Cornelius Gurlitt bleibt der rechtmäßige Eigentümer der von seinem Vater gesammelten und Juden geraubten Bilder. Die Rückerstattungsgesetze der Westalliierten von 1947-1949 und die Fristen können nicht mehr außer Kraft gesetzt werden. Raubkunst ist Eigentum geworden.Eine andere Moral kann jedenfalls durch das Recht nicht erpresst werden.
Zunächst ein weiteres Beispiel, und dann die Anwendung auf den größten Raub zwischen Christen und Juden.
Eine andere Moral, auf der Seite des Opfers, lebt uns Professor Michael Wolffsohn vor. Es ist gut, dass er seine Geschichte veröffentlichte („Versöhnung durch Wahrheit“, in der F.A.Z. vom 7. Februar 2014). Sie kann zum Lernen dienen. Seine Familie verlor das Großkino „Lichtburg“ in Essen. Und mit dem Besitz der Häuser „Scala“ und „Plaza“ in Berlin ging es ebenso. Weder der Großvater, 1933, noch der Vater, 1945, wurden entschädigt. Wolffsohn stellt die Frage: Gerechtigkeit würde eine Rückgabe oder Entschädigung verlangen, aber eine nachträgliche Änderung eines Rechts, d.h. der Verjährung, würde eine Gefahr für den Rechtsfrieden bedeuten. Seine Antwort lautet: Der innere Friede, also eine Versöhnung, ist wichtiger als die Gerechtigkeit, die Rache wäre. Nämlich eine Bestrafung der Söhne und Enkel der Täter. Die Nachfahren der Täter und Opfer sollten den Weg der Umkehr zur Versöhnung gehen.
Der Opfer-Nachfahre hat das Recht, den Räuber-Erben dies zu sagen. Denn wenn alle Schuld verdrängt wird, waren die Opfer umsonst, gibt es keine Besserung für die Zukunft. Wolffsohn sagt es umfassend:
„Was ein werteorientiertes Gemeinwesen außer Recht und Gerechtigkeit braucht, ist historische Wahrheit. Historische Wahrheit als Grundlage der Versöhnung. Versöhnung durch Wahrheit. (…) Die Wahrheit über die Tat ist die härteste aller Strafen für den Täter.“
Anders als manche Holocaustopfer, so sagt er, habe seine Familie trotz der Beraubung genug, mehr als genug brauche und wolle er nicht.
Nur auf die Wahrheit darf man also nicht verzichten. Dies führt uns zu dem größten Raubfall zwischen Christen und Juden. Um die Eigenart und Kompliziertheit dieses Falls zu verstehen, muss man sich die Ergebnisse der jüngeren Forschung zum Frühjudentum und frühen Christentum vor Augen halten. Zusammengefasst bedeuten sie: Die endgültige Trennung zwischen Juden und Christen geschah erst nach Jahrhunderten und wurde dann immer mehr zu einem ‚Kriminalfall‘ in dem Sinn, dass die Christen den Juden ihren Jesus raubten und ihn zum Gründer einer neuen Religion verfremdeten. Denn Jesus von Nazareth war Jude und kein Christ. In Wirklichkeit, so sagen heute die Forscher, wollte Jesus mit seinen Zwölfen das Gottesvolk Israel sammeln. Vielleicht hätte er durch seine theologische Reform Israel vor dem sinnlosen nationalen Gedanken der Vertreibung der Römer retten können, hätte ihn nicht die kleine Führungsmacht abgelehnt. Das neue Judentum nach der Katastrophe 70 n.Chr. musste dann ja auch einen Weg ohne Land und ohne Tempel gehen.
Trotzdem gingen die Wege auseinander. Bald gab es dann so gut wie gar keine Judenchristen mehr. So wie die Heidenchristen Jesus interpretierten, konnten immer weniger Juden ihn als jüdischen Propheten erkennen. Die Synagoge sah auch in der christlichen Benutzung ihrer Heiligen Schriften als „Altes“ Testament einen Raub. Sie reagierte mit einem authentisch-jüdischen Kommentar, dem Talmud. Aber vom 13. bis zum 16. Jahrhundert gab es im christlichen Abendland Verbote und Verbrennungen des Talmud.
Schauen wir auf das heutige Ergebnis und die Wende. Die christlichen Kirchen haben ihren historischen Fehler erkannt und anerkennen jetzt, dass der Bund Gottes mit seinem jüdischen Volk wegen der Treue Gottes ungekündigt weitergilt. Sie wollen also den großen theologischen Raub zurücknehmen. Mit großem Eifer beteuern sie nun: „Wir verzichten auf jede Judenmission. Es gibt vielmehr nur einen Dialog wie zwischen zwei Brüdern.“ Nicht romtreue Katholiken, aber andere fügen noch hinzu: „Die Juden sind schon beim Vater (Gott), sie brauchen den Sohn (Christus) nicht.“ Sie verzichten also auf einen Dialog über die Bedeutung Jesu in der jüdisch-christlichen Geschichte mit Gott.
Öffentlich aufgefallen ist dieser Radikalverzicht auf die Wahrheits-Frage bei der Diskussion über die Karfreitagsfürbitte, die zu ändern beim heutigen liturgischen Gebrauch in lateinischer Sprache verschlafen worden war. Was hat da Papst Benedikt XVI. nicht alles an Vorwürfen einstecken müssen. Es stellte sich für Katholiken die Frage: Dürfen wir nicht mehr darum beten, dass die Juden zur Fülle ihrer Verheißungen gelangen? Wollen Freunde untereinander nicht alles miteinander austauschen? Ist es richtig, dass wir uns ein Schweigen über Jesus auferlegen, nicht nur in Anwesenheit von Juden, sondern generell zum Thema Jesus und Inhalt seines Denkens? Ist das nicht eine totale und unwürdige Lähmung des Dialogs? Natürlich aus dem Schock, weil wir früher alles falsch gemacht haben. Aber gibt es keinen anderen Ausweg aus unserer Schuld als diesen Verzicht?
Normal wäre es, dass man wissenschaftlich diskutiert, ob Jesu Tora-Auslegung und Deutung des Wollens Gottes noch jüdisch ist oder nicht. Aber es scheint noch Zeit zu brauchen. Vielleicht nicht so viel, wie Lessing meinte: drei Jahrtausende des edlen Wettstreits. Halt! Lessing meinte nicht das Disputieren, sondern das Tun, das Verwirklichen der Werte. Wahrscheinlich hat er doch das Richtige vorgeschlagen.
Müssen wir also den Juden ihren Jesus zurückgeben? Die Wissenschaft hat es längst getan. Und was bedeutet das für die Christen? Das Kirchenvolk ahnt noch nicht die Folgen der großen Revolution im Verhältnis Kirche/Synagoge. Zurück geht kein Weg. Zumal gerade die römische Kirche nicht nur an Gott glaubt, sondern auch dem Wissen der Vernunft vertraut. Was den Christen bevorsteht, ist das Eingehen auf die Erkenntnis: Die Juden sind die Kerngruppe des Gottesbundes, die Heidenchristen sind der universale Ring um diesen Kern. Im Buch Genesis heißt das: Abraham als Segen für alle Völker; in den Psalmen und bei den Propheten wird es Wallfahrt der Völker zum Sion genannt.
Das Tabu zwischen Juden und Christen ist gebrochen. Das neue Phänomen der messianischen Juden ist nur ein irritierender erster Blitz.
© Ludwig Weimer. Für Kommentare bitte hier klicken.