16. Mai 2008

Zitat des Tages: "Reichlich neoliberal". Über eine Begriffsverwirrung

Das abzuschaffen klingt aber reichlich neoliberal.

"Zeit"-Chefredakteur Giovanni die Lorenzo zu Helmut Schmidt in der aktuellen Folge des wöchentlichen Gesprächs "Auf eine Zigarette" im "Zeitmagazin Leben".

Diese Bemerkung machte di Lorenzo, weil Schmidt gesagt hatte:
Ich bin dagegen, daß der Staat private Verbände mit quasistaatlicher Macht ausstattet. Wenn Sie etwa einen Friseurladen aufmachen, werden Sie von Gesetzes wegen gezwungen, der Innung und der Handwerkskammer anzugehören - warum?

Kommentar: Mir kommt diese kleine Passage doppelt entlarvend für das sogenannte linksliberale Denken vor, für das di Lorenzo repräsentativ ist.

Erstens, was das Verständnis dessen angeht, was man "neoliberal" nennt.

Die Zwangsmitgliedschaft in Handwerkskammern ist bekanntlich ein Relikt aus dem Mittelalter; eine Fortsetzung des Zunftwesens, auf das Kaiserreich zurückgehend und von den Nazis verschärft.

Wenn Schmidts Vorschlag, diesen alten Zopf abzuschneiden, bereits "neoliberal" ist, dann war ja vielleicht auch die Einführung der Gewerbefreiheit mit den Stein- Hardenberg'schen Reformen von 1810 "neoliberal". (Damals war übrigens die Zwangsmitgliedschaft in den Zünften abgeschafft worden, die dann als Zwangsmitgliedschaft in den Handwerkskammern wieder auflebte).

Also, das abzuschaffen wäre aus der Sicht von die Lorenzo "neoliberal". Was wunderbar die Begriffsverschiebung illustriert, die gegenwärtig stattfindet:
  • Lupenrein linkes, etatistisches Denken, wie di Lorenzo es repräsentiert, wird "linksliberal" genannt, obwohl es mit Liberalismus ungefähr so viel zu tun hat wie Humus mit Humanismus.

  • Und wer liberale Auffassungen vertritt, die so "neo" sind, daß schon der Reichsfreiherr Friedrich Karl vom und zum Stein ihnen zur Geltung verholfen hat, der wird als "neoliberal" herabgesetzt.
  • Ja, herabgesetzt. Denn das ist der zweite Aspekt, den die Bemerkung von die Lorenzo illustriert: Die Verwendung des Begriffs "neoliberal".

    Givovanni di Lorenzo entgegnet Schmidt ja nicht: "Dann vertreten Sie in diesem Punkt also eine neoliberale Auffassung?", sondern er sagt: "Das abzuschaffen klingt aber reichlich neoliberal". So, wie man sagt: Das klingt aber reichlich abwegig.

    Etwas neoliberal zu nennen ist aus der Sicht von di Lorenzo offenbar etwas, das man jemandem vorhalten, das man als einen Einwand formulieren kann.

    Die Agitprop der Linken - mir scheint dieses Wort hier durchaus angemessen - hat es in der Tat verstanden, den Begriff "neoliberal", der ja nur für bestimmte wirtschaftspolitische Auffassungen steht und völlig wertneutral ist, zu einem herabsetzenden Wort zu machen.

    Das ist so gut gelungen, daß nach meiner Beobachtung viele, die sich als Neoliberale verstehen, es geradezu ängstlich vermeiden, sich selbst so zu nennen. So, als sei das etwas Unanständiges.

    Schmidt, souverän wie immer, hat sich auf eine Diskussion darüber nicht eingelassen. Seine Antwort ist Schmidt at his best - kurz, schneidend, den Punkt treffend, und auch ein wenig ironisch: "Ich finde, es klingt vernünftig".



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