19. November 2012

Krieg in Nahost (3): Terroristen gegen die IDF. Ein asymmetrischer Krieg im Medienzeitalter

Glaubt man der Berichterstattung in führenden deutschen Medien, dann stehen sich in dem Konflikt um Gaza zwei reguläre Kriegs­parteien gegenüber, Israel und "die Palästinenser".

Beispielsweise begann die "Tages­schau" gestern um 20.00 Uhr mit dem Satz: "Die Gewalt zwischen Israel und den Palästinensern hält unvermindert an".

Daran ist nicht nur die Behauptung falsch, daß "die Palästinenser" Gewalt ausüben würden. Es handelt sich vielmehr um einige terroristische Organisationen, die das tun. Bezeichnend ist zweitens, daß - wie in den meisten Berichten und Kommentaren - Israel an erster Stelle genannt wird; so, als ginge die Gewalt ursprünglich von seiner Seite aus.

Explizit sagt das beispielsweise die Online-Ausgabe des "Handelsblatt", aktualisiert in der vergangenen Nacht:
Im Gazastreifen fließt weiter Blut. Bei israelischen Luftangriffen sterben Frauen und Kinder. Die Hamas rächt sich und feuert Raketen auf Tel Aviv.
Diese Sicht auf den Konflikt übersieht zwei Sachverhalte:

Erstens ist dies nicht eine Auseinandersetzung zwischen zwei regulären Armeen, sondern ein asymmetrischer Krieg, den die Armee Israels (Israel Defense Forces, IDF) gegen terroristische Organisationen führt; vor allem die Izz ad-Din al-Qassam-Brigaden, die der Hamas unterstehen, und gegen die vom Iran kontrollierte PIJ. Beide werden sowohl von der EU als auch von den USA offiziell als terroristische Organisationen eingestuft.

Zweitens ist es eine nachgerade groteske Verkehrung der Tatsachen, wenn die Raketenangriffe dieser (und anderer, kleinerer) terroristischen Organisationen auf Israel als Rache für israelische Angriffe verstanden werden, oder als "Antwort" darauf.

Vielmehr greifen die Terroristen seit Jahren - nämlich seit dem Putsch, mit dem sie im Juni 2006 die Macht im Gazastreifen eroberten - Israel mit Raketen an. Es ist die IDF, die darauf 2008/2009 mit einer Militäreinsatz geantwortet hat und die das auch nunmehr wieder tut; als Reaktion auf die Lieferung von Fajr-5-Raketen an die Terroristen, durch die Israels Kernland bedroht wird (siehe Die Vorgeschichte der jetzigen Eskalation in Gaza begann im Sudan; ZR vom 16. 11. 2012).



Der Sachverhalt, daß ein asymmetrischer Krieg einer regulären Armee gegen terroristische Organisationen stattfindet, ist ein wesentlicher Schlüssel zum Verständnis dessen, was sich gegenwärtig abspielt.

Zu den grundlegenden Merkmalen eines asymmetrischen Kriegs - also des Kriegs zwischen Terroristen, Guerrilleros, insurgents usw. gegen eine reguläre Armee - gehört nicht nur, daß man mit unterschiedlichen Waffen kämpft, sondern vor allem auch, daß man verschiedenartige Ziele verfolgt.

In einem konventionellen Krieg zwischen regulären Armeen geht es darum, den Gegner zu materiell und personell schwächen mit dem Ziel, schließlich die Oberhand über ihn zu gewinnen - in sein Land einzumarschieren, ihn zu einem Friedensschluß nach den Bedingungen des Siegers zu zwingen.

Terroristen können und wollen das nicht. Ihre Gewaltakte sollen den Feind nicht materiell oder personell schwächen, sondern psychologisch. Terrorismus ist "Propaganda der Tat". Zumal im Zeitalter der Medien und des Internet steht die Wirkung auf die Öffentlichkeit ganz im Vordergrund. Anschläge werden nicht unter dem Gesichtspunkt verübt, maximalen Schaden anzurichten, sondern einen maximalen psychologischen und medialen Effekt zu erzielen.

In einem Artikel zu den Anschlägen in Mumbai im November 2008 habe ich das so zusammengefaßt:
Von militärischen Aktionen unterscheiden sich terroristische Angriffe dadurch, daß sie keine materiellen Ziele verfolgen, sondern psychologische. Der Gegner soll nicht unmittelbar militärisch oder wirtschaftlich geschwächt werden, sondern es soll Schrecken (lat. terror) verbreitet werden. Terrorismus ist angewandte Psychologie.

Die konkreten Absichten können verschieden sein. Es kann zum Beispiel darum gehen, politische, wirtschaftliche und andere Verantwortliche einzu­schüchtern und damit gefügig zu machen; das war eines der wesentlichen Ziele des "individuellen Terrors", wie ihn die RAF zu praktizieren versuchte.

Das primäre Ziel kann es auch sein, den Haß zwischen Bevölkerungsgruppen anzustacheln und damit zugleich die Kampfbereitschaft der eigenen Anhänger zu stärken. Das stand oder steht beim Terror der irischen IRA im Vordergrund; bei dem der baskischen ETA, teils auch bei dem der Palästinenser.

Vor allem aber sind die Adressaten des Terrors die Öffentlichkeiten bestimmter Länder oder auch die gesamte Weltöffentlichkeit. Anschläge führen zu Medienberichten, die auf die Themen aufmerksam machen, denen die Terroristen zu mehr Beachtung verhelfen wollen. Über den Hebel der Öffentlichkeit können in demokratischen Ländern Regierungen in ihren Entscheidungen beeinflußt werden.

Beherrschend ist dieses Ziel der Beeinflussung der Öffentlichkeit in asymmetrischen Kriegen wie dem, den die Kaida und andere Dschihadisten gegen den Westen führen. Hier dient der Terror fast ausschließlich dazu, Bilder des Schreckens samt den zugehörigen Kommentaren in die Medien des Feindes zu bringen.



In dem jetzigen asymmetrischen Krieg geht es der IDF darum, die Sicherheit Israels zu schützen; seine Einwohner vor Angriffen zu bewahren. Den Terroristen geht es hingegen darum, größtmögliche Stärke zu demonstrieren; ihr Ansehen in der islamischen Welt zu steigern; ihren Anspruch, Israel zu vernichten, symbolisch zu unterstreichen.

Von diesem Ziel werden ihre Entscheidungen bestimmt. Die Berichte von Stratfor aus den letzen beiden Tagen, auf die ich mich im folgenden stütze, machen das deutlich.

Die Farj-5-Raketen werden nicht wegen des Schadens abgeschossen, den sie anrichten, sondern aus Prestige­gründen. Der Lieferant Iran achtet deshalb darauf, daß die von ihm kontrollierten IPJ-Terroristen, obwohl sie nur eine kleine Organisation sind, dieselbe Anzahl erhalten wie die Izz ad-Din al-Qassam-Brigaden der Hamas. Es sind dieselben Raketen, sie werden vom selben Personal bedient. Aber mal darf die Hamas, mal die IPJ sich des Abschusses rühmen.

Beide Organisationen suchen die Verwendung der Farj-5-Raketen, die sie noch haben, aus Propagandagründen über einen möglichst langen Zeitraum zu strecken. Sie feuern täglich nur eine oder zwei ab; meist zur selben Zeit um Sonnenuntergang.

Gestern hat die Hamas eine einzige Rakete abgeschossen und dazu gemeldet, es handle sich um einen neuen Typ mit einer noch größeren Reichweite. Stratfor vermutet, daß man lediglich den Sprengkopf durch einen kleineren ersetzt hat, so daß die Rakete leichter wurde und weiter fliegen konnte. Daß man dann wenig Schaden anrichtet, nimmt man in Kauf. Was zählt, das ist die stolze Meldung, jetzt noch weiter schießen zu können.

Besonders deutlich wird die "Propaganda der Tat" bei der Entscheidung der Terroristen, Raketen auf Jerusalem zu schießen. Angesichts der geringen Treffgenauigkeit solcher ballistischer Raketen können die Terroristen nicht wissen, ob sie nicht Moslems in Jerusalem treffen; im schlimmsten Fall sogar die heilige Masjid al-Aqsa-Moschee, das drittwichtigste Heiligtum des Islam.

Aber das wird in Kauf genommen. Entscheidend ist der symbolische Charakter der Beschießung Jerusalems. Die Dschihadisten sehen sich in der Tradition Saladins, der 1187 Jerusalem eroberte. Raketen auf Jerusalem schießen zu können signalisiert: Wir sind bereit und in der Lage zur Eroberung der Stadt.

Am vergangenen Donnerstat schrieb Daniel Pipes im National Review Online:
The old Arab-Israeli wars were military clashes, the recent ones are political clashes. The wars of 1948-49, 1967, and 1973 were life-and-death struggles for the Jewish state. But the wars of 2006, 2008-09, and now 2012 are media events in which Israeli victory on the military battlefield is foreordained and the struggle is to win public opinion. (...)

Will Israel prevail in arguing that its enemy initiated offensive action? Or will those enemies, Hamas or Hezbollah, convince observers that Israel is an illegitimate regime whose recourse to force is criminal? The war must be fought primarily as a media event.

Die alten arabisch-israelischen Kriege waren militärische Zusammenstöße, die heutigen sind politische Zusammenstöße. Die Krieg von 1948-49, 1967 und 1973 waren für den jüdischen Staat Kämpfe um Leben und Tod. Die Kriege von 2006, 2008/2009 und jetzt 2012 sind Medienergeignisse, bei denen der Sieg Israels auf dem Schlachtfeld von vornherein feststeht und der Kampf darum geht, die öffentliche Meinung zu gewinnen. (...)

Wird Israel mit seiner Argumentation Erfolg haben, daß der Gegner die Feindseligkeiten begann? Oder werden diese Feinde - die Hamas oder die Hisbollah - die Beobachter davon überzeugen, daß Israel ein illegtimes Regime ist, dessen Rückgriff auf Gewalt kriminell ist? Der Krieg muß in erster Linie als ein Medienereignis geführt werden.


Allerdings schreibt Pipes auch, Kommentare hätten Kugeln ersetzt und soziale Medien die Panzer. In dieser Zuspitzung stimmt das - leider - nicht. Auch der Propagandakrieg ist ein Krieg mit realen Panzern und Kugeln.

Vor einer Stunde meldete Stratfor, daß die Verhandlungen in Kairo gescheitert seien. Die israelischen Truppen würden ihre Operationen erweitern, und zwar innerhalb von Stunden, nicht Tagen. Das hat der israelische Finanzminister Yuval Steinitz im Armeerundfunk gesagt.

Diese "Ausweitung" dürfte bedeuten, daß der Krieg mit Bodentruppen schon bald beginnen wird.

In der Tat ist nicht zu sehen, wie er vermieden werden kann, wenn die Hamas - wie es offenbar der Fall ist - sich nicht bereitfindet, ihre Aufrüstung mit Fajr-5-Raketen aufzugeben. Denn da diese, wie andere Raketen auch, mit Absicht auch in Wohngebieten stationiert sind, ist es nachgerade ausge­schlossen, sie aus der Luft auszuschalten, ohne daß Zivilisten zu Schaden kommen. Das können nur Boden­truppen, die gezielt nach diesen Stellungen suchen.

Die IDF vermeidet es schon aus humanitären Gründen, Zivilisten zu gefährden, soweit das möglich ist. Aber in einem Propagandakrieg kommt hinzu, daß jedes zivile Opfer ein Erfolg für die Hamas wäre.
Zettel



© Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Links zu allen Folgen der Serie "Krieg in Nahost" finden Sie hier. Titelvignette: Ein Plakat der Hamas, das einen Hamas-Terroristen und den gefangenen israelischen Soldaten Gilad Shalit zeigt; aufgenommen von Tom Spender am 22. Mai 2007 in Nablus. Freigegeben unter Creative Commons Attribution 2.0 Generic (CC BY 2.0)-Lizenz.