12. Februar 2014

Meckerecke: Steuerbürgers Moral und Staates Unmoral


Vor vielen Jahren hörte ich den Vortrag einer spanischen Linguistin, die es zum Gegenstand ihrer Forschung gemacht hatte, den Zusammenhang zwischen politischen und gesellschaftlichen Veränderungen einerseits und den Beispielsätzen in Wörterbüchern ihrer Muttersprache andererseits zu untersuchen. Es versteht sich, dass in diesem Kontext das Ende der Franco-Diktatur eine bedeutende Zäsur bildete und dass etwa auch die Enttabuisierung der Sexualsphäre und das Aufkommen von Lebensweisen jenseits des traditionellen Ehe- und Familienmodells in den Lexika ihren Niederschlag fanden.
In meinem alten Petit Robert wird das französische Wort réprobation in seiner Bedeutung „Missbilligung“ durch ein zum Schmunzeln anregendes Zitat des Gelehrten und Schriftstellers André Siegfried exemplifiziert, das da lautet:

Une secrète réprobation entoure en France celui qui paie l’impôt.

Eine geheime Missbilligung umgibt in Frankreich denjenigen, der Steuern zahlt.
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In einem zeitgenössischen deutschen Wörterbuch wäre dieser Satz so nicht haltbar. Denn in der Bundesrepublik des Jahres 2014 umgibt eine sehr laute Missbilligung denjenigen, der Steuern hinterzieht. Zwei Redakteure der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, Rainer Hank und Winand von Petersdorff-Campen, beleuchten nun in einem online zugänglichen, unbedingt zur Lektüre empfohlenen und die folgende Argumentation maßgeblich stützenden Artikel „[d]ie Amoral des Staates“, so der Titel des Gemeinschaftswerks, dessen Vorspann eine durchaus berechtigte Frage stellt:

Alle reden über die Unmoral von Alice Schwarzer & Co. Warum redet keiner über die Verkommenheit des raffenden Staates?

In einer ersten Annäherung könnte man wohl antworten: Weil von dieser Verkommenheit – jedenfalls derzeit – nur vergleichsweise wenige Menschen betroffen sind. So dürfte das Gros der in Deutschland unbeschränkt Steuerpflichtigen keine Geschäftsbeziehungen zu Schweizer Geldinstituten unterhalten und deshalb der staatlichen Hehlerei mit CDs, die persönliche Daten von Kunden solcher Banken enthalten, bestenfalls gleichgültig gegenüberstehen. Meinem Eindruck nach heißt die Mehrheit der Nichtbetroffenen diese rechtswidrige Erlangung von Namen und Adressen sogar ausdrücklich gut. Dass dies in einem auffälligen Gegensatz zur NSA-Hysterie und dem Misstrauen gegenüber dem Datenhunger privater Internetdienste-Anbieter steht, entgeht freilich auch den FASZ-Autoren Hank und Petersdorff-Campen nicht.
Und es sind ja beileibe nicht nur die berüchtigten CDs: So erwähnen die beiden Journalisten, dass steuerliche Außenprüfungen heute nicht mehr enden wie auf dem Rossmarkt von Hintertupfing, nämlich mit einem schon fast orientalisch anmutenden Gefeilsche um nachzuzahlende Beträge, sondern mit der Drohung des die betriebliche Buchführung inspizierenden Beamten, bei Widerspenstigkeit des Steuerbürgers (ein Wort, das den Charme etwa der Vokabel „Melkkuh“ verströmt) gegen die Ansicht des Prüfers doch für ein Strafverfahren zu sorgen. Den nichtselbständig arbeitenden Durchschnittsbürger lässt diese Pistole-auf-die-Brust-Praxis freilich kalt.  

Als der größte Missbrauch der staatlichen Macht erscheint mir jedoch etwas anderes, nämlich die Weitergabe von Informationen über laufende oder abgeschlossene Steuerstrafsachen durch Mitarbeiter der Finanzverwaltung oder der Justiz. Jedenfalls in den Causae Zumwinkel, Hoeneß und Schwarzer muss es solche Insider-Tipps gegeben haben. Dass damit die Unschuldsvermutung beziehungsweise die durch die Selbstanzeige erfolgende Wiedererlangung der strafprozessualen Unschuld konterkariert werden, weil für den mutmaßlichen beziehungsweise umkehr- und bußfertigen Steuersünder die mediale „Aufarbeitung“ der ihm zur Last gelegten Taten einen Pranger 2.0 bedeutet, liegt auf der Hand. Der Bürger, im Strafverfahren ohnehin einem schier übermächtig erscheinenden Staat ausgeliefert, wird durch das moralische Verdikt seitens der Vierten Gewalt noch zusätzlich gedemütigt und schon dann beziehungsweise auch dann noch einem sozialethischen Unwerturteil unterzogen, wenn die Staatsgewalt ein solches noch nicht oder nicht mehr aussprechen darf.

Seitdem sogenannte Whistleblower in Deutschland eine fast schon heiligenartige Verehrung genießen, scheint sich auch in Teilen der Verwaltung und der Justiz ein etwas entspannteres Verhältnis zu den jeweiligen Amtsverschwiegenheitspflichten Bahn gebrochen zu haben. (Der Fall Gurlitt wäre ein weiterer Beleg für diese Behauptung.) Es gibt offenbar den moralisch guten Geheimnisverrat, der seinen Urheber möglicherweise nicht rechtfertigt, aber jedenfalls entschuldigt. Dass die totale Transparenz auch ihre Opfer kennt, wie etwa jene mit den USA zusammenarbeitenden Afghanen, die in den Wikileaks-Dokumenten namentlich genannt werden, oder (mit freilich viel weniger dramatischen Konsequenzen) eben der Steuerhinterziehung verdächtige Prominente, wird bei aller Euphorie nur zu gern ausgeblendet. 

Hank und Petersdorff-Campen machen verdienstvollerweise auch darauf aufmerksam, dass die Diabolisierung der Steuerhinterziehung in Deutschland ein vergleichsweise junges Phänomen ist. Solange der Staat mangels entsprechender völkerrechtlicher Abkommen und überwachungsfreundlicher Elektronisierung des Zahlungs- und Kapitalverkehrs nahezu keine Möglichkeit hatte, Auslandskonten von in Deutschland ansässigen Personen ausfindig zu machen, gab sich der Fiskus in dieser Hinsicht zahm. Im Steuerbürger musste die Überzeugung reifen, dass eine hinter den tatsächlichen Verhältnissen zurückbleibende Erklärung seiner Zins- und Dividendeneinkünfte nichts wirklich Verwerfliches sei, ein Alltagsdelikt eben.

Dass diese Zeiten vorbei sind, dürfte spätestens seit Peer Steinbrücks infamen Verbalaggressionen gegenüber der Schweiz klar sein. Deutschland ist bekanntlich die Heimstatt der Dialektiker: Als Bundespräsident kommt man unter argen Beschuss, wenn man darüber sinniert, dass die Bundeswehr auch zur Durchsetzung wirtschaftlicher Interessen des Vaterlandes berufen sei. Als Finanzminister kann man, wenn man einem kleinen Nachbarland in herablassender Weise mit der Peitsche“ und der „Kavallerie“ droht, immerhin noch Kanzlerkandidat werden. Und da wundert sich noch einer, dass die Eidgenossen uns vielleicht nicht ganz so lieb haben wie wir uns selbst? 

Aus dem Kavaliersdelikt Steuerhinterziehung wurde also ein Kavalleriedelikt. Hilfreich waren dabei zweifellos Fälle wie jene des Klaus Zuwinkel und des Uli Hoeneß. Alte, weiße, männliche Manager bilden freilich die Idealbesetzung für die sozial gewissenlose, egoistische Monade, die nur an ihr Wohlergehen denkt und der Gesellschaft nicht das geben möchte, was dieser angeblich zusteht. Und so schienen die dem Lager der Guten zugehörigen oder diesem zumindest nahestehenden Kulturmenschen Theo Sommer und Alice Schwarzer auch gehörig überrascht, als sie sich in der Rolle des Bösewichts beziehungsweise der Bösewichtin wiederfanden. Sommer machte sofort deutlich, dass, wenn zwei dasselbe tun, es noch lange nicht das Gleiche sei, und richtete den Zeigefinger auf den FC-Bayern-Präsidenten. Schwarzer erzählte eine hanebüchene Räuberpistole, die an ihrem Opfer-Status keinen Zweifel lassen sollte. 

Die moralische Überhöhung des Steuerzahlens dürfte einen der vielen Punkte darstellen, in denen sich die Wende der linken Intelligenzija von der Staatskritik zur Staatsüberhöhung ganz augenfällig manifestiert. Ich kann mich noch sehr gut an Aufkleber mit dem Slogan „Schraub die Steuern runter“ erinnern, die an Automobilen eher links orientierter Halter prangten. Und Abgabenhinterziehung wäre doch eigentlich das beste Mittel, einen im Kern noch faschistischen Staat mit all seiner Bullengewalt in die Handlungsunfähigkeit zu treiben. 

Auch wenn die Alt-68er und ihre ideologischen Epigonen mit Mutter Staat (oder sollte man besser sagen: Muttis Staat?) ihren Frieden geschlossen haben, weil diese res publica weitgehend den Interessen dieser Personengruppe dient, wäre es für die Linke doch ein bisschen schwierig, aus der pekuniären Pflicht gegenüber dem gesichtslosen Fiskus eine ethische Wertigkeit zu ziehen: Eine Frage wie „Ham Se versteuert?“ würde wohl ungute Assoziationen zum preußischen Obrigkeitsstaat wecken.

Aber es bietet sich ja ein viel einfacherer Weg zur Moralisierung des Abgabenzahlens an: Denn Steuern werden ja immer für etwas verwendet, man könnte mit ihnen zum Beispiel

Frauenhäuser bauen, griechische Staatsanleihen erwerben, der Kanzlerin endlich ein abhörsicheres Handy kaufen und natürlich noch mehr CDs mit gestohlenen Bankgeheimnissen[,]

so FAZ-Herausgeber Berthold Kohler in seiner Sprachglosse „Fraktur“, um dann eine von der Wirklichkeit bereits eingeholte Satire zum Besten zu geben:

Steuerhinterziehung ist also ein Verbrechen an den Frauen, den Griechen und der Kanzlerin, und damit ist eigentlich schon alles Nötige gesagt […].

Man fragt sich nur noch, wann die erste öffentliche Stimme zu der Einschätzung kommt, dass Steuerhinterziehen irgendwie rechts sei. Die für diese Äußerung fällige Phrasenabgabe ist unaufgefordert an das zuständige Finanzamt zu entrichten.

Noricus


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