In einer pluralistischen Gesellschaft ist es unvermeidlich,
dass unterschiedliche Lebensentwürfe, Moralvorstellungen und Verhaltensweisen
gleichsam ungebremst aufeinandertreffen. Der Respekt vor der Freiheit des
Andersdenkenden erfordert in einem liberal verfassten Gemeinwesen vor allem
Toleranz: Gewisse Zumutungen für das eigene Wertempfinden bleiben einem nicht
erspart. Für unerträgliche Handlungsmuster (und idealerweise nur für diese) ist
als Ultima Ratio das Strafrecht da.
Nicht gefordert werden kann dagegen, dass jemand alles
akzeptiert, was ein anderer tut und auch tun darf. Toleranz ist eine eher passive Einstellung,
nämlich jene des Duldens, Hinnehmens und Nichteinschreitens, während Akzeptanz
mit einer Bejahung, einem Gutfinden, einer Befürwortung, also einer
aktiven Haltung verbunden ist.
In einem auf faz.net abrufbaren Feuilleton-Beitrag vertritt
nun Stefan Niggemeier die Ansicht, dass bloße Toleranz gegenüber Homo-, Trans-
und Intersexualität zu wenig, ja eine Beleidigung sei, und das Ziel nur die
Akzeptanz dieser Sachverhalte sein könne. Meines Erachtens stellt sich hier schon
die grundlegende Frage, wie diese Akzeptanz mit freiheitlich-rechtsstaatlichen
Mitteln hergestellt werden soll: Natürlich kann der Staat die Gesetze im Sinne
einer vollumfänglichen Gleichstellung nichtheterosexueller Lebensentwürfe
anpassen. Er kann schulische Lehrpläne dementsprechend modifizieren (wobei Zweifel an der Sinnhaftigkeit dieser Maßnahme nicht gleich mit dem Homophobievorwurf beantwortet werden sollten). Interessengruppen können für die gesellschaftliche
Anerkennung von Lesben, Schwulen und Transsexuellen werben. Allein, ob sich
dadurch auch wirklich in allen Köpfen die Überzeugung Bahn bricht, dass
Nichtheterosexualität etwas völlig Normales sei, lässt sich nicht mit
Sicherheit vorhersagen.
Mit anderen Worten: Gesellschaftliche Akzeptanz lässt sich
nicht erzwingen. Man hat darauf keinerlei moralischen (und schon gar keinen
rechtlichen) Anspruch. Man kann vom anderen verlangen, in Ruhe gelassen zu
werden. Zustimmung und Anerkennung sind hingegen kein tauglicher Gegenstand
einer solchen Forderung. Niemand muss den Fleisch- oder Alkoholkonsum des
anderen akzeptieren, er hat ihn jedoch zu tolerieren. Niemand muss es gut
finden, dass manche erwachsenen Menschen ihre sexuelle Erfüllung in einem
Swinger-Club suchen, er hat dies aber hinzunehmen. Niemand muss sogenannte
Risikosportarten befürworten, er hat deren Ausübung durch andere indessen zu dulden.
Toleranz gegenüber Homo-, Trans- und Intersexuellen bezieht
sich ja nicht nur auf die schiere Existenz dieser Identitäten, sondern auch auf den
verständlichen Wunsch der betreffenden Personen, daraus kein Tabuthema machen
zu müssen. Niggemeier schreibt, dass
die „Sichtbarkeit“ von Lesben, Schwulen, Trans- und Intersexuellen nicht nur Mittel zum Zweck der Emanzipation ist, sondern ihr Ziel.
Das ist nachvollziehbar. Aber ist es hierfür erforderlich,
dass die Gesellschaft diese Sichtbarkeit akzeptiert, reicht Toleranz etwa
nicht? Der Verfasser dieser Zeilen kann sich noch gut daran erinnern, dass es
in der bayerischen Kleinstadt seiner Kindheit als sittlich durchaus grenzwertig
galt, wenn sich (verschiedengeschlechtliche) Teenagerpärchen auf offener Straße
küssten. Aber es wurde letztlich hingenommen. Heute sind solche
Zurschaustellungen der gegenseitigen Verbundenheit kein Thema mehr. Vielleicht
als Überbleibsel seiner katholisch-konservativen Prägung findet es der
Verfasser dieser Zeilen immer noch unangemessen, wenn Menschen im öffentlichen
Raum an ihrer Zuneigung zueinander keinerlei Zweifel lassen. Er akzeptiert
diese Verhaltensweise also nicht, er toleriert sie aber selbstverständlich.
Mehr zu verlangen wäre illiberal.
Weiters zitiert Niggemeier aus einem auf ZEIT-Online
erschienenen Artikel des an der Humboldt-Universität Berlin forschenden und
lehrenden Sozialpsychologen Ulrich Klocke, der den Leser rhetorisch fragt, ob
diesem
schon mal aufgefallen [ist], wie oft Heterosexualität zur Schau gestellt wird? Paare, die händchenhaltend flanieren; Kolleginnen, die auf der Arbeit von ihrem Freund erzählen; Politiker, die auf Wahlplakaten mit Frau und Kindern posieren; Tanten, die ihren Neffen fragen, ob er schon eine Freundin hat.
Was hält Homosexuelle davon ab, Hand in Hand durch die
Straßen zu gehen, am Arbeitsplatz von ihren Partnerinnen oder Partnern zu sprechen oder sich auf einem Wahlplakat mit ebendiesen abbilden zu lassen?
(Wobei natürlich höchst fraglich ist, was Ehegesponse oder Lebensgefährten
eines Politikers überhaupt auf einem Wahlplakat zu suchen haben.)
Klocke schreibt in dem bereits verlinkten Beitrag für ZEIT-Online:
Es reicht [zwecks Abbaus von Vorurteilen] meist, mit der eigenen sexuellen Identität so selbstverständlich umzugehen, wie Heterosexuelle das tun, sei es als Kollege am Arbeitsplatz, als Lehrerin, im Fußballverein oder in der Verwandtschaft.
Und vielleicht liegt ja gerade darin der Schlüssel für die Ausweitung der Toleranz oder deren Upgrade zur Akzeptanz: Wenn Lesben und Schwule auf die Frage, wie es denn privat bei ihnen aussehe, von ihrer Freundin beziehungsweise ihrem Freund erzählen; wenn Homosexuelle zu einem gesellschaftlichen Anlass mit einer gleichgeschlechtlichen Begleitung erscheinen; wenn Lesben oder Schwule ganz beiläufig kundtun, wie attraktiv sie doch eine ihrem eigenen Geschlecht zugehörige Person des öffentlichen Lebens finden. So selbstverständlich und mir nichts, dir nichts, wie Heterosexuelle das üblicherweise tun.
Noricus
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