler diesen Sachverhalt vielleicht in einen Liedtext übersetzen.

Der BGH hatte keine leichte Aufgabe vor sich, da es eine rundum befriedigende Lösung für das zu beurteilende Problem wohl nicht gibt. Verlorene Söhne und Töchter werden in Zukunft die leidvolle Erfahrung machen, dass man in finanzieller Hinsicht auch dann noch Kind bleibt, wenn die emotionale Nabelschnur schon längst gekappt ist. Wer sich in faustischer Weise fragt, was eine Familie im Innersten zusammenhält, ist nun um eine Antwort reicher.

Noricus


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