28. Februar 2014

Gedanken zur doppelten Staatsbürgerschaft


Man muss weder Sprachwissenschaftler noch Jurist sein, um die folgenden beiden Sätze aus dem zwischen CDU, CSU und SPD geschlossenen Koalitionsvertrag korrekt zu interpretieren:

Für in Deutschland geborene und aufgewachsene Kinder ausländischer Eltern entfällt in Zukunft der Optionszwang und die Mehrstaatigkeit wird akzeptiert. Im Übrigen bleibt es beim geltenden Staatsangehörigkeitsrecht. [Fundstelle: Seite 74, rechte Spalte]

Die Konjunktion und drückt völlig unmissverständlich aus, dass die beiden Merkmale „in Deutschland geboren“ und „in Deutschland aufgewachsen“ kumulativ (das heißt: sowohl als auch) erfüllt sein müssen, damit die in § 29 Staatsangehörigkeitsgesetz (StAG) normierte Pflicht zur Entscheidung zwischen der ausländischen und der deutschen Staatsangehörigkeit entfällt.
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Nach der (noch) geltenden Fassung des § 29 StAG betrifft der Optionszwang Deutsche, die ihre bundesrepublikanische Staatsangehörigkeit gemäß § 4 Abs. 3 oder § 40b StAG erworben haben und eine ausländische Staatsangehörigkeit besitzen. Die erstgenannte Norm verleiht den adlergeschmückten Pass an seit dem Jahr 2000 im Inland geborene Kinder ausländischer Eltern, wenn ein zum unbefristeten Aufenthalt berechtigter Elternteil
seit acht Jahren rechtmäßig seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Inland hat[.]
Mit § 40b StAG wurde eine Übergangsregelung geschaffen, die unter den dort genannten Voraussetzungen einen Einbürgerungsanspruch für Ausländer vorsieht, die am 1. Januar 2000 noch keine zehn Jahre alt waren. Der entsprechende Antrag konnte aber nur im Jahr 2000 gestellt werden. (Vergleiche zu alledem auch diese Publikation des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge [BAMF], Seite 12 sowie Seiten 27 und 28.) Bis zum Jahr 2011 haben nach § 4 Abs. 3 StAG mehr als 425.000, gemäß §40b StAG knapp 50.000 Personen die deutsche Staatsbürgerschaft erworben.

Die Option ist erst ab Eintritt der Volljährigkeit auszuüben; sie wird im Sinne einer Entscheidung für die ausländische Staatsangehörigkeit fingiert, wenn der Betroffene bis zur Vollendung des 23. Lebensjahrs untätig bleibt oder den Verlust der ausländischen Staatsbürgerschaft nicht nachweist. Nur bis zur Vollendung des 21. Lebensjahrs kann eine auf die Beibehaltung der ausländischen Staatsangehörigkeit gerichtete Genehmigung beantragt werden. Gemäß diesen Bestimmungen des § 29 StAG mussten die ersten §40b-Optionskinderspätestens im Jahr 2013 ihre Passwahl vornehmen. Es soll sich dabei um eine Zahl von circa 3300 Personen gehandelt haben (siehe die zitierte BAMF-Broschüre, Seite 28. Für die ersten §4-Abs3-Optionskinder beginnt der Entscheidungszeitraum 2018.)

Die grün-rot beziehungsweise rot-grün beziehungsweise von SPD, Grünen und SSW regierten Länder Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Schleswig-Holstein wollen nun über den Bundesrat ein Gesetzgebungsverfahren initiieren, mit dem der Optionszwang komplett abgeschafft werden soll, während der Koalitionsvertrag (wie bereits gesagt) die Beseitigung der Wahlpflicht nur hinsichtlich derjenigen Betroffenen vorsieht, die in Deutschland auch aufgewachsen sind. 

Dieser Vorstoß stellt nicht bloß eine politische Geste ohne legislative Potenz dar. Denn der Bundesrat kann Gesetzesvorlagen mit der Mehrheit der Stimmen beschließen (§ 30 Abs. 1 Satz 1 1. Fall Geschäftsordnung des Bundesrates), was bei der momentanen Zusammensetzung des Gremiums auch gegen den Widerstand der unions- beziehungsweise FDP-(mit)regierten Länder möglich wäre: Auf Baden-Württemberg, Brandenburg, Bremen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz und Schleswig-Holstein entfallen 36 von 69 Stimmen. Im Bundestag besteht ebenfalls eine dünne linke Majorität.

Hier tut sich zweifellos eine mögliche Bruchstelle des Koalitionsarrangements auf, welche die SPD für einen Wechsel in eine rot-rot-grüne Bundesregierung nutzen könnte. Freilich: Noch stellt sich das Spitzenpersonal der einstigen Arbeiterpartei hinter das mit der CDU/CSU ausgehandelte Vertragswerk. Doch was geschieht, wenn der mediale und lobbyistische Druck größer wird und die Union plötzlich als kleinliche Paragraphenreitertruppe dasteht, die sich einer vernünftigen, gerechten, guten Lösung verweigert? Oder wenn Sigmar Gabriel eines nicht allzu fernen Tages einen Vorwand für die vorzeitige Beendigung der Vernunftehe mit Merkel sucht?

Im linken Spektrum probt man jedenfalls schon die entsprechende Kampfrhetorik: So wirft ein SPD-Parlamentarier der zu Recht verärgerten Union vor, sie spiele die „beleidigte Leberwurst“. Wer auf die Einhaltung einer Vereinbarung dringt, die bei der Befragung der Mitglieder der Koalitionspartnerpartei mit einer Dreiviertelmehrheit angenommen wurde, ist also ein Sensibelchen und Spielverderber.

Wohlgemerkt: Der Entwurf zur Ausweitung der Binationalität kommt nicht aus der Mitte des Bundestages, dessen Abgeordnete gemäß Art. 38 Abs. 1 Satz 2 Grundgesetz (GG)

an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen
sind, sondern von Mitgliedern der Ländervertretung, die durch die Verfassung selbst zu einer einheitlichen Stimmabgabe pro Gliedstaat verhalten sind (Art. 51 Abs. 3 Satz 2 GG) und ihr Votum gleichsam nur als Sprachrohr des stimmberechtigten Landes ausüben (Art. 51 Abs. 2, Abs. 3 Satz 1 GG), mithin also über kein freies Mandat verfügen.

Zudem haben etwa Malu Dreyer (Ministerpräsidentin von Rheinland-Pfalz), Torsten Albig (Ministerpräsident von Schleswig-Holstein) und Nils Schmid (Stellvertretender Ministerpräsident von Baden-Württemberg) an den Koalitionsverhandlungen teilgenommen und somit an der Ausarbeitung der inhaltlichen Grundlagen des Regierungsbündnisses mitgewirkt. Wer auf sein Geschwätz von gestern nichts mehr geben will, der darf es nicht zum Inhalt eines Vertrages machen.

Noch dreister als die Volte der SPD-Landespolitiker nimmt sich allerdings Daniel Bax' Kommentar in der Tageszeitung aus, mit dem er der Doppelpass-Initiative unter Missachtung der Tatsachen eifrig Schützenhilfe leistet:

Eigentlich haben sich SPD und Union in ihrem Koalitionsvertrag darauf geeinigt, den sogenannten Optionszwang abzuschaffen: In Deutschland geborene Einwandererkinder sollen sich künftig nicht mehr zwischen der deutschen Staatsbürgerschaft und der ihrer Eltern entscheiden müssen, sondern beide Pässe behalten dürfen. So steht es im Papier. [Hervorhebungen Noricus]

Nein, so steht es nicht im Papier, siehe oben.

Doch die Union […] pocht nun auf das Kleingedruckte, in diesem Fall auf das Wort „aufgewachsen“.
Eine maximal zweiminütige Recherche hätte Herrn Bax die Gewissheit geliefert, dass die Wortfolge „und aufgewachsene“ nicht in eine Fuß- oder Endnote verbannt, sondern völlig unzweideutig in den Haupttext des Abkommens aufgenommen worden ist (Koalitionsvertrag, Seite 74, rechte Spalte). Die Union beruft sich hier gerade nicht auf eine versteckte Klausel, sondern auf einen Passus, dessen Wortlaut für jede/n unvoreingenommene/n Leser/in in wünschenswerter Klarheit zu Tage tritt.

Dass es im Hinblick auf die persönliche Beziehung zu einem Staat einen Unterschied bedeutet, ob man in diesem lediglich geboren oder ob man dort auch aufgewachsen ist, dürfte ohne weiteres verständlich sein: Über das Gefühl der Zugehörigkeit zu einer Bürgerschaft entscheidet weniger der Kreißsaal als vielmehr das Klassenzimmer. Für eine teleologische Reduktion der gegenständlichen Textstelle besteht somit keinerlei Anlass. Wer die Staatsangehörigkeit eines Landes haben möchte, mit dem ihn außer dem Geburtsort kaum etwas verbindet, von dem kann man zum Beweis seines emotionalen Naheverhältnisses das starke Zeichen des vollumfänglichen und ungeteilten Bekenntnisses zu dieser Nationalität erwarten.

Die Union wird sich dieser Tage vielleicht an ein altes deutsches Sprichwort erinnern, in dem vom kleinen Finger und der ganzen Hand die Rede ist.

Noricus


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