19. Mai 2008

Marginalie: Jeder achte Deutsche ist klein

Sie finden, daß die Aussage "Jeder achte Deutsche ist klein" nicht sehr sinnvoll ist, weil es offenkundig eine Frage der Konvention, der Festlegung ist, wo man die Grenze zur Kleinheit zieht?

So ist es. Und genauso ist es auch mit der Armut. Die Aussage "Jeder achte Deutsche ist arm" ist nicht sinnvoller, freilich auch nicht weniger sinnvoll als "Jeder achte Deutsche ist klein".

Es gibt kein objektives Kriterium dafür wo "die Armutsgrenze liegt". Es gibt nur Festlegungen nach unterschiedlichen Kriterien, die unterschiedlich gut begründbar, aber letztlich eben Konventionen sind.

Manche dieser Konventionen sind sehr problematisch, wie zum Beispiel die heute am weitesten verbreitete, die vermutlich auch dem aktuellen Armutsbericht der Bundesregierung zugrundeliegt. Hiernach ist arm, wer weniger als 60 Prozent des Durchschnittseinkommens (des Medians der Einkommen) hat.



Es ist sofort zu sehen, daß man bei einer solchen Definition jemanden aus seiner Armut herausführen kann, indem man die Verteilung der Einkommen so verändert, daß das Durchnittseinkommen zurückgeht. Dann liegt logischerweise auch die Grenze von 60 Prozent dieses Durchschnittseinkommens bei einem niedrigeren Betrag, und wer zuvor unterhalb dieser Grenze lag, kann jetzt darüber sein. Dem Betreffenden freilich geht es dadurch keinen Deut besser.

Ebenso hängt das Durchschnittseinkommen davon ab, welche Population man zugrundelegt.

Jemand kann als Bayer arm sein (weil er weniger als 60 Prozent des bayerischen Durchschnittseinkommens hat), als Deutscher aber nicht (weil er, bezogen auf alle deutschen Länder, über der Grenze von 60 Prozent liegt).

Mit der Wiedervereinigung wurden - nach dieser Armutsdefinition - von einem Tag auf den anderen viele DDR-Bürger arm, die es zuvor nicht gewesen waren; denn ein Einkommen, das weit über 60 Prozent des DDR-Durchschnitts lag, war nun unterhalb der 60- Prozent- Grenze für die gesamte Bundesrepublik lokalisiert. Es ging ihnen zwar besser als in der DDR, aber sie waren gleichwohl zu Armen geworden.



Kurz, diese Definition - weniger als 60 Prozent des Durchschnittseinkommens - erfaßt nicht, wie gut oder schlecht es den Betreffenden geht, sondern sie drückt (als ein grobes Maß, es gibt differenziertere wie den Gini- Koeffizienten) aus, wie gleich oder ungleich die Einkommen in einer gegebenen Population verteilt sind.

In einer Gesellschaft, die - nach landläufigem Verständnis - so arm ist, daß kaum jemand das Existenzminimum hat, würde es nach dieser Definition praktisch keine Armut geben, wenn alle ungefähr gleich wenig verdienen.

Umgekehrt könnte es in einer Gesellschaft von Millionären durchaus einen hohen Anteil von Armen geben, wenn nur genügend dieser Millionäre zig Millionen haben und den Median damit auf, sagen wir, zehn Millionen hochtreiben. Dann ist jeder arm, dessen Einkommen nur zu einem Vermögen von, sagen wir, zwei oder drei Millionen reicht.

So ist es nach der Definition, die dem Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung offenbar zugrundeliegt.

Ausführliches zu diesen und anderen Absurditäten in der Serie über Armut, vor allem der Folge 4: Politisches und der Folge 5: Statistisches.



Mit Dank an Rayson. Für Kommentare zu diesem Artikel gibt es einen Thread in "Zettels kleinem Zimmer". Dort findet man auch eventuelle Aktualisierungen und Ergänzungen.