"Ein bißchen Strahlung ist gut für Mäuse" titelt aktuell Science News. Es handelt sich um Strahlung aus einer radioaktiven Quelle; in diesem Fall Röntgenstrahlen aus einem winzigen CT-Scanner. Deren Effekt bestand darin, Mäuse gesünder zu machen - weniger anfällig für Fettleibigkeit, Diabetes, Krebs.
Hohe Dosen ionisierender Strahlung sind gefährlich, weil sie biologisches Gewebe schädigen. Das kann bei sehr hohen Dosen zu sofortigen Wirkungen wie Verbrennungen, Organschädigungen und im schlimmsten Fall den Tod führen. Langfristig gibt es ein erhöhtes Krebsrisiko und das Risiko einer Schädigung des Erbguts.
Warum ist das so? Wie wirkt eigentlich die ionisierende Strahlung, wie sie von radioaktiven Substanzen ausgeht? Das habe ich im März 2011 nach dem KKW-Unfall von Fukushima allgemeinverständlich zu erklären versucht:
Nun entsteht ionisierende Strahlung aber nicht nur in Atomreaktoren oder beim Einsatz eines Röntgengeräts. Sie ist in Form von natürlicher ionisierender Strahlung teils aus dem Weltraum, teils aus dem Gestein der Erde überall anzutreffen. Geringen Dosen sind wir alle ständig ausgesetzt. Wie wirken sich diese geringen Dosen - wie sie überwiegend auch in der Umgebung des KKW Daiichi bei Fukushima nach dem Unfall gemessen wurden - auf biologisches Gewebe aus?
Das Problem ist, daß man das, anders als die Wirkung höherer Dosen, kaum direkt messen kann. Viele der Erkenntnisse über die Wirkung von hohen Dosen stützen sich auf Untersuchungen an Opfern der Atombombenabwürfe in Hiroshima und Nagasaki. Darauf, wie sich geringe Dosen auswirken, kann man daraus aber nicht direkt schließen. Man ist auf Hypothesen angewiesen.
Es gibt im wesentlichen drei Positionen.
Die erste ist die linear no-threshold hypothesis; die Hypothese einer linearen Wirkung ohne Schwelle. Man nimmt an, daß die Wirkung proportional zur Ursache ist. Starke Dosen bewirken unstrittig meßbare Effekte. Also nimmt man an, daß geringe Dosen entsprechend geringere, wenn auch nicht meßbare Effekte haben. "Jede noch so geringe Strahlung schadet"; so liest man es auch oft in den Medien.
Daß diese Logik nicht unbedingt stimmen muß, liegt auf der Hand. Große Mengen Aspirin können Darmblutungen auslösen. 100 mg am Tag sind hingegen jedem zu empfehlen, der in der Gefahr einer Thrombose ist. "Alle Dinge sind Gift, und nichts ist ohne Gift. Allein die Dosis macht, daß ein Ding kein Gift ist", schrieb Paracelsus 1538 in seiner Dritten Defensio.
Die zweite Hypothese ist kürzlich im Bulletin of the Atomic Scientists in einer Sonderausgabe diskutiert worden: Daß geringe Dosen sogar schädlicher sein könnten, als man es erwarten würde, wenn man proportionale Wirkungen annimmt. Der Gasteditor der Ausgabe vom Mai/Juni, Jan Beyea, ist allerdings - wie zum Beispiel die New York Times vermerkte - ein Umweltwissenschaftler, der seit Jahrzehnten gegen die friedliche Nutzung der Kernenergie kämpft.
Beyea argumentiert unter anderem, daß es einen bystander effect geben könnte, eine "Wirkung auf die zufällig mit Anwesenden": Zellen, die geschädigt wurden, verändern benachbarte Zellen, die selbst keine Schädigung erfuhren. Auch das ist freilich nur eine Hypothese.
Die dritte Möglichkeit ist, daß es bei der radioaktiven Strahlung ist wie beim Aspirin: Hohe Dosen schaden; aber geringe können sogar nützlich sein.
Der Titel "Ein bißchen Strahlung ist gut für Mäuse ("A little radiation is good for mice") von Science News bezieht sich auf eine Untersuchung von Randy L. Jirtle und einem Team von Koautoren, die am 1. November online publiziert wurde und die demnächst im Journal of the Federation of American Societies for Experimental Biology erscheinen wird.
Die Forschung, die dort berichtet wird, bedient sich einer inzwischen in der experimentellen Biologie weitverbreiteten Methode. Man forscht am sogenannten Tiermodell; Tieren, die oft gezielt gezüchtet wurden, um bestimmte Forschungen zu erleichtern. Oft lassen sich die Ergebnisse auf den Menschen übertragen; aber das muß in jedem einzelnen Fall überprüft werden.
In der jetzigen Untersuchung (Herunterladen kostenpflichtig) wurde ein bestimmter Stamm von Labormäusen verwendet, die Gelbe Agouti-Maus, die dadurch gekennzeichnet ist, daß sie besonders empfindlich auf Belastungen während der Trächtigkeit reagiert.
Solche Belastungen führen zu einer epigenetischen Veränderung, die an die Nachkommen weitergegeben wird. Es gibt dafür - praktisch für die Forschung - ein äußeres Merkmal: Die sonst braunen Mäuse ändern ihre Fellfarbe in Richtung gelb.
Solche trächtigen Agouti-Mäuse nun wurden diversen geringen Belastungen durch ionisierende Strahlung ausgesetzt, indem ein winziger Computertomographie-Scanner in die Gebärmutter eingeführt und betätigt wurde. Eine Kontrollgruppe wurde identisch behandelt, ohne daß aber der Scanner eingeschaltet wurde. Eine zweite unabhängige Variable war die Ernährung: Ein Teil der Mäuse erhielt Vitamin C, ein anderer Teil Vitamin E, andere Gruppen weitere Substanzen.
Wie würde sich das auf die Nachkommen auswirken? Diejenigen Mäuse, die der ionisierenden Strahlung ausgesetzt waren, brachten in der statistischen Auswertung mehr gesunde (braune) Nachkommen zur Welt als die Kontrollgruppe ohne Bestrahlung. Aber durch die Gabe von Vitamin C oder Vitamin E (Antioxidantien) wurde dieser Effekt wieder aufgehoben.
Die Forscher hatten dieses Resultat nicht erwartet. Niemand würde gern hören, daß Radioaktivität gut ist und daß Vitaminpillen schlecht sind, sagte Jirtle gegenüber Science News.
Aber so ist Forschung nun einmal. Das Spannende sind die unerwarteten Ergebnisse. Die Hypothese jedenfalls, daß auch geringe Dosen von ionisierender Strahlung in jedem Fall schädlich sind, ist durch diese Untersuchung nicht bestätigt worden.
Hohe Dosen ionisierender Strahlung sind gefährlich, weil sie biologisches Gewebe schädigen. Das kann bei sehr hohen Dosen zu sofortigen Wirkungen wie Verbrennungen, Organschädigungen und im schlimmsten Fall den Tod führen. Langfristig gibt es ein erhöhtes Krebsrisiko und das Risiko einer Schädigung des Erbguts.
Warum ist das so? Wie wirkt eigentlich die ionisierende Strahlung, wie sie von radioaktiven Substanzen ausgeht? Das habe ich im März 2011 nach dem KKW-Unfall von Fukushima allgemeinverständlich zu erklären versucht:
Welche Formen ionisierender Strahlung können in Fukushima aus den Reaktoren austreten? Wie gefährlich sind sie? Was ist überhaupt Radioaktivität?; ZR vom 13. 3. 2011.Zum Jahrestag des Unfalls habe ich das Wichtigste noch einmal zusammengefaßt:
Die Katastrophe des 11. März 2011 in Japan. Eine vorläufige Bilanz. Irrationale Ängste und der Mythos von Fukushima; ZR vom 1. 3. 2012.Im Prinzip ist es so, daß beim radioaktiven Zerfall Energie in Form von Strahlung abgegeben wird; Energie, die stark genug ist, um aus einem Atom oder Molekül, auf das sie trifft, Elektronen herausschlagen zu können. Wenn es sich um organische Substanz handelt, dann bewirkt das deren Schädigung.
Nun entsteht ionisierende Strahlung aber nicht nur in Atomreaktoren oder beim Einsatz eines Röntgengeräts. Sie ist in Form von natürlicher ionisierender Strahlung teils aus dem Weltraum, teils aus dem Gestein der Erde überall anzutreffen. Geringen Dosen sind wir alle ständig ausgesetzt. Wie wirken sich diese geringen Dosen - wie sie überwiegend auch in der Umgebung des KKW Daiichi bei Fukushima nach dem Unfall gemessen wurden - auf biologisches Gewebe aus?
Das Problem ist, daß man das, anders als die Wirkung höherer Dosen, kaum direkt messen kann. Viele der Erkenntnisse über die Wirkung von hohen Dosen stützen sich auf Untersuchungen an Opfern der Atombombenabwürfe in Hiroshima und Nagasaki. Darauf, wie sich geringe Dosen auswirken, kann man daraus aber nicht direkt schließen. Man ist auf Hypothesen angewiesen.
Es gibt im wesentlichen drei Positionen.
Die erste ist die linear no-threshold hypothesis; die Hypothese einer linearen Wirkung ohne Schwelle. Man nimmt an, daß die Wirkung proportional zur Ursache ist. Starke Dosen bewirken unstrittig meßbare Effekte. Also nimmt man an, daß geringe Dosen entsprechend geringere, wenn auch nicht meßbare Effekte haben. "Jede noch so geringe Strahlung schadet"; so liest man es auch oft in den Medien.
Daß diese Logik nicht unbedingt stimmen muß, liegt auf der Hand. Große Mengen Aspirin können Darmblutungen auslösen. 100 mg am Tag sind hingegen jedem zu empfehlen, der in der Gefahr einer Thrombose ist. "Alle Dinge sind Gift, und nichts ist ohne Gift. Allein die Dosis macht, daß ein Ding kein Gift ist", schrieb Paracelsus 1538 in seiner Dritten Defensio.
Die zweite Hypothese ist kürzlich im Bulletin of the Atomic Scientists in einer Sonderausgabe diskutiert worden: Daß geringe Dosen sogar schädlicher sein könnten, als man es erwarten würde, wenn man proportionale Wirkungen annimmt. Der Gasteditor der Ausgabe vom Mai/Juni, Jan Beyea, ist allerdings - wie zum Beispiel die New York Times vermerkte - ein Umweltwissenschaftler, der seit Jahrzehnten gegen die friedliche Nutzung der Kernenergie kämpft.
Beyea argumentiert unter anderem, daß es einen bystander effect geben könnte, eine "Wirkung auf die zufällig mit Anwesenden": Zellen, die geschädigt wurden, verändern benachbarte Zellen, die selbst keine Schädigung erfuhren. Auch das ist freilich nur eine Hypothese.
Die dritte Möglichkeit ist, daß es bei der radioaktiven Strahlung ist wie beim Aspirin: Hohe Dosen schaden; aber geringe können sogar nützlich sein.
Der Titel "Ein bißchen Strahlung ist gut für Mäuse ("A little radiation is good for mice") von Science News bezieht sich auf eine Untersuchung von Randy L. Jirtle und einem Team von Koautoren, die am 1. November online publiziert wurde und die demnächst im Journal of the Federation of American Societies for Experimental Biology erscheinen wird.
Die Forschung, die dort berichtet wird, bedient sich einer inzwischen in der experimentellen Biologie weitverbreiteten Methode. Man forscht am sogenannten Tiermodell; Tieren, die oft gezielt gezüchtet wurden, um bestimmte Forschungen zu erleichtern. Oft lassen sich die Ergebnisse auf den Menschen übertragen; aber das muß in jedem einzelnen Fall überprüft werden.
In der jetzigen Untersuchung (Herunterladen kostenpflichtig) wurde ein bestimmter Stamm von Labormäusen verwendet, die Gelbe Agouti-Maus, die dadurch gekennzeichnet ist, daß sie besonders empfindlich auf Belastungen während der Trächtigkeit reagiert.
Solche Belastungen führen zu einer epigenetischen Veränderung, die an die Nachkommen weitergegeben wird. Es gibt dafür - praktisch für die Forschung - ein äußeres Merkmal: Die sonst braunen Mäuse ändern ihre Fellfarbe in Richtung gelb.
Solche trächtigen Agouti-Mäuse nun wurden diversen geringen Belastungen durch ionisierende Strahlung ausgesetzt, indem ein winziger Computertomographie-Scanner in die Gebärmutter eingeführt und betätigt wurde. Eine Kontrollgruppe wurde identisch behandelt, ohne daß aber der Scanner eingeschaltet wurde. Eine zweite unabhängige Variable war die Ernährung: Ein Teil der Mäuse erhielt Vitamin C, ein anderer Teil Vitamin E, andere Gruppen weitere Substanzen.
Wie würde sich das auf die Nachkommen auswirken? Diejenigen Mäuse, die der ionisierenden Strahlung ausgesetzt waren, brachten in der statistischen Auswertung mehr gesunde (braune) Nachkommen zur Welt als die Kontrollgruppe ohne Bestrahlung. Aber durch die Gabe von Vitamin C oder Vitamin E (Antioxidantien) wurde dieser Effekt wieder aufgehoben.
Die Forscher hatten dieses Resultat nicht erwartet. Niemand würde gern hören, daß Radioaktivität gut ist und daß Vitaminpillen schlecht sind, sagte Jirtle gegenüber Science News.
Aber so ist Forschung nun einmal. Das Spannende sind die unerwarteten Ergebnisse. Die Hypothese jedenfalls, daß auch geringe Dosen von ionisierender Strahlung in jedem Fall schädlich sind, ist durch diese Untersuchung nicht bestätigt worden.
Zettel
© Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Titelvignette: Galileo Galilei, gemalt im Jahr 1605 von Domenico Robusti. Ausschnitt. Links zu allen Folgen dieser Serie finden Sie hier.